Es muss eine Art Signal im verwundeten Körper geben, das einen davon abhält, nach der Wahrheit zu forschen, wenn sie schmerzlich ist. Ich wusste nur, dass ein Unfall passiert war. Als ich mich nur schriftlich verständigen konnte, hatte ich an meine Eltern die Frage aufgeschrieben, ob alle anderen okay seien. Mit ihrer schnellen Lüge gab ich mich zufrieden. Heute, viele Jahre später, scheint es mir seltsam, wie sehr ich bereit war, an den mir selbst ausgedachten Ablauf des Unfalls zu glauben. Ich hatte ein eigenes Szenario im Kopf. Alles andere grenzte ich aus, fragte nicht nach, rührte nicht daran.
Meine Eltern hatten meine Freunde und Bekannten gebeten, mir nicht die Wahrheit zu schreiben. Als ich einen Brief von meinem damaligen Liebhaber bekam, wunderte ich mich über seine vielen ungenauen und allgemeinen Schilderungen, doch fiel mir erst einmal nichts auf. Nachdem ich seinen Brief viele Male gelesen hatte, wurde mir jedoch schlagartig klar, dass ich die erste direkte Nachricht aus meinem vorigen Leben in der Hand hielt. Mir wurde eiskalt, und ich spürte, wie sehr ich aus der Welt herausgefallen war. Alles außerhalb meines Krankenhausbettes erschien mir seltsam und sonderbar. Was gehörte eigentlich noch zu mir? Meine Entwürfe für die Zukunft waren hilflose Versuche, meinem geretteten Leben einen Sinn zu verleihen. Vor dem Unfall hatte ich diesen Sinn nicht gesucht. Einfach gelebt. In meiner Verunsicherung über die Zukunft erfand ich mir eine Vergangenheit. Ohne daran zu zweifeln, hielt ich an meiner erfundenen Version des Unfalls fest. Wochen vergingen, mein Körper gewann wieder an Kraft, und irgendwann ging es um die Abreise. Mein Vater sprach davon, dass der fehlende Pass vielleicht ein Problem sein könnte. Da wunderte ich mich, denn unsere Pässe hatten doch im Handschuhfach gelegen. Ich fragte, was mit meinen Freunden sei. Es verging eine qualvoll lange Zeit, ehe mein Vater mir sagte, dass etwas Schlimmes passiert sei. Und meine Mutter flüsterte schnell hinterher, Soraya sei tot.
Am Ende dieses Tages hatte ich Fieber. Ich lag in einer braunen Dunkelheit und sah mit geschlossenen Augen die gelben und mattschwarzen Farben von Prag. Immer wieder ging ich auf die gleiche gelbe Mauer zu. Eine alte, von Gaslicht beschienene Mauer in einer Prager Straße bei Nacht. Immer wieder ging ich auf diese gelb gemauerte Mauer zu, die sich beinahe unmerklich zu einer Kurve krümmte. Da gab die Mauer den Weg frei, aber ich kam nicht weiter, sondern begann stets von neuem auf die Mauer zuzugehen, wie in der Endlosschleife eines Films. Soraya war schon begraben. Sie lag auf einem Friedhof in der Provinz.
Ich merkte, dass ich es nicht schaffte, Soraya in meiner Erinnerung heraufzubeschwören. Sie rutschte weiter und weiter weg. Darüber war ich irritiert und entsetzt zugleich. Ich fühlte mich schuldig, denn es gelang mir nicht, Sorayas Bild festzuhalten. Ich wurde zornig auf sie und auf alle anderen, weil ich nicht weinen und trauern konnte, wie ich es gerne getan hätte. Ganz heiß und trocken lag ich da und dachte an den Tod, der mich in diesem Krankenhaus umgab. Ich zog mich eng zusammen zu einem dichten dunklen Knoten. Da wurde mir alles egal.
Viele Jahre später erinnerte ich mich an Sorayas Körper, an seine Präsenz und Stärke. Ich erinnerte mich an die Bewegung ihrer Hände und an die Zärtlichkeit, die uns umgab, als sie mich einmal zum Scherz hochgehoben und in den Armen gehalten hatte, während sie sich über meinen mageren Körper und mein Leichtgewicht amüsierte.