Vor dieser Reise war keiner von uns weiter östlich als Berlin unterwegs gewesen. Meine familiäre Verbindung in den Osten verschwieg ich den anderen. Keine Ahnung, warum. Wahrscheinlich wollte ich nicht als Revanchist dastehen. Ich behielt es also für mich, dass es für mich als Kind nichts Aufregenderes gegeben hatte, als wenn meine Großmutter die Geschichte ihrer Flucht aus Ostpreußen erzählte. Älter geworden, nervte mich ihr Gerede von der »verlorenen Heimat« zunehmend. Ich entschied mich, diesen Strang meiner Familiengeschichte zu kappen.
Soraya war nur kurz eingeschlafen, bald schon wieder aufgewacht und wollte ans Steuer. Mir war es recht, und ich räumte den Platz. Wir fuhren auf der Transitstrecke bis Dresden und weiter bis zur tschechischen Grenze bei Bad Schandau. Soraya musste sich auf die tief verschneiten Straßen konzentrieren. Luise unterhielt uns währenddessen mit Geschichten von Joseph Roth. Elena wollte Kafkas Grab besuchen, warum Soraya mitkam, war unklar, und ich hatte einfach nichts Besseres zu tun. Luise wollte unbedingt ihr Saxophon haben und glaubte sich, weil sie Joseph Roth gelesen hatte, bestens für diese Reise gen Osten gerüstet. Ich erinnere mich gut, dass ich auf dieser Fahrt in einen anderen Zustand zwischen den Zeiten und Ländern geriet. Roth erzählt von chassidischen Juden in langen Mänteln, die auf heruntergekommene österreichische Staatsdiener treffen, er schreibt von ungewissen Orten, wo verlorene Schicksale Gestalt annehmen, und vom mystischen Osten, aus dem auch er kam. Ich hatte gelesen, dass nach dem Untergang der k. u. k. Monarchie die Tschechoslowakei mit ihren zu Tschechien gehörenden Ländern Böhmen, Mähren und Schlesien gegründet worden war. Auf unserer Straßenkarte trumpften aber noch immer die in Klammern gesetzten deutschen Städtenamen auf. Da stand Litoměřice (Leitmeritz), Cheb (Eger), Most (Brüx), Ústí nad Labem (Aussig). Wir kümmerten uns nicht um die jahrhundertelangen Überlagerungen von deutschem, jüdischem, österreichischem und tschechischem Leben in dieser Region. Mit den Heimatvertriebenen, die die Ostpolitik als »Verzichtspolitik« denunzierten und andere Grenzen forderten, hatten wir nichts am Hut. Die Entdeutschung Böhmens und Mährens war für uns ein Ergebnis der Naziverbrechen und damit — wie der Bau der Mauer — okay.
Am Übergang DDR—ČSSR, schon weit entfernt vom eigenen Land und noch nicht im Ausland, nahm man unseren Mercedes auseinander und durchsuchte unser Gepäck lange und sorgfältig. Grenzwächter und Zöllner sind überall gleich. Sie haben Beutehände und tasten einen mit Blicken ab. Der Übertritt einer Grenze darf nichts Selbstverständliches sein.
Wir kamen erst spätabends in der Stadt an. Obwohl es nicht viele Fremde ins sozialistische und winterliche Prag zog, hatten wir große Schwierigkeiten, ein Hotel zu finden. An der Rezeption wurden wir abweisend gemustert, wenn wir nach zwei preiswerten Zimmern fragten. Erst später erfuhren wir nebenbei, dass wir uns nicht deutlich genug als Westdeutsche zu erkennen gegeben hatten, dann wäre alles leichter gewesen. Endlich fanden wir mitten in der Stadt eine Pension, die war gemauert wie ein Turm. Schon am ersten Tag wollte ich am liebsten wieder zurückfahren, denn ich wusste plötzlich überhaupt nicht mehr, was ich hier sollte. Prag, heißt es, gehöre zu den ewigen Städten, denen der Wechsel der Zeiten nichts anhaben kann. Ihr Geist bleibe davon unberührt. Und so war es auch. Prag war geheimnisvoll, imposant und gewöhnlich zugleich. Unter dem bröckelnden Putz des Sozialismus sah man die alte Kultur Mitteleuropas durchscheinen. Soraya jedoch meinte, dass Prag wie Recklinghausen sei, Elena fragte: »Wo ist Prag denn golden?«, mir war langweilig, und nur Luise war zufrieden, endlich in Prag zu sein.
Ich weiß noch, wie wir mittags fröstelnd vor dem Alten Rathaus standen und zusammen mit nur wenigen versprengten Fremden darauf warteten, bis sich um zwölf die astronomische Uhr mit ihren Figuren in Gang setzte. Zu Klingeltönen drehten sich die Propheten aus dem Alten Testament im Halbkreis und betteten das göttliche Gesetz in den Kosmos. Am Ende gemahnte der Tod als Gerippe, dass alles vergänglich sei, und sein Knochenarm schlug die zwölf Stunden, die nach den lauten Klängen zuvor sehr dünn über den Platz hinweghallten. Während wir wie bildungsbeflissene Touristen über die Moldau hinauf zum Hradschin und zum Kafka-Haus spazierten, hastete Luise durch die Straßen der barocken Altstadt auf der Suche nach einem Saxophon, das sie dem fernen New York näherbringen würde. Am zweiten Tag begleitete ich sie. Im Fenster eines kleinen Ladens entdeckte sie genau das Alto, das sie suchte. Inklusive Koffer kostete es knapp fünfzig Mark des schwarz getauschten Geldes. Das Saxophon war völlig verstimmt, was sie in ihrer Aufregung gar nicht bemerkte. Sie hatte schon Probleme, überhaupt einen Ton zu blasen, doch das tat ihrer Begeisterung keinen Abbruch. Mit dem Ladenbesitzer wurde sie schnell handelseinig. Als Luise am Abend in der Pension das Saxophon wie eine Kostbarkeit vorführte, schien sie sehr glücklich zu sein.
Am dritten Tag machten wir uns zusammen auf zum Alten Jüdischen Friedhof. Der Weg zwischen den verwitterten Grabsteinen war unglaublich schmal. Auf der engen, zu einem flachen Hügel gedrängten Fläche stauten sich Grabsteine aus allen Zeiten ungeordnet dicht an dicht. Manche ragten hell und aufrecht über halb gekippten, halb vergrabenen, zerbröckelnden oder bemoost zerfallenen Steinen. Man entfernt keinen der Grabsteine, auch wenn die Gräber über Jahrhunderte hinweg immer wieder neu belegt werden. Die Vorstellung von den vielen Toten, die hier lagen, war beklemmend, und wir setzten die Füße ganz vorsichtig auf beim Gehen auf den unbefestigten Pfaden. Wir suchten das Grab von Rabbi Löw, der angeblich aus dem Lehm der Moldau den Golem geschaffen hatte. Dieser künstliche Mensch sollte mit seinen ungeheuren Kräften die Juden vor den Anfeindungen der Prager Bürger schützen. Uns war das alles bestens bekannt, denn »Der Golem« von Gustav Meyrink ließ Robert in Berlins Kneipen als Raubdruck verkaufen. Wir fanden schließlich das Grabmal des großen Wunderrabbi mit dem gemeißelten Zeichen des Löwen im Giebel der Gruft. Wir wussten, dass Hilfesuchende kleine Zettel mit ihren Bitten durch die Ritzen der Steinwände ins Grabesinnere fallen lassen. Als wir hinkamen, lagen auf dem schmalen Sims so viele kleine Steine angehäuft, dass wir unsere vorbereiteten Bittzettel in der Manteltasche zerknüllten und in der Pension in den Papierkorb warfen.
Die Abende verbrachten wir in verschiedenen Kneipen der Stadt, wo wir zwischen Arbeitern auf dem Heimweg das schwarze tschechische Bier tranken. Wir kamen durch dunkle, mit wenig gelblichem Licht beleuchtete Straßen in abgelegene Wirtschaften, in denen die Kellner weiße Kellnerjacken trugen. Die Männer am voll besetzten Tresen waren neugierig. Mit unseren zerrissenen Hosen, schwarzen Lederjacken, bunt abstehenden Haaren und abgeschabten Mänteln sahen wir nicht wie die üblichen Touristen aus. Wenn sie herausfanden, dass wir nicht aus der DDR kamen, wurden sie mit einem Mal freundlich. Sie wollten tschechische Kronen in harte D-Mark tauschen. Wir einigten uns auf günstige Schwarzmarktpreise, schnell in dunklen Ecken, und glaubten, ein gutes Geschäft gemacht zu haben.
Unser Abreisetag war auf den Samstag festgelegt. Es war der erste Jahrestag der Besetzung unseres Hauses in Berlin und der Geburtstag von Wolle. Eine große Party sollte steigen. Luise fürchtete die Schwierigkeiten, die wir schon bei der Einreise an der Grenze gehabt hatten. Mit schwarzen Fettstiften malte sie das Saxophon trüber, als es schon war. Sie verstaute ihre Trophäe in der hintersten Ecke des Wagens und hoffte, sie heil nach Hause in den Westen zu bringen.