Als Luises Vater aus dem Auto stieg, erschrak ich ob der Ähnlichkeit mit seiner Tochter. Diese beschränkte sich nicht auf Äußerliches, sondern schloss auch eine gewisse Gestimmtheit dem Leben gegenüber ein, die sich mir in seiner Körperhaltung, seiner Mimik und in seinen Augen zeigte. Eine freundliche Entrücktheit. Tochter und Vater hielten sich die Welt auf Distanz. Ich muss ihn angestarrt haben, bemerkte erst spät seine hinter ihm stehende Frau mit ihren beiden anderen Kindern. Wir hielten uns nicht lange mit der Begrüßung auf. Nur mithilfe des Chefarzts Dr. Kolo, der als Parteimitglied über einen gewissen Einfluss verfügte, war es gelungen, Hotelzimmer zu bekommen. Wir wohnten alle im Hotel Bohemia, das Westgäste aufnahm. Ich weiß noch, wie ich mich wunderte, dass Luises Familie so gut wie kein Gepäck dabeihatte. Wie Menschen, denen keine Zeit geblieben war, ihre Sachen zu packen, standen sie als gutgekleidete Flüchtlinge aus dem Westen in der Hotelhalle. Die Damen an der Rezeption sprachen Deutsch und hießen sie willkommen.
Luise war auf die Intensivstation des Kreiskrankenhauses in Ústí nad Labem, einer Industriestadt in Nordböhmen, gebracht worden. Es gab überhaupt nur zwei Intensivstationen in der Tschechoslowakei, eine in Prag und eine hier, nahe der deutschen Grenze.
Tobias, Luises jüngerer Bruder, hat mir später an langen Nachmittagen, die wir zusammen in der Hotelhalle oder auf dem Zimmer verbrachten, erzählt, wie er in der Nacht des Unfalls um zwei Uhr vom Klingeln des Telefons wach geworden war. Der nächtliche Anrufer, der mit einer ruhigen, doch untergründig nervösen Stimme sprach, entschuldigte sich für die späte Störung, bestand jedoch darauf, Frieder Pohl persönlich sprechen zu müssen. Tobias tappte durch die dunkle Wohnung und weckte seinen Vater. Ein Anruf aus Berlin. Nein, nicht Luise war am Telefon, sondern irgendjemand, dessen Namen er nicht verstanden hatte. So erfuhr Frieder Pohl, schlaftrunken am Telefon stehend, von einer ihm unbekannten Person, dass seine Tochter Luise in der Tschechoslowakei verunglückt war. Wie kommt sie denn in die Tschechoslowakei; und warum ist sie nicht in Berlin, habe er sich verwundert gefragt. Von einem Autounfall und Rippenbrüchen war die Rede. Frieder Pohl ist Mediziner. Bevor er seine Frau, die sich auf einer Busreise befand, verständigte und beunruhigte, wollte er mehr wissen. Am anderen Morgen meldete sich die deutsche Botschaft, die den Unfall bestätigte und ihm versicherte, seine Tochter und ihre Freunde würde keine Schuld treffen. Mehr wüssten sie auch nicht. Auch nicht, wie es Luise ging. Frieder Pohl habe keinen der Freunde gekannt, mit denen Luise unterwegs war, und im besetzten Haus, in dem sie wohnte, gab es keinen Telefonanschluss.
Es stellte sich als schwierig heraus, mit den tschechischen Ärzten Kontakt aufzunehmen. Die Telefonverbindung war denkbar schlecht, und wie sich verständigen, wenn man selbst kein Tschechisch und die anderen weder Deutsch noch Englisch sprachen. Am Nachmittag ein Anruf aus Ústí. Es sei Frieder Pohl gelungen, mittels lateinischer Fachausdrücke, die er mit seinem tschechischen Kollegen tauschte, zu erfahren, dass Luises Zustand sich rapide verschlechtert hatte. Intubation. Intensivstation. Drei Stunden später habe er seine Frau von ihrer Busreise abgeholt. Erst als sie zu Hause waren und die Tür hinter ihnen zugefallen war, habe er ihr gesagt, dass Luise verunglückt sei. Elisabeth Pohl habe ich als eine Frau kennengelernt, die auch in schwierigen Situationen versucht, die Ruhe zu bewahren. Bevor sie nicht von den Tatsachen überzeugt worden war, blieb sie skeptisch gegenüber dem, was Schicksal heißt. Sie überlegte, wer ihnen helfen könnte, und da fiel ihr Vilem, ein Medizinerfreund aus Bratislava, ein. Elisabeth Pohl habe ganz nah neben ihrem Mann auf dem Sofa gesessen, um zu hören, was der slowakische Freund über Luise hatte herausfinden können. Als sie ihn habe sagen hören, »So ein junges Mädchen. So schade«, habe sich alles um sie herum gedreht und sie habe sich ins Bett legen müssen. Das ganze Haus habe mit ihr gebebt.
Am nächsten Tag nahm Frieder Pohl den Zug nach Köln, um die Visa zu besorgen. Der Einzige aus der Familie, der sich dazu in der Lage fühlte, das Auto zu fahren, sei er, Tobias, gewesen. Er hatte erst vor wenigen Wochen seinen Führerschein gemacht. Sie waren zu viert im Auto und reisten über den tief verschneiten Bayerischen Wald in die Tschechoslowakei ein. An der Grenzstation gab es keine Komplikationen. Mit bangen Herzen seien sie in Ústí angekommen, wo sie bereits von mir erwartet wurden.
Am frühen Abend war es ihnen erlaubt, ihre Tochter und Schwester zu sehen. Ich begleitete sie ins Krankenhaus, durfte jedoch nicht mitkommen und wartete mit Tobias und Pauline draußen. Dr. Franz Lípa, der Chefarzt der Abteilung für Anästhesie und Wiederbelebung, hatte uns mit ernstem Gesicht empfangen. Elisabeth Pohl war so aufgeregt, dass sie sich beim Anziehen des Besucherkittels verhedderte und ihr von Dr. Lípa geholfen werden musste. Durch die Scheibe konnten wir die Szene beobachten. Frieder Pohl stand etwas entfernt von Luises Bett und sprach intensiv mit Dr. Lípa. Frieder Pohl war so konzentriert auf das Gespräch, dass er sich erst auf dem Weg zurück ins Hotel fragte, warum man ihn bei seinen Anrufen eigentlich nicht mit Dr. Lípa, der sehr gut Deutsch sprach, verbunden hatte. Elisabeth Pohl setzte sich sofort an Luises Seite und nahm ihre Hand. Mit einem Mal schien die Nervosität von ihr abgefallen zu sein. Sie strahlte mit einem gottergeben seligen Lächeln voller Ruhe und voller Glück. Ihre Tochter lebte. Schließlich durften auch Tobias und Pauline zu ihrer Schwester. Der Vater, die Mutter, der Bruder und die Schwester, achtzehn und fünfzehn Jahre alt, standen in ihren unförmigen Krankenhauskitteln und mit Hauben auf dem Kopf um Luises Bett herum. Sie lag da, ganz still. Und auch sie sprachen kein Wort. Ein mittelalterliches Bild der Anbetung. Ich hielt den Anblick nicht aus. Ohne mich zu verabschieden, floh ich aus dem Krankenhaus.
Um keine Keime einzuschleppen, denn davon war Luise am meisten bedroht, begnügten sie sich in den nächsten Tagen mit Anrufen. Wir rückten näher zusammen. Es war kein einfaches Unternehmen, Essen einzukaufen, und wir wechselten uns bei der Suche nach Brot, Käse und Wurst ab. Vor den Geschäften bildeten sich lange Warteschlangen. Das Angebot war spärlich. Es wurde uns zur Gewohnheit, das Erbeutete abends zusammen auf dem Zimmer von Elisabeth und Frieder zu teilen. Obwohl wir uns zuvor nicht gekannt hatten und Luises Eltern nicht viel vom Leben ihrer Tochter im besetzten Haus in Berlin zu wissen schienen, gehörte ich wie selbstverständlich dazu. Vielleicht dachten sie, ich sei Luises Liebhaber. Sie fragten jedoch nicht nach. Wir blieben beim »Sie«, gingen höflich und distanziert miteinander um. Wir bildeten eine Art Schicksalsgemeinschaft, was wir natürlich nie aussprachen. Auf einem Flur, so lang und gerade wie die Berliner Friedrichstraße, lagen unsere Zimmer direkt nebeneinander. Das Gebäude war hellhörig, und häufig hörte ich Luises Mutter nebenan weinen. Wenn der Unfall nicht gewesen wäre und Soraya, Luise, Elena und ich im Hotel Bohemia gestrandet wären, dann hätte das ein großer Spaß sein können. Daran musste ich oft denken, und dann malte ich mir aus, welches Aufsehen wir erregt hätten, wenn wir uns an der Bar des »NIGHT CLUB BOHEMIA« ausgiebig dem Wodka hingegeben hätten. Ich hatte nur einmal einen Blick in diese Bar geworfen und den Gedanken, dort etwas zu trinken, sofort wieder verworfen. Es waren vor allem schleimige Spesenritter aus dem Westen, die sich nach einigen Bieren mit den aufgehübschten Prostituierten in trüber Gier unter das Schwarzlicht auf der Tanzfläche wagten. Die Architekten und Innenausstatter hatten sich alle Mühe gegeben, das Hotel mit ideologischem Optimismus auszustatten. Herausgekommen war dabei eine Art Sputnikmoderne, die von den Zeiten kündete, als der Kommunismus noch ein großes Versprechen gewesen war. Tempi passati. Von der menschheitsbeglückenden Utopie war nur diese Attrappe übrig geblieben. Die Atmosphäre historischer Niedergeschlagenheit versetzte mich in einen Zustand der Apathie.
Außer mit den Frauen an der Hotelrezeption und mit Dr. Kolo, dem es auch zu verdanken war, dass unsere Visa verlängert wurden, hatten wir nur wenig Kontakt. Mit den Rezeptionistinnen, die Deutsch sprachen, freundeten wir uns an. Von ihnen erfuhren wir, dass Luise zu einer gewissen Berühmtheit gelangt war. Luise galt als Opfer der Sowjets, und angeblich bangte ganz Ústí mit uns um ihr Leben. Bei der schüchternen Telefonistin mit ihrer Achtzehn-Dioptrien-Brille waren wir uns ziemlich sicher, dass sie heimlich unsere Telefongespräche mithörte und mitlitt. Gelegentlich flüsterte sie einer der Rezeptionistinnen etwas zu, was diese dann an uns weitergab. Der Hoteldirektor sah das gar nicht gerne, wenn wir zusammenstanden, aber keine seiner Angestellten scherte sich darum.
Es waren lähmende, trübe Wintertage. Für uns gab es nichts zu tun, als zu warten, also sind wir merkwürdigerweise fast nur spazieren gegangen. Schließlich kannten wir jeden Hügel der Gegend und jeden Stein am Ufer entlang der Elbe, wo wir die Enten fütterten, um überhaupt irgendetwas zu machen. Als hätten wir ein dringendes Programm zu erfüllen, wanderten wir jeden Tag los. Die Stadt war niederdrückend, und der Smog aus den Kohlekraftwerken der Gegend verbreitete einen dicken, schwefeligen Geruch. Was uns außer diesen sinnlosen Wanderungen durch eine trostlose Welt half, diese Zeit durchzustehen, waren die Tagebuchaufzeichnungen, die Frieder Pohl gewissenhaft jeden Abend anfertigte. Wir verhielten uns ganz still, während er schrieb. Taten, als ob wir lesen würden, und hörten doch nur dem Kratzen seines Füllers zu. In seiner kleinen, regelmäßigen Handschrift notierte Frieder Pohl den Verlauf eines jeden Tages auf den dünnblättrigen Seiten seines Tagebuchs. Auf einem unserer Spaziergänge erzählte er mir, dass er in den fünfziger Jahren, bevor er in die Krebsforschung wechselte, als junger Krankenhausarzt auf einer Station mit Patienten gearbeitet habe, die noch vor Erfindung der Schluckimpfung an Kinderlähmung erkrankt waren. Dabei sammelte er Erfahrung mit Luftröhrenschnitten, mit Eisernen Lungen und Beatmungstechnik, und so wusste er sehr genau, worum es bei Luise ging.
Ins Krankenhaus gingen nur noch Elisabeth und Frieder Pohl. Ich blieb mit Tobias und Pauline im Hotel zurück. Entweder langweilten wir uns auf den Zimmern, oder wir hingen in der Hotellobby ab. Tobias war ein schmaler, nachdenklicher junger Mann. Er machte auf mich den Eindruck, als ob er bereit wäre, die ihm zugedachte Rolle des vernünftigen, verantwortungsbewussten Sohnes anzunehmen. Nach dem Abitur wollte er Medizin studieren. Die Familientradition fortführen. Pauline war von quecksilbrigem Temperament. Sie war eine Akrobatin, liebte es, Räder zu schlagen, auf hohen Mauern zu balancieren oder lange auf einem Bein zu stehen. Wenig begeistert sahen Tobias und ich ihr dabei zu. Zum Zeitvertreib spielten wir zusammen »Stadt, Land, Fluss« oder »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Wir waren alle drei denkbar schlechte Spieler.
Luises Schicksal änderte sich alle halben Tage. Jeden späten Nachmittag warteten wir darauf, Elisabeth und Frieder Pohl den Flur entlangkommen zu hören. Elisabeth Pohls Blick war bei der Rückkehr zumeist dunkel, mühsam beherrscht und unglaublich ängstlich. Ihr Gesicht schien kleiner geworden zu sein. Woher jeden Tag die Hoffnung nehmen? Kaum im Hotelzimmer angekommen, setzte sie sich in einen Sessel neben der Lampe und begann wie wild den ganzen Abend über zu stricken. Mit dem Stricken von langen, kratzigen Schals, die keiner brauchte, bekämpfte sie ihre innere Unruhe. Das grausame medizinische Wissen machte Frieder Pohl ganz grau. Uns gegenüber riss er sich zusammen. Jeder von uns hoffte für sich allein.
Schließlich traf ein, was wir gefürchtet hatten: Sie riefen an und fragten, ob Elisabeth und Frieder Pohl ihre Tochter noch ein letztes Mal sehen wollten. Luise hatte ständig hohe Dosen verschiedener Antibiotika bekommen. Immer neue Präparate waren zum Einsatz gekommen, doch all die Bemühungen hatten nicht geholfen. Es hatte die Lunge erwischt. Die Infektion konnte nicht behandelt werden, es gab kein neues Antibiotikum dagegen. Einer der Ärzte auf der Intensivstation entließ Elisabeth Pohl auf Französisch mit den Worten, nur beten könne jetzt noch helfen. Dieser Arzt schien selbst nicht religiös zu sein. An diesem Tag weinten alle. Auch der alte Arzt im strahlend weißen Kittel.
Den ganzen Nachmittag rannten wir verzweifelt auf den waldigen Berghängen oberhalb der Stadt herum. Wohin ich auch blickte, ich sah nur tote Bäume. Alles war kaputt vom sauren Regen. An diesem Tag, an dem er am verzweifeltsten war, schrieb Frieder Pohl in sein Tagebuch ein Gedicht.
Tobias, Pauline und ich schauten uns verwundert an, als Frieder Pohl von seinem nächsten Besuch im Krankenhaus in einem anderen Wesenszustand zurück ins Hotel kam. Elisabeth Pohl wirkte wie eine Marionette, er dagegen schien größer, entschiedener, konzentrierter geworden zu sein. Die Infektion müsse bekämpft werden, erklärte er mit fester Stimme. Er hatte sich daran erinnert, dass vor kurzem ein neues Antibiotikum in Deutschland entwickelt worden war. Frieder Pohl gelang es, Kontakt mit seinen Kollegen in Deutschland aufzunehmen. Das Präparat war ganz neu auf dem Markt, aber schon für den Export lizenziert. Die Kollegen würden dafür sorgen, dass das Medikament mit dem nächsten Flugzeug nach Prag kam. Eine Ambulanz des Krankenhauses von Ústí würde es dort abholen. Am Ende des Telefongesprächs gelang es Frieder Pohl kaum, sich zu verabschieden und das Telefonat zu beenden. Unter Tränen stammelte er immer wieder sein »Danke« in den Hörer. Dann weinten wir alle. In einem futuristischen Hotelzimmer mit braunen Möbeln und bunt karierten Stoffpolstern. Und unten in der Telefonzentrale schluchzte es sicher auch.
Noch am selben Abend wurde das Antibiotikum eingesetzt. Das Fieber stieg nicht weiter an, aber das war noch kein Grund zur Entwarnung. Wie immer warteten wir, spazierten bergauf, bergab. Sogar in den Zoo sind wir einmal gegangen, aber das stellte sich als keine gute Idee heraus. Es war elend und deprimierend, der traurigste Zoo, den ich je gesehen hatte.
Der Frühstückssaal war von den runden Tischen mit den weißen, weit herabhängenden Tischdecken beherrscht. Es kam uns vor, dass sie jeden Tag länger werden würden. Eines Morgens saß noch ein weiteres Paar mit drei Kindern an einem wenig entfernten Tisch. So unglücklich, wie die fünf wirkten, konnten das nur Sorayas Eltern und Geschwister sein. Noch stehend, grüßten Frieder und Elisabeth Pohl freundlich, während ich mich schnell an den Tisch setzte, denn ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Frieder Pohl fragte leise seine Frau, ob Sorayas Eltern wohl Kontakt suchten, weil Luise noch lebte, während ihre Tochter tot war. Da trat die Mutter Sorayas an unseren Tisch. Sie wirkte seltsam aufgekratzt. Frieder Pohl stand auf und unterhielt sich eine ganze Weile mit ihr. Dann ging sie wieder zu ihrer schweigend am Tisch sitzenden Familie zurück. Wenige Minuten später brach Sorayas Mutter weinend und laut schluchzend am Tisch zusammen. Ihr Mann und ihre Kinder sahen ihr dabei zu.
Ich war feige. Nutzte die Gelegenheit, um ohne Erklärung den Frühstückssaal zu verlassen. Fieberhaft hatte ich mir überlegt, was ich würde sagen können, wenn Sorayas Eltern mich ansprechen würden. Mir fiel nichts ein. Der Tod war in unserem revolutionären Alltag nicht vorgesehen gewesen. Als wir am Abend wie üblich zusammen aßen, erzählte Elisabeth Pohl, dass sie zufällig ein zweites Mal mit Sorayas Eltern zusammengetroffen seien. Das Krankenhaus in Ústí nad Labem war das größte im nördlichen Distrikt. Man hatte nicht nur Luise, sondern auch Sorayas Leiche dorthin gebracht. Die Eltern Sorayas waren nach Ústí gereist, um die Überführung ihrer Tochter zu organisieren. Obwohl Sorayas Geschwister nicht hatten mitfahren wollen, hatten die Eltern darauf bestanden. Soraya würde in der von ihr ungeliebten süddeutschen Provinzstadt begraben werden. Als sie das sagte, zuckte ich zusammen. Elisabeth Pohl meinte noch, dass die Mutter Sorayas ganz fassungslos gewesen sei, weil sie so normale, alltägliche Dinge getan und nichts gemerkt hatte in dem Moment, in dem ihre Tochter gestorben war. Ich nickte, Verständnis vortäuschend, und war froh, dass mich weder Frieder noch Elisabeth Pohl fragten, warum ich eigentlich nicht den Eltern und Geschwistern Sorayas kondoliert hatte.
An dem Tag, an dem Pauline und Tobias mit dem Zug heimfuhren, um wieder zur Schule zu gehen, koppelten sie Luise von der Beatmungsmaschine ab. Luise machte ein derart erschrockenes, ängstliches Gesicht, als sie wieder selbst atmen sollte, wie es ihre Mutter, die dabei war, in ihrem Leben noch nicht gesehen hatte. Es war nicht klar, ob das rechte Bein, das Luise zehn Tage lang nicht bewegt hatte, gelähmt war und ob Luise ihr Gedächtnis verloren hatte. Zehn Tage lang hatte sie nur geradeaus gestarrt und auf nichts reagiert.
Drei Tage nachdem sie aus dem Koma aufgewacht war, machte Luise mit den Fingern kleine Zeichen auf dem Unterarm ihrer Mutter. Es sah aus, als wollte sie schreiben. Flugs brachten die Schwestern ihr einen Block und einen Bleistift. Elisabeth Pohl beobachtete verwundert, wie Luise wie ein kleines Kind anfing loszukritzeln. Keine Buchstaben, sondern lange Wellenlinien von rechts nach links. Immer wieder fing sie, die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, von vorne an. Dabei sah sie ganz zufrieden aus. Am Abend sagte Elisabeth Pohl zu uns, sie denke, Luise habe den Verstand verloren. In den nächsten Tagen stellte sich heraus, dass Luise für ihre Rückkehr in die Welt der Buchstaben und der Sprache übte. Sie kritzelte keine Wellen mehr, sondern fing an zu schreiben. Für einen Buchstaben brauchte sie ewig lange. Das erste Wort, das sie allein schrieb, war: BÜCHER.