Wir hatten Prag morgens verlassen und waren unterwegs in Richtung der nördlichen Landesgrenze. Die Fahrt ging auf schmalen Straßen durch flaches Land, entlang an Feldern und durch kleine Orte. Die Straße war nass, die Sicht gut. Wir waren vergnügt, freuten uns auf die Party und auf Berlin. Je näher wir der Grenze kamen, desto lebhafter wurde der Verkehr. Eine Nebenstraße kreuzte die E 55, die von Prag über Zinnwald nach Dresden führt. Auf dieser Straße bremste ein voll besetzter Überlandbus und wartete vor dem Einbiegen in Richtung Prag, von wo wir kamen. Gegenüber auf der Landstraße hielt, von Norden kommend, ein russisches Militärfahrzeug, ein 35-Tonnen-Raketentransporter, kurz vor dem Abbiegen in die Straße, auf der der Bus stehen geblieben war. In diesem Moment kamen wir an der Kreuzung an.
Es war Januar 1982, und im Norden der Tschechoslowakei fand ein Manöver der von den Tschechen so verhassten Sowjetmacht statt. Es hieß »Druzba 82« — Freundschaft 82.
In Bruchteilen von Sekunden hatte ich es kommen sehen. Soraya schrie auf, versuchte nach rechts auszuweichen. Es krachte furchtbar. Ich hatte keinen Sicherheitsgurt auf meiner Seite. Hilflos bedeckte ich meinen Kopf mit den Armen, dann knallte ich gegen die Frontscheibe. Ganz kurz muss ich bewusstlos gewesen sein, und als ich wieder zu mir kam, sah ich als Erstes Soraya. Ich wusste sofort, dass sie tot war. Sie hatte einen Sicherheitsgurt, aber keine Kopfstütze. Sie saß da mit offenen Augen, den Kopf zurückgeworfen, den Nacken gebrochen. Plötzlich fühlte ich einen eiskalten Wind. Die Windschutzscheibe war herausgebrochen. Als ich versuchte, aus dem Auto zu klettern, waren sofort Reisende aus dem Bus da. Sie öffneten die rechte Vordertür, und mühsam gelang es mir auszusteigen. Elena stand kreidebleich am Rand der Straße. Sie wirkte wie in Trance, murmelte die immer gleichen italienischen Sätze vor sich hin. Einer der Businsassen zog Luise sehr vorsichtig und behutsam aus dem Auto und legte sie an den Straßenrand. Luise lag da wie im Schlaf, aus ihrem Mund kam Blut. Sie lächelte.
Aufgeregt umringten uns immer mehr Leute aus dem Bus. Auf Deutsch riefen sie uns zu, dass sie alles gesehen hätten. Sie könnten bezeugen, die Russen seien schuld. Freundlich und bestimmt drückten sie mir kleine Zettel mit ihren Adressen in die Hand. Die sowjetischen Soldaten beobachteten die Szene, standen wie erstarrt an der Seite. Einem unbeteiligten Beobachter hätte es vorkommen können, als ob sie nichts mit dem Unfall zu tun hätten. Sie hatten rührend junge Gesichter. Waren wahrscheinlich genauso alt wie wir.
Wir müssen kurz nach dreizehn Uhr an der Kreuzung angekommen sein. Soraya hatte Vorfahrt gehabt. Der Raketentransporter rollte los und bog auf die Gegenfahrbahn ein. Soraya bremste nicht ab. Der 35-Tonner ließ sich nicht mehr anhalten. Er traf den Benz mit seiner hohen Stoßstange auf der linken Seite in Höhe des Fahrersitzes und spießte ihn auf. Luise saß auf dem linken hinteren Sitz, direkt vor ihr am Steuer Soraya. Der Militärtransporter zerquetschte die linke Vorderseite unseres Wagens und drückte sie nach unten. Seine Stoßstange ragte hoch über unseren Kühler. Ich erinnere mich, dass der Motor des Benz die ganze Zeit vor sich hin brummte. Ganz deutlich erinnere ich mich an dieses Geräusch. Unsere Helfer versuchten die Maschine zu stoppen, wussten aber nicht, dass sie einen Knopf hätten drücken müssen, statt den Schlüssel zu drehen. Der Motor lief im vierten Gang bei Vollgas. Und Soraya saß tot am Steuer.
Dann kam Militärpolizei, aber noch immer warteten wir auf die Ambulanz. Privatautos stoppten an der Unfallstelle. Die Tschechen boten ihre Hilfe an. Die Sowjets schauten noch immer zu. Ich protestierte, wollte bei Luise, Elena und Soraya bleiben, aber man verfrachtete mich in einen Kombiwagen. Ziel war, wie sich später herausstellte, das russische Militärhospital. Da war kaum einer am Samstag um die Mittagszeit. Meine Wunden an der Stirn wurden von einem mürrischen Arzt ohne Aufhebens und Betäubung geflickt, das Entfernen der Glassplitter überließ er den deutschen Kollegen. Der Militärarzt befand, ich sei in stabiler Verfassung und vernehmungsfähig. Daraufhin wurde ich in einen kleinen, kalten Raum gebracht. Darin stand ein großer Schreibtisch, hinter dem ein Porträt Leonid Breschnews hing. Ich weiß noch, wie sehr ich mich über das Foto wunderte, denn Breschnew sah darauf aus wie Alain Delon. Hinter dem Schreibtisch saß ein großgewachsener Offizier von seltsam blasser Gesichtsfarbe. Links und rechts neben ihm standen zwei Soldaten. Einer war der Protokollant, der andere stellte sich als Dolmetscher vor. Sein Deutsch war fehlerfrei und ohne Akzent. Die aufrechte, stramme Körperhaltung der beiden wirkte völlig absurd auf mich. Neben diesen Männern in ihren knisternden Uniformen kam ich mir in meinen zerrissenen, fleckigen Kleidern wie ein Fremdkörper vor. Der Dolmetscher bat mich, vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Um mein Zittern abzustellen, schob ich beide Hände unter die Oberschenkel. Es folgte ein Verhör. Auf meine Situation wurde keine Rücksicht genommen. Fragen zum Verbleib von Luise und Soraya blieben unbeantwortet. Mit leblosen Pupillen und hochgezogenen Augenbrauen betrachtete mich der Offizier eingehend, bevor er anfing zu reden. Sein Russisch hörte sich weich und melodisch an. Die Töne, die er produzierte, standen in krassem Gegensatz zu seinem abweisenden Gesichtsausdruck. Nachdem er geendet hatte, trat der Dolmetscher neben mich. Er hatte ein rotes Gesicht, flache Augen, und ich spürte sofort seine geheuchelte Offenheit. Seinen Fragen zuvorkommend, verlangte ich, die bundesdeutsche Botschaft anrufen zu dürfen. Ohne sich an den Offizier zu wenden, antwortete er kühl, dass dies leider nicht möglich sei. Dann begann er mit Fragen wie: wie viel Soraya am Abend zuvor getrunken habe, ob sie regelmäßig Tabletten nahm, wie lange sie die Nacht zuvor geschlafen habe, ob wir uns im Auto gestritten hätten und ob sie abgelenkt worden sei. Wenn ich ausweichend antwortete oder keine Antwort wusste, fing er ungerührt wieder von vorne mit seinem Fragenkatalog an. Allmählich begann ich zu begreifen, dass sie mich als Feind betrachteten. Ich war ihrer Verhörtechnik und ihrem perfekten Zusammenspiel nicht gewachsen. Panik stieg in mir auf. Ich wünschte, ich hätte nicht nur Deleuze, sondern auch John Le Carré gelesen. Dann wüsste ich vielleicht, wie man sich in solch einer Kalten-Kriegs-Situation verhält.
Da wurde die Tür geöffnet, und ich sah, wie ein sehr junger Soldat in Handschellen abgeführt wurde. »Das ist der Fahrer«, hörte ich den Dolmetscher zu mir sagen. Diese Vorführung schien wie für mich inszeniert. Sofort beschlich mich die Angst, dies könnte eine subtile Drohung sein. Tibor fiel mir ein, der zu stottern angefangen hatte, wenn er über die sowjetischen Militärs sprach. Sie könnten ja auch mich in Handschellen legen und ins Gefängnis stecken, dachte ich. Alles war so schnell gegangen. Ich war so verwirrt, dass ich vergessen hatte zu fragen, wo ich eigentlich war. Als mir der Dolmetscher mit einem spöttischen Unterton in der Stimme »Theresienstadt« antwortete, war das wie ein Schuss kalten Wassers ins Gesicht. Ich war in einem KZ gelandet, das jetzt die Sowjets als Militärlager benutzten. Wie konnte ich nur in solch eine Situation geraten? Wir wollten doch nur ein Saxophon kaufen.
Irgendwann, als es schon dunkel war, ließen sie von mir ab. Ich musste das Protokoll unterschreiben und zusätzlich eine Erklärung, dass ich gut behandelt worden war. Mechanisch folgte ich ihren Anweisungen. Durch endlose Gänge wurde ich in ein Wohnheim gebracht. In der Nacht gab es ein Gewitter. Ein Wintergewitter. Immer wenn ich die Augen zumachte, donnerte es. Ich aber hörte in der Endlosschleife, wie der Raketentransporter auf unseren Benz krachte.
Elena war von mir getrennt worden. Sie war halb ohnmächtig vor Angst. Sie habe so getan, als verstehe sie nur wenig Deutsch. Sie trug die ganze Zeit den blutgetränkten Pullover Luises mit sich herum. Sie wollte ihn unbedingt auswaschen. Bestand auf ihrer fixen Idee, dass es Luise kalt sei und sie ihren Pullover bräuchte. Elena heulte und schrie, sie wollte unbedingt Luise sehen. Man stellte sie ruhig und setzte sie in einen Rollstuhl. Am nächsten Tag, einem Sonntag, schoben die Soldaten Elena in einen Raum, der sah aus wie ein schwarz gekacheltes Badezimmer. Da habe Luise gelegen. Allein. Das berichtete mir Elena alles später. Auch, dass sie die Freundin kaum erkannt hätte. Luise sah ganz friedlich aus, lächelte und nickte mit ihrem seltsam veränderten Gesicht. Was hatte man ihr nur angetan?
Elena wurde von einem geschniegelten Uniformierten abgeholt. Er sollte sie nach Prag fahren. Fragen nach mir blieben unbeantwortet. Während der Fahrt dorthin hätten sie kein Wort gesprochen. Sie spürte, dass er dachte, wir seien schuld an dem Unfall. In Prag angekommen, habe der Soldat umständlich die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland gesucht. Schließlich habe er gestoppt und sie angeherrscht, sie solle jetzt aussteigen und alles mitnehmen. Sie habe sich gefragt, warum er sie nicht zur italienischen Botschaft gefahren hatte, doch sie tat, was er sie geheißen. Der Uniformierte stieg auch aus und drückte ihr eine prall gefüllte Wolldecke in den Arm. Darin waren die Überreste des Benz eingewickelt: der Verbandskasten, der Innenspiegel und das Lenkrad. Mit diesem Zeug habe sie sich zur Botschaft geschleppt, habe wie im Mittelalter mit einem dicken Eisenring an einem Holztor angeklopft und um Einlass und Schutz gebeten.