Wenn ich beim Abklingen der Droge anfing, unruhig zu werden, sprach der alte Arzt zu mir auf Deutsch. Er sagte mir, wo ich war und dass ich keine Angst haben müsse. Also hatte ich keine Angst.
Die Ärzte hatten mir einen Luftröhrenschnitt gesetzt und mich an die Beatmungsmaschine angeschlossen. Alle acht Stunden verabreichten sie mir Valium, genug, um meine eigene Atmung zu stoppen. Zehn Tage lag ich im künstlichen Koma. Zehn Tage meines Lebens, die mir fehlen.
Man entzog mir schließlich die reguläre Dosis Valium, ersetzte die Beatmungsmaschine durch einen gleichmäßigen sanften Luftstrom und ließ mich aufwachen. Mit all den Drogen im geschwollenen Gehirn fing ich an zu halluzinieren. Ich hatte keine Angst, aber ich fühlte mich isoliert und in feindseliger Umgebung. Keine der Krankenschwestern sprach Deutsch. Ihre Gespräche konnte ich nicht verstehen. Ich war äußerst misstrauisch ihnen gegenüber. Jedes Mal wenn ich die Augen öffnete, befand ich mich auf einem anderen Stockwerk. Dritte, vierte, zweite, dritte Etage. So ging das, auf und ab, hoch und runter, durch das ganze Haus, ohne dass ich wusste, weshalb und wohin sie mich transportierten. Aber jedes Mal hatten sie die Bücherkiste auf der anderen Etage gelassen! Dieser Bücherkiste von der Größe einer Weinkiste galt meine ganze Sorge. Sie war aus Holz und bis zum Rand mit Büchern gefüllt. Ich erinnere mich an keinen einzigen Titel, aber es waren meine Bücher, und sie waren irgendwo in diesem Krankenhaus. Man hielt sie mit Absicht vor mir verborgen, da war ich mir sicher. Wahrscheinlich steckten die mysteriösen Schwestern dahinter. Tage vergingen, von denen ich nicht weiß, wie viele es waren. Ich kannte bereits die Namen der Ärzte und Schwestern und lebte noch immer tief in meinen Phantasien.
Eines Morgens riss ich mir die Kanülen aus der Brust und streckte sie triumphierend über meinen Kopf. Ich hielt sie hoch unter die Lampen. Was vermutlich ein dünner blutiger Schlauch war, sah ich als blaue Schlinge von Eingeweiden, die im matten Licht weich schimmerten. Aufgeregt kamen die Schwestern herbeigelaufen. Ein Arzt musste die Wunde in meiner Brust vernähen und einen neuen Zugang zu meinen Venen finden. Er setzte sich auf die Bettkante, ich spürte sein Gewicht neben mir. Dann beugte er sich über mich. Ganz nah sah ich seine Augen und fühlte die warme Berührung seiner Hände unter meiner rechten Achsel, wo die neue Kanüle gelegt werden sollte. Er begann mit Nadeln zu arbeiten, aber was ich in der ausgestreckten Höhle unter meinem Arm bis zum Ellbogen sah, das waren Segelschiffe. Prächtige Viermaster, wenige Zentimeter groß, perfekt gebaut und mit vollen Segeln in der warmen Nachmittagssonne. Mit prall im Wind geblähten Segeln zogen sie majestätisch über meine blasse Haut dahin. Ich war begeistert.
Nach diesem Zwischenfall banden die Schwestern meine Hand am Bettgestell fest. Mein Bewusstsein schwamm weiter in langen Wellen ein und aus. Manchmal war ich bei Sinnen. Dann erkannte ich das verglaste Büro wieder, auf das ich von meinem Bett aus blickte. Von einer etwas erhöhten Position aus überwachte man von dort die gesamte Station. Auch wenn ich 24 Stunden in künstlichem Licht lag, konnte ich doch irgendwann Morgen und Abend auseinanderhalten. Ich begriff, dass meine Mutter mich einmal am Tag sehen durfte. Das war, wenn meine Hand losgebunden und mein Bett über den Gang in ein winzig kleines Zimmer geschoben wurde. Da saß dann meine Mutter und sprach zu mir. Der Schlauch in meinem Hals erlaubte es nicht, ihr zu antworten, aber das störte mich nicht. Ich hörte meine Mutter sprechen, verstand aber nicht, was sie sagte. Oft wurde ich ungeduldig, wenn ihre Stimme da war, denn was sie sagte, ergab für mich keinen Sinn.
Meine Halluzinationen endeten plötzlich ganz früh an einem Morgen, der mit üblicher Routine begann. Trüber Schein in der Ferne ließ mich den Tag schon ahnen, da entdeckte ich die Putzfrau. Wahrscheinlich hatte sie die Tür zum hellerleuchteten Flur aufgemacht und wischte den Boden vor dem verglasten Büro. An jenem Tag beobachtete ich zum ersten Mal ihre langsamen, regelmäßigen Bewegungen mit dem Mob. Im schrägen Schein der Neonröhren glänzte der Flur nass, und ich sah, wie sie mit Licht wischte.
Die Frau war kräftig, mager und nicht mehr jung. Als sie meine Augen auf sich gerichtet spürte, unterbrach sie ihre Arbeit, lehnte den Mob an die Wand und kam zu mir. Sie nahm meine festgebundene Hand und sah mich an.
»Ahoj, Luise«, sagte sie.
Ich sehe eine rätselhafte Gestalt, die langsam aus dem Nebel auftaucht und mich anspricht. Eine Membran zerplatzt.
Das Delirium hört auf.