Trister Berlinwinter. Smog aus den Kachelöfen und den ostdeutschen Fabriken waberte dick durch die Straßen. Kindergärten blieben wegen Pseudokrupp geschlossen. Der Himmel über der ganzen Stadt bildete eine undurchdringlich graue, bestenfalls milchig weiße Decke. Nur selten drang die Sonne durch. Man konnte nicht weiter als bis zur nächsten Straßenecke sehen. Um uns auf den Winter vorzubereiten, hatten wir die Fenster mit Plastikfolie abgedichtet. Der Blick nach draußen war verschwommen wie aus einem Aquarium. Im Schlafzimmer froren die Matratzen am Boden fest. Die Tage waren nur ein kurzer Dämmer, bevor die Dunkelheit wiederkam. Wir redeten nur miteinander, wenn es unbedingt nötig war. Kein Kraut war gegen die Winterdepression gewachsen. Jedes Wochenende hockten wir jetzt bis in die frühen Morgenstunden in unserer »home bar«. Wenn es hell wurde, schoben wir die Holzplatten wieder vor das Fenster, und eine neue Nacht begann. Draußen war es richtig kalt, drinnen wärmte prächtig der Rotwein. Und es gab reichlich Rotwein an einem zugigen Januarabend 1982, als ich Soraya erzählte, dass es gar nicht so weit von Berlin, nämlich in der Tschechoslowakei, wunderbare Saxophone zu kaufen gebe. Aus zweiter Hand sollten sie geradezu billig sein, hatte ich von irgendjemandem gehört. Es war die Zeit des Saxophons. »Harlem Nocturne« von den Lounge Lizards war Kult. Das ging einem durch und durch. Obwohl ich mich selbst nicht für sonderlich musikalisch hielt, hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, Saxophon zu lernen. Und ein in Prag, dieser geheimnisvollen Stadt, gekauftes Saxophon kam mir wie ein großes Versprechen vor.
Mit meinem Werben um Sorayas Freundschaft war ich noch nicht viel weitergekommen. Einmal hatte sie mich auf den Kreuzberg mitgenommen, um Steinewerfen zu üben. Sie meinte, dass wir Frauen besser werden müssten und die Militanz nicht den Männern überlassen dürften. Ich hatte noch nie auf einer Demo einen Stein geworfen, aber weil mir an Soraya lag, ging ich mit. Es wurde ein Fiasko, und ich wunderte mich, dass sie sich genauso ungeschickt anstellte wie ich. Bei einem unserer seltenen Gespräche hatte ich Aristoteles’ »Freundschaft, das ist eine Seele in zwei Körpern« zitiert. Das hat sie wohl erschreckt, denn danach ging sie mir wochenlang aus dem Weg. Soraya hielt nichts von philosophischen Erörterungen. Die Seele war ihr fremd. Meinen Gedankenexperimenten und Spleens wollte sie nicht folgen. Was sie selbst so sehr beschwerte, die Gründe für ihre schrecklichen Kopfschmerzen, blieb im Verborgenen. Sie suchte weder Vertrauen noch Seelenfreundschaft. Doch weil sie neugierig war und gerne verreiste, sah ich meine Gelegenheit gekommen, sie nach Prag zu locken. Das Auto dafür stand bereit. Zu fünft hatten wir im Sommer einen gebrauchten silbrig grauen Mercedes-Diesel gekauft. An dem eleganten Gefährt aus den siebziger Jahren hatte uns vor allem die Symbolik gereizt. Als Hausbesetzer mit einem Kapitalistenauto umherzufahren war Subversion der angenehmen Art. Geld für Diesel war so gut wie nie vorhanden, und so stand der Mercedes meistens vor unserem Haus. Die Nachbarn gingen kopfschüttelnd daran vorbei. Häuser besetzen und Mercedes fahren. Schon diese Provokation hatte den Kauf gelohnt.
In jener Rotweinnacht in unserer »home bar« erzählte ich Soraya von den Mysterien Prags. Ich lockte sie mit einer Auszeit vom anstrengenden Besetzerleben. Überraschenderweise schien ihr das zu gefallen. Vor dem Schlafengehen küsste sie mich, was sie selten tat, und verkündete: »Wir fahren.« Einmal überzeugt, gab es für sie kein Zurück, und sie begann gleich richtig zu planen. Ganz anders als ich hatte Soraya großes praktisches Talent. Ohne sie wäre die Fahrt nach Prag mein Wunsch geblieben. Sie setzte die nötige Energie ein, fragte Thomas und Elena, ob sie mitfahren wollten, und organisierte die Reise so, dass unser knappes Geld reichen sollte.
Noch heute spüre ich die Beklemmung, die mich beschlich, als wir beide in der Winternacht vor unserer Abreise aufbrachen, den Diesel für unseren Mercedes zu klauen. Es gab da keine Diskussion — ich hatte zu folgen. Mit Schlauch und Kanister schlichen wir zu der nahe gelegenen Brücke, wo die LKWs neben den S-Bahngleisen geparkt waren. Soraya forsch vorweg und ich hinterher. Sie suchte einen passenden Tank, ich sollte auf Passanten und auf vorbeifahrende Autos achten. Mir schlotterten die Knie vor Angst. Soraya dagegen bekam das mit dem Ansaugen des Diesels prima hin, und als ich eine Stunde vor der Abfahrt im Morgengrauen auf meiner Matratze lag, war ich froh und glücklich.
Abschiede zählten für uns damals nicht viel. Ein kleines verschlafenes Häufchen versammelte sich am Morgen vor dem Haus. Rasch legten wir die Sitzverteilung fest: Thomas am Steuer, Elena auf dem Beifahrersitz. Soraya, die wieder einmal Kopfschmerzen hatte und müde war, würde sich mit mir die Rückbank teilen. Unausgesprochen dachten wir alle daran, dass wir vielleicht ein letztes Mal so zusammenstanden. Die Räumung war jederzeit möglich. Unser Zusammenleben war auf Abruf.