Geschossen wurde nicht, wenn auch der Frontverlauf klar vorgezeichnet war. Unsere Niederlage — acht geräumte Häuser, viele Gefangene, Verletzte und ein Toter — war zu groß, als dass wir darüber hätten hinweggehen können. Im Sommer noch hatten wir übermütig auf die angekündigten Räumungen geantwortet: »Wir nehmen die Kriegserklärung an: eine Million Sachschaden pro geräumtem Haus!« Im Herbst dann wollte sich keiner mehr an diese Peinlichkeit erinnern. Wir hatten dieses Ziel nicht einmal annähernd erreicht.
Das Blatt begann sich zu wenden. Wir hatten mächtige Feinde, die mitbekommen hatten, dass wir nicht mit einer Stimme sprachen. Es gab Häuser, in denen die Besetzer bereits das Pflanzkonzept für ihre zukünftigen Dachterrassen planten, und andere, die wie auf der Straße lebten und für die nur die politische Aktion zählte. Die einen wollten unbedingt Mietverträge und die anderen die ganze Welt in die Luft sprengen. In fast jedem Haus gab es Schnorrer und Abgehängte. Sie zogen um Mitternacht zu ihrer Kneipentour los und kamen am Morgen wieder zurück. Tagsüber schliefen sie. Selten waren Frauen dabei. Dafür gab es unter ihnen Lehrlinge, die aus der westdeutschen Provinz abgehauen waren, Studenten, die es seit vielen Semestern nicht mehr an die Uni schafften, Arbeitslose und herumziehende Abenteurer, die behaupteten, Künstler zu sein, und die das große Wort führten. Sie klopften radikale Sprüche, das war es aber auch schon mit der Politik. Ihr Geld ging für Alkohol und Drogen drauf. Vor Gemeinschaftsarbeiten drückten sie sich. Einkaufen und Kochen überließen sie den anderen. Damit kamen sie durch, denn jede Lebensform wurde toleriert. Alle Entrechteten sollten bei uns ihr Recht bekommen. Dann waren da noch die Kitschnudeln, die nur davon schwafelten, ihre Träume verwirklichen zu wollen. Ihre Phantasie bezeichneten sie als ihre schärfste Waffe. War für die Autonomen das massive Vorgehen des Senats eine Kriegserklärung, säuselten sie: »Die Häuser könnt ihr räumen, unsere Erfahrungen könnt ihr uns nicht nehmen!« Speziell über diesen Spruch lachte John sich scheckig.
Die Vertreter der verschiedenen Positionen trafen im Besetzerrat, der Vollversammlung aller besetzten Häuser Berlins, aufeinander. In strikter Abgrenzung zu den Achtundsechzigern, diesen entsetzlichen Besserwissern, die wir gar nicht mochten, gab es keine Führungspersönlichkeiten. Stellvertreterpolitik lehnten wir ab. Wer Zeit, Lust und Interesse hatte, ging hin. Man vertrat sich selbst und irgendwie auch sein Haus. Natürlich gab es Jungs, die große Reden schwangen, aber ein Rudi Dutschke war nicht darunter. Die bewusste Strukturlosigkeit war anfangs unsere Stärke. Der Senat konnte keine eindeutigen Ansprechpartner ausmachen, um auf sie Einfluss zu nehmen. Wie bei uns die Macht verteilt war und wie Entscheidungen getroffen wurden, war den Mächtigen ein Rätsel. Wir waren uns sicher, selbst in den Besetzerrat eingeschleuste Spitzel würden nichts mit dem Geschrei und den undiszipliniert geführten Diskussionen anzufangen wissen. Wir blieben unberechenbar. Lachten uns ins Fäustchen.
Aber nicht nur die offizielle Politik musste sich angesichts unseres Chaos geschlagen geben, auch die Vertreter der versprengten Linken warfen das Handtuch. Die noch aus den siebziger Jahren übrig gebliebenen Hanseln der Parteiaufbauorganisationen glaubten nämlich, sie könnten die Hausbesetzer für ihre Ziele einspannen. Diese Typen, die ihren Parka anscheinend nie auszogen, träumten noch immer vom Anschluss an die Geschichte. Doch wir interessierten uns nicht für die Erweckung der Massen und das geheime Weltwissen der Kommunisten. Lehnten straffe Organisation und Kadergehorsam ab. Für unsere Radikalen waren die K-Gruppen sowieso indiskutabel, weil sie die RAF nicht ernst genug nahmen. Die Spartakisten, Maoisten, Trotzkisten, Stalinisten und Leninisten — freudlose Missionare der kommunistischen Welterlösung — verzweifelten an unserer Heterogenität und Planlosigkeit. Entsetzt mussten sie feststellen, dass es im Besetzerrat weder eine einheitliche Theorie noch eine abgestimmte Strategie über den Umgang mit dem Feind gab. Sie verstanden einfach nicht, dass wir das Prinzip der Repräsentation grundsätzlich ablehnten. Schließlich kapitulierten sie: Aus diesem zusammengewürfelten Besetzerhaufen war keine straff geführte Truppe zu machen. Als immer mehr Häuser dazukamen und irgendwann zweihundert und mehr Besetzer im Besetzerrat saßen, wären eine verbesserte Organisation und etwas Disziplin allerdings hilfreich gewesen. Diskussionen waren da kaum mehr möglich, Konsenslösungen wurden nach Lust und Laune gefunden und kurz darauf wieder verworfen. Was blieb, war ein großes Palaver, das keiner mehr ernst nahm.
Irene gefiel es, dort als eine der wenigen Frauen ständig präsent zu sein. Nachdem nämlich der Besetzerrat im April 1981 auf Drängen der Politischen Staatsanwaltschaft bei einer polizeilichen Durchsuchung festgesetzt und alle Anwesenden — darunter auch der Sohn des Polizeipräsidenten — erkennungsdienstlich behandelt worden waren, haftete ihm ein Hauch von Revolutionsausschuss an. Das genügte, um ihn für Irene unwiderstehlich zu machen. Sie wollte bei uns im Haus den Ton angeben und glaubte, die Beziehung zu den Häuptlingen aus den anderen Häusern würde ihr dabei hilfreich sein. Ihre Paladine Marianne und John kamen mit, obwohl selbst sie die Sitzungen überflüssig fanden. Lars, der unglücklich in Marianne verliebt war, begleitete sie nur einmal dorthin. Sein Großvater war kurz zuvor gestorben, und seine Mutter hatte ihm dessen schwarze Lederjacke geschickt. Um Marianne zu beeindrucken und um cool auszusehen, zog er diese Jacke in den Besetzerrat an. Der Effekt war verheerend. Als einer mit dem Finger auf ihn zeigte und »Ein Zivi!« rief, wusste Lars, die Sache mit Marianne war gelaufen. In seiner Kleinbürgerfahrschullehrerlederjacke sah er wirklich nicht wie ein Streetfighter aus. Keiner hatte ihn davor gewarnt. Ob aus Absicht oder Nachlässigkeit, war nicht auszumachen. Marianne, die eben noch ganz ausgelassen gewesen war, rückte von Lars ab. John verzog sich hinter einen Pfeiler in der hintersten Ecke, und Lars, mittlerweile sehr bleich geworden, stammelte etwas von einem Missverständnis. Erst als Irene sich einschaltete und versicherte, dass er sauber sei, ließ man von ihm ab. Lars wollte daraufhin nichts mehr mit dem Besetzerrat zu tun haben. Auch die Sache mit dem Typwechsel war für ihn ab da erst mal erledigt. Auf Irene jedoch ließ er nichts mehr kommen.
Wir anderen durchschauten schon lange nicht mehr, um was es eigentlich genau im Besetzerrat ging. Wir wussten nur, dass die Auseinandersetzungen zwischen denen, die Mietverträge wollten, und denen, die dies als Verrat brandmarkten, erbittert geführt wurden. Gerüchte kursierten über laute Schreiereien und Prügeleien. Man musste starke Nerven und eine laute Stimme haben, wenn man dort gehört werden wollte. In einem großen, schmucklosen Raum lagerten vorwiegend Männer in Begleitung ihrer Hunde. Man kannte sich zumindest vom Sehen. Fast alle rauchten, die Luft war abgestanden. Fenster öffnen ging nicht, denn der Feind hörte mit. Es konnte lange dauern, bis sich irgendwann einer laut genug mit irgendetwas zu Wort meldete, sodass davon ausgegangen werden konnte, dass die Sitzung eröffnet war. Der Ton war rau und nie herzlich. Um aufzufallen, musste man möglichst radikal auftreten. Es war nervtötend, denn die Wortmeldungen wurden immer wieder durch Hundekläffen, Kindergeschrei und Zwischenrufe unterbrochen. »Halt’s Maul!«, »Wichser!«, »Senats-Ärsche!«, »Verhandlerfotze!«. War aber alles nicht so ernst gemeint. Manche konnten gar nicht anders als pöbeln, und andere hatten sich diese Sprache angeeignet, in der Hoffnung, damit möglichst revolutionär aufzutreten.
Die Verhandler argumentierten, dass man Verträge brauche, um eine »selbstbestimmte« Szene überhaupt erst aufzubauen. Die Häuser sollten zukünftig nicht mehr Inhalt, sondern Ausgangsbasis des Widerstands sein. Man darf die Öffentlichkeit nicht durch radikale Aktionen und Parolen abschrecken, sondern muss versuchen, sie für unsere Ziele zu gewinnen, so ihre Argumentation. »Wir müssen ihnen vorleben, dass man den Betonsilos und dem ganzen Konsumdreck etwas entgegensetzen kann.« Ihr Mantra war, wir dürften das Erreichte — die Häuser — nicht durch den Einsatz von Gewalt gefährden. »Alles, was nicht Kampf ist, ist verquirlte Müsli-Scheiße! Die Bewegung sitzt im Knast. Moabit ist voll mit unseren Leuten. Das Wichtigste ist, dass sie freikommen. Fuck Mietverträge!«, war die Antwort darauf. Die Nichtverhandler lehnten eine Legalisierung ab. Ihnen ging es um Enteignung. Und eine Enteignung setzt die Bestimmung eines Gegners voraus. Diesen Gegner hatten die Verhandler nicht, denn sie sahen in den Hauseigentümern ihre zukünftigen Partner. Wir Nichtverhandler waren dagegen davon überzeugt: Mietverträge rauben der Bewegung ihre politische Kraft und Energie. Militanz und gelebter Hass haben mehr bewegt als friedlich vorgetragene Kritik. Gewalt ist ein Instrument zur politischen Veränderung. »Wir können die unwürdigen Lebensverhältnisse nur ändern, wenn wir das System umfassend angreifen mit dem Ziel, den bürgerlichen Staat zu zerschlagen«, hieß es wohlformuliert aus der Ecke der zukünftigen Politprofis. »Das Einzige, wovor die pigs Schiss haben, ist Krawall. Wann kapiert ihr Verhandler-Wichser das endlich!«, kam unmissverständlich hinterher. Quälend lang zog sich dieser immer gleiche Schlagabtausch hin. Wir waren in einer Endlosschleife gefangen: Wurde verhandelt, folgten polizeiliche Durchsuchungen, auf die wir mit gewalttätigen Demonstrationen antworteten. Die Polizei haute drauf, provozierte und machte Gefangene. Wir Nichtverhandler forderten daraufhin, die Verhandlungen so lange zu unterbrechen, bis die Gefangenen frei sein würden. Verhandelte man weiter, so ließe man die, die für uns im Knast saßen, im Stich. Dieses Argument jedoch beeindruckte die dialogbereiten Akteure schon lange nicht mehr, weshalb sie ihre Verhandlungen mit den Eigentümern gerne geheim hielten.
»Sogar Beuys will zu uns gehören«, bemerkte John betont lässig, als er von einer Sitzung des Blockrats zurückkam. Die Besetzer aus der D 39 seien ziemlich aufgedreht gewesen. Joseph Beuys habe die Patenschaft für ihr Haus übernommen. Er werde sie demnächst in der Dennewitzstraße besuchen kommen. Sogar John kannte Beuys und fand ihn gar nicht so schlecht. Weniger sein Gerede von der »neuen sozialen Zukunft« als seine Aufmachung. Das mit dem Hut, der Weste und den Stiefeln gefiel ihm. Eigentlich lehnte unser Haus Paten ab, aber bei Joseph Beuys wurden wir dann doch neidisch. Robert meinte, dass wir Hausbesetzer das wichtigste energetische Element Berlins seien und perfekt zur Beuys’schen Programmatik der Durchdringung von Kunst und Leben passen würden. Damit hatten wir ein Argument, um unseren Neid zu kaschieren. Beuys hängte sich nur an uns ran, um seine Strahlkraft zu erhöhen. Er kam dann auch wirklich auf einen Kaffee bei seinen Patenkindern vorbei, verteilte Lob und fand alles prima. Danach eilte er in die Arme unserer Feinde. Ein Berliner Unternehmer, für uns ein Spekulant der übelsten Sorte, präsentierte »seine Künstler«, nämlich Beuys, Rauschenberg, Twombly und Warhol in der Neuen Nationalgalerie. Da eines seiner Häuser besetzt war, sprach der Freund der Künste nur schlecht von uns. Wir waren unter seinem Niveau. Beuys störte sich nicht daran. Er nahm die Honneurs seines Sammlers entgegen und ließ sich von ihm als ein Künstler feiern, der »die Ängste der Zeit« kennt. Beuys hatte uns verraten. Diese Geschichte war ein Beweis dafür, dass wir uns nicht vor den Karren irgendwelcher Prominenter spannen lassen sollten.
Lummer und von Weizsäcker ließen die Muskeln spielen. Häuser wurden unter fadenscheinigen Gründen geräumt, der Widerstand dagegen brutal niedergeknüppelt, und dann rollte die Prozesslawine an. In nächtlichen Diskussionen in der »home bar« spekulierten wir darüber, dass einige Vorzeigehäuser bleiben würden, während andere mit möglichst viel Getöse geräumt werden würden. Welche auf der einen und welche auf der anderen Seite stehen würden, darüber stritten wir lautstark, führten wöchentlich sich ändernde Listen und schlossen Wetten miteinander ab. Allerdings hatten wir den Überblick verloren. Selbst im Besetzerrat wusste man nicht, auf welchem Verhandlungsstand sich die einzelnen Häuser befanden und wie die exakte Gewichtung zwischen Nichtverhandlern und Verhandlern war. Buchhaltung war unsere Sache nicht. Doch noch waren wir stark. Im Februar 1982 waren 139 Häuser in unserer Hand. Gemäß dem Motto »Teile und herrsche« hatte der Senat begonnen, zwischen den guten Besetzern, die ihre Häuser zügig und ordentlich sanierten, und den bösen Besetzern, den gefährlichen Gewalttätern, zu unterscheiden. Im Politikerjargon nannte man das »Differenzierungsprozess«. Sie konnten die fleißigen, friedliebenden jungen Menschen gar nicht genug loben, so wie ihnen kein Klischee zu grob war für die kriminellen Elemente, die angeblich den Rechtsfrieden der Stadt gefährdeten. Auf keinen Fall durften wir ihnen in die Falle gehen und uns auseinanderdividieren lassen. Also rauften wir uns immer wieder zusammen.
Der Besetzerrat wurde schließlich entmachtet. Er war nicht mehr zeitgemäß. Zu groß, zu schwerfällig, weitgehend inhaltsleer. Um rascher und flexibler agieren zu können und um unsere Schlagkraft zu erhöhen, bildeten sich kleinere Organisationseinheiten. Wir befanden uns in einem Gespinst aus Blockräten, Kiezräten, Betriebsräten, Sanitäter-, Handwerker-, Knast- und RAF-Hungerstreikunterstützer-Gruppen, Action-Plena sowie verschiedenen Ausschüssen. Dazu kamen die Vollversammlung im Haus sowie Treffen mit der Wohngruppe, um Alltägliches, aber auch Politisches zu diskutieren. Prinzessin Crumb war die Erste, die dieses Leben nicht mehr durchhielt. Auf einer Hausversammlung überraschte sie mit der Ankündigung, dass sie bald ausziehen werde. Als Grund gab sie an, sie wolle einfach mal wieder ihre Ruhe haben. Keine Kämpfe um das Putzen der Toilette, keine Wochenenden mit endlosem Renovieren, keine Batterie leerer Weinflaschen und voller Aschenbecher auf dem Küchentisch am Morgen, keinen Zwang, politisch zu sein, keine Angst vor überraschenden Polizeidurchsuchungen, keine Nachtwachen und keine stundenlangen Vollversammlungen. Das Besetzerleben war ihr zu anstrengend. Sie sehnte sich nach der Ruhe und Sicherheit einer Zweizimmerwohnung. Ob wir das spießig fänden oder nicht, sei ihr reichlich egal, schloss sie. John stöhnte laut »Typisch Scheißadel«. Clarissa reagierte darauf, wie sie es in ihren Kreisen gelernt hatte, nämlich mit Contenance. Sie schaute John nur gelangweilt an. Von solch einem Würstchen lass’ ich mich nicht provozieren, hieß das. Prinzessin Crumb war wohl nicht nur der geduldige Gemütsmensch, für den wir sie gehalten hatten. Zu unserem Erstaunen verfügte sie über einen ererbten Vorrat an aristokratischen Manieren. Wahrscheinlich hatte sie auch genug davon, jedes Abenteuer Michaels hautnah mitzubekommen. Seine Königinnen der Nacht saßen nämlich mittags, wenn Clarissa von der Uni kam, mit glasig-verzücktem Blick am Küchentisch und himmelten ihren Tantrameister an.
Clarissa zog also aus und kam nicht einmal mehr zu Besuch vorbei. Das Kapitel Besetzen war für sie erledigt. Michael nervte uns noch eine Zeit lang mit seinem Getrommel und Trauergesang. Danach nahm er sein altes Leben wieder auf. Für Clarissa kamen Lynn und Jan, ein Paar immerwährender Jugendliebe. Lynns Vater war ein Hamburger Architekt. Er bewunderte Max Frisch und nannte seine Tochter nach der jungen Amerikanerin aus »Montauk« Lynn. Lynn war apart. Sie hatte dunkle Haare, fast schwarze Augen und strahlte blasse, hanseatische Wohlerzogenheit aus. Wenn sie, dünn und zerbrechlich, vor einem stand, konnte man sich nur schwer vorstellen, dass sie mehrmals von zu Hause abgehauen und durch halb Europa getrampt war. Ihr Fernweh hatte sich erst gelegt, nachdem sie Jan kennengelernt hatte. Ausbildung oder Studium interessierte sie nicht. Tagsüber zeigte sie sich selten. Erst wenn die Sonne untergegangen war, erwachte ihr großartiger Humor. Dann brachte sie uns alle zum Lachen. Lynns Liebe zu Jan war zwanghaft. Ihre gesamte Lebensenergie ging damit drauf, an diese Liebe zu glauben. Das Geld für beide verdiente Jan als Fahrer bei einer Firma für Medizinbedarf. Ansonsten tat er so, als ob er ihren Liebeswahn nicht bemerken würde. Jan war Ostfriese, klein, blond und kräftig. Mit Krampfadern an kalkweißen Beinen. Er war der geborene Pfuscher. Radios, Automotoren, Plattenspieler, Klodeckel, Wasserleitungen, Haustüren, Fahrräder — es gab nichts, was er nicht reparieren konnte. Das funktionierte dann irgendwie, aber nie lange. Dass keine seiner Reparaturen von Dauer war, ignorierte er großzügig. Innerhalb nur kurzer Zeit gelang es ihm, eine wichtige Position im Haus einzunehmen. Seine ausgeprägte kriminelle Ader war eine Bereicherung. Jan hatte ein großes Arsenal von Stempeln und Ausweisen gesammelt. Bei Bedarf fälschte er Fahrkarten für U-Bahn und Bus, aber auch Eintrittskarten fürs Kino oder für Konzerte. Während seiner täglichen Fahrten durch die Stadt hielt er auf Baustellen Ausschau nach Materialien, Werkzeugen und Geräten, die wir gut würden gebrauchen können. Sein größter Coup war der nächtliche Diebstahl einer neuen elektrischen Sägemaschine. Wie ein Ufo aus einer anderen Welt stand sie silbrig glänzend neben Luises Bricolage-Skulpturen mitten in unserem schäbigen Hinterhof. Wir waren alle mächtig stolz auf sie.
Jan sah man fast nur im Blaumann, und über Volker hieß es, er lasse seine schwarze Lederjacke auch zum Schlafen an. Dass er Volker hieß, wussten nur seine engsten Freunde. »Volker« erinnerte ihn an »Volk« und war somit faschismusverdächtig. Alle kannten ihn nur unter seinem Nachnamen Rabensteiner, abgekürzt Rabe. Wolle hatte ihn von einer ausschweifenden Demonstration mitgebracht. Rabe suchte Unterschlupf für eine Nacht. Ab dann kam er immer wieder. Im Hinterzimmer unserer »home bar« lag eine Matratze, und dort schlief er bei Bedarf. Rabe war Ostberliner. Die Schilderungen seiner Flucht in den Westen wechselten je nach Tagesform. Einmal waren sie im Kofferraum eines Autos und ein anderes Mal im Tunnel nach Westberlin abgehauen. Am einen Tag hatte er seinen Vater und am anderen Tag seine Mutter drüben zurücklassen müssen. Keiner sprach ihn auf diese Ungereimtheiten an. Das waren doch nur Geschichten. Rabe glich einem schlauen Tier. Klein, flink, behände, immer in Bewegung. Er hatte ein hervorspringendes Gesicht, tiefe Lachfalten, nur noch wenige Haare, schwielige Hände und berlinerte ungeniert. Arbeiten ging er nicht. Was er konnte, hatte er auf der Straße gelernt. In der Szene war er bekannt wie ein bunter Hund. Angeblich war er an der Entführung von Peter Lorenz beteiligt gewesen und unterhielt Kontakte in den politischen Untergrund. Rabe war eine Berliner Knallcharge: schlagfertig, witzig und charmant. Außer unserem Haus gab es noch zwei weitere Verstecke, wohin er regelmäßig verschwand. Gezielt lachte er sich unglückliche junge Frauen an, gerne Erzieherinnen oder Krankenschwestern, die einsam in ihren aufgeräumten Zweizimmerwohnungen in einer städtischen Wohnanlage saßen. Rabe betörte sie, kam bei ihnen in der Vorstadt unter. Farbfernseher, Toaster, Sofa, Dusche. Er legt die Beine hoch, bekommt regelmäßig warmes Essen, schaut zum Fenster raus, schläft im Doppelbett mit Daunendecke. Die Frauen haben einen, der sie unterhält und den sie bemuttern können. Hat er genug davon, haut er einfach wieder ab. Hinterlässt keinen Abschiedszettel auf dem Küchentisch. Wenn er nach Weichspüler roch, dann wussten wir, dass er wieder eine Auszeit in den Suburbs hinter sich hatte.
Sein anderes Versteck war die Psychiatrie. Rabe war amphetaminabhängig. Wenn ihm alles zu viel wurde, ging er zum Entzug ins Urban-Krankenhaus und ließ sich wieder aufpäppeln. Attackierte er uns offen als Spießer, dann wussten wir, dass es bald wieder so weit war. In diesem schwierigen Zustand begann er von dem Haus zu schwärmen, in dem er zuvor gewohnt hatte. Das sei »hardcore« gewesen, tönte er. Treppengeländer und Treppenstufen im Hausflur hatten sie verfeuert, weshalb man sich an einem Seil in den Wohnbereich hochschwingen oder hochklettern musste. In die Böden und Decken auf der rechten Seite hackten sie Löcher, drehten im vierten Stock das Wasser auf und hatten große Freude an ihrem Wasserfall. Es sollte keinen privaten Raum geben, weshalb sie nur wenige Wände stehen ließen und auch die Toilette offen einsehbar war. Möbel hatten sie so gut wie keine. Eigentlich ernährten sie sich nur von Bier oder löffelten ab und an eine kalte Dose Ravioli. Man konnte sich nur schreiend verständigen, weil Tag und Nacht der Polizeifunk durchs Haus dröhnte. Bei einsetzender Dunkelheit schalteten sie ein Stroboskop an, das ununterbrochen blitzte. Wenn man Rabe vor sich sah, beim pausenlosen Reden nervös imaginäre Locken auf seinem fast kahlen Kopf drehend, konnte man glauben, dass dieses Haus seinem inneren Zustand entsprach, und fast konnte man Mitleid mit ihm bekommen. Doch egal, wie schlecht es ihm ergangen war, nichts hielt ihn davon ab, sich vor der nächsten Demo wieder vollzupumpen. Unter dem Einfluss der Drogen wurden seine Aktionen immer aggressiver. Es war ihm gleichgültig, wenn er Menschenleben gefährdete. Auf Versammlungen hielt er radikale Brandreden und wiegelte die anderen auf. Trotz seines auffallend gewalttätigen Verhaltens wurde er kein einziges Mal verhaftet. Unter vorgehaltener Hand kursierte das Gerücht, Rabe sei ein Polizeispitzel und werde als Agent provocateur bezahlt. Wir mochten ihn und taten dieses Gerücht als Ausdruck der um sich greifenden Hysterie ab.
Wenn man mit John einen Abend in der »home bar« verbracht hatte, schaute man vor dem Schlafengehen unters Bett, ob dort nicht einer vom Staatsschutz lag. So war ihm aufgefallen, dass eine Wohnung im Haus gegenüber leer stand. John war der felsenfesten Überzeugung, darin habe sich der Staatsschutz eingenistet. Bei dieser Entfernung sei es kinderleicht, Richtmikrophone zu installieren, um uns abzuhören. Er sei drüben im Treppenhaus gewesen und habe festgestellt, dass man uns in die Fenster sehen könne. Auch die Haustür habe man von dort aus im Blick.
Politik und Justiz gaben uns genügend Anlass, John zu glauben. Die Abteilung P, die Politische Staatsanwaltschaft, agierte noch im Krisenmodus des Deutschen Herbstes. Staatsanwalt Walter Wagner, ein eher mittelmäßiger, aber jung-dynamischer Jurist, tat sich dabei besonders hervor. Besetzte Häuser waren für ihn Fluchtburgen, die Kriminellen und Terroristen Unterschlupf boten. Politiker, die vor der leichtfertigen Kriminalisierung junger Frauen und Männer warnten, verhinderten oder verzögerten seiner Ansicht nach ein hartes Vorgehen gegen Kriminelle und Gewalttäter. Auf seine Anträge hin kam es zu Durchsuchungen, bei denen das Sondereinsatzkommando (SEK) beteiligt war und Scharfschützen auf den umliegenden Dächern positioniert wurden. Er machte sich gerne höchstpersönlich vor Ort ein Bild von der Lage. Die Anwendung von § 129 StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung) sowie § 129 Absatz 5 (Unterstützung einer terroristischen Vereinigung) ermöglichte es den Hardlinern, bereits bei Anfangsverdacht auf Vorbereitungshandlungen, das heißt einer organisatorischen Verbindung zu einer Vereinigung, die auf Begehung schwerer Straftaten abzielt, Ermittlungsverfahren einzuleiten. Zusätzlich fanden § 123 Hausfriedensbruch, § 124 Schwerer Hausfriedensbruch, § 125 Landfriedensbruch und § 125 a Schwerer Landfriedensbruch Anwendung. Der Einsatz von § 14 des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (ASOG) in Berlin war Ausdruck purer Willkürherrschaft, ein Gummiparagraph. Jederzeit konnten Maßnahmen angeordnet werden, um die Gefährdung der Sicherheit und Ordnung, die von den besetzten Häusern ausging, zu beenden. Die Berliner Polizei, die der Politischen Staatsanwaltschaft zuarbeitete, konnte willkürlich Durchsuchungen ansetzen. Nicht einmal der Hausbesitzer musste zuvor verständigt werden. Diese gezielte und strategisch motivierte Kriminalisierung machte Angst. Uli brachte es nüchtern auf den Punkt: »Jeder von uns kann in den Knast gehen.«
Wir mussten uns vorsehen. Nachtwachen gehörten zu den wenigen Aufgaben, die nicht nach dem Prinzip der Freiwilligkeit verteilt wurden. Die erste Schicht ging von 23 bis vier Uhr und die zweite von vier bis zehn Uhr. Die Einsatzpläne hingen in jeder Küche aus. Vroni, die kaum Schlaf brauchte, hatte ihr Zimmer für Nachtwachen zur Verfügung gestellt. Wenn man mit ihr nicht auskam, ging man eine Etage tiefer in die Küche von Lars. Man saß am Fenster, starrte auf die dunkle Straße. Die Lichter in den Wohnungen gegenüber gingen aus, die Nachbarn legten sich schlafen. Nachtwachen waren ein einsames Geschäft. Aber im Gegensatz zum Nachtportier konnte man sich nicht der Melancholie überlassen. Bei jedem Geräusch schreckte man auf, fürchtete Angriffe und Attacken. Wir hatten im Haus kein Telefon, aber Funkgeräte, mit denen wir uns mit den Nachtwachen der anderen Häuser verständigten. Wurde ein Überfall auf ein Haus gemeldet, musste man kurzerhand entscheiden, ob man das ganze Haus aufweckte oder weiterschlafen ließ. War man bei Vroni, sorgte sie durch ihr Geplauder für Unterhaltung. In der Küche einen Stock tiefer hatte man seine Ruhe und konnte lesen. Alle halbe Stunde musste man einen Rundgang mit der Taschenlampe antreten, den Hof und den hinteren Teil des Hauses abchecken. Das hielt einen wach. Keine von uns gab zu, dass die Rundgänge durch das große, dunkle, labyrinthische Haus unheimlich waren. Wenn man es hinter sich hatte, war man froh, wieder bei der vergnügten Vroni zu sitzen. Zusätzlich waren fahrende Nachtwachen eingerichtet worden. Fast in jedem Haus gab es ein altersschwaches Auto, oder man lieh sich eines von Freunden oder Unterstützern aus. Damit klapperte man zu zweit eine Route besetzter Häuser sowie die Fuhrhöfe der Polizei ab. Aufgabe der fahrenden Nachtwache war es, die Truppenbewegungen des Feindes sowie Zusammenrottungen von Neonazis, Bürgerwehren und Skins zu melden. Natürlich hörten wir den Polizeifunk ab. Fuhren auffällig viele Mannschaftswagen samt technischen Fahrzeugen los, war eine Räumung oder Durchsuchung zu befürchten. Anfangs war es abenteuerlich, mit einem Funkgerät durch die leere, nächtliche Stadt zu fahren und unsererseits die Polizei zu überwachen. Die oberste Regel lautete, dass man die Funkgeräte nur bei drohender Gefahr benutzen durfte. Sie gehörten zu unserer militärischen Ausrüstung und waren nicht zum Vergnügen gedacht. Führte eine Buslinie an einem Fuhrpark der Polizei vorbei, setzten sich zwei von uns am frühen Morgen in den Bus und fuhren mehrmals die Linie ab. Vom Busoberdeck konnte man über die Mauern in den Hof spähen. Die knisternden, scheppernden, überdimensionierten Funksprechgeräte trugen wir in Einkaufstaschen mit uns. Die Nachtwachen gaben uns das Gefühl, nicht wehrlos gegen die polizeiliche Übermacht zu sein. Im Notfall halfen sie jedoch keine Durchsuchung oder Räumung abzuwenden.
Sie mussten nicht klopfen. Wenn sie mit ihren Mannschaftswagen in die enge Kopfsteinpflasterstraße einbogen, waren wir schlagartig wach. Anfangs gerieten wir noch bei jedem Müllauto, das vorfuhr, in Panik, doch mittlerweile hatten wir gelernt, die Motorengeräusche zu unterscheiden. Meistens kamen sie dienstags. Beim Blick aus dem Fenster sahen wir die von Wannen gesäumte Straße. Eine Wanne stand an der anderen, Anfang und Ende der Straße waren gesperrt. Um den hinteren Teil unseres Hauses im Auge zu behalten, positionierten sich Polizisten auf den Dächern. Ein Entkommen war unmöglich.
Über unsere mögliche Gegenwehr waren die Meinungen verschieden. John prahlte, er werde nie und nimmer den Bullenschweinen die Tür öffnen. Ihm schlossen sich viele — darunter überraschenderweise auch Lars und Vroni — an. Uli war es, der ihnen mit viel Geduld beibrachte, dass wir uns damit nur selbst schaden würden. Wenn wir nicht öffnen, dann drücken sie mit ihrem Räumfahrzeug ganz einfach die Tür ein. Was machen wir dann? Wir haben kein Geld, um die große Haustür zu reparieren. Das Haus würde tage-, vielleicht wochenlang offen stehen. Wir wären schutzlos unseren anderen Feinden, den Bürgerwehren und den Neonazis, ausgesetzt. Diesem Argument konnte sich keiner entziehen. Schweren Herzens einigten wir uns darauf, ihnen die Tür zu öffnen, bevor das Türholz krachte. Mit dem Öffnen durfte man sich jedoch nicht allzu viel Zeit lassen. »Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei!«, dröhnte das Megaphon. Spätestens jetzt hingen die ersten Nachbarn am Fenster. Glotzten neugierig, warteten lüstern auf Verhaftungen. Ungeduldig hämmerte der Einsatzleiter gegen die Tür. War sie erst einmal geöffnet, veränderte das unsere Situation in Sekundenschnelle: Wir wurden zu Gefangenen. Unserem Gefühl nach waren es Hunderte, die polternd mit ihren schweren Stiefeln ins Haus eindrangen. Standen mehrere Räumungen an, waren bis zu zweitausend Polizeibeamte im Einsatz. Bei einer Routine-Durchsuchung fielen sie mit einer Hundertschaft ein. Diese Feiglinge! Man hörte sie überall: im Hinterhaus, im Hof, in der »home bar«, im Seitenflügel und im eigenen Schlafzimmer. Sie waren in voller Montur, ihre Funkgeräte piepsten, und sie riefen sich gegenseitig blöde Scherze und schnittige Kommandos zu. Schlaftrunken, häufig leicht bekleidet, stand man der bewaffneten Staatsmacht gegenüber. Auf der Suche nach uns drangen sie bis in die letzten Winkel des Hauses vor. Türen wurden aufgerissen, mit lauter Stimme und im Befehlston wurde man angeherrscht, sich etwas überzuziehen und zu folgen. Wir wurden einzeln abgeführt. Es muss ein seltsames Bild gewesen sein, die Überzahl dieser gepanzerten grünen Männer und dazwischen wir verstörten Gestalten, halb nackt oder in Decken gewickelt, frierend und mit Schlaf in den Augen.
Zur Sammelstelle erkoren sie regelmäßig unseren Gemeinschaftsraum. An der Tür und am Balkonfenster wurden Wachen aufgestellt. Mit unbewegten Gesichtern standen sie da. Was sie dachten, konnte man ihnen nicht ansehen. Der Polizeipräsident meinte in einem Interview, seine Beamten würden durch diese Einsätze die alternative Szene kennenlernen. Das klang für uns nur zynisch. Beim Gang zur Toilette wurde einem einer von ihnen zur Seite gestellt. Wie bei Schwerverbrechern. Nachdem wir festgesetzt waren, betraten erst die wichtigen Akteure das Haus, die Herren der Politischen Staatsanwaltschaft, gierig auf Hinweise, die es ihnen erlauben würden, § 129 anzuwenden. Wir waren entspannt, denn wirklich wichtiges Material lagerten wir außerhalb in Wohnungen von Freunden oder in Schließfächern am Bahnhof. Sie brauchten Stunden, um all die Tagebücher, Flugblätter, Liebesbriefe, Seminararbeiten, Küchenbücher und Protokolle zu lesen. Fotos wurden beschlagnahmt. Wir sollten sie nie wieder zurückbekommen. Um sich keine Chance, uns zu kriminalisieren, entgehen zu lassen, brachten sie Monteure der Bewag, der Gasag und der Wasserwerke mit. Ihre Aufgabe war es, unserem Strom-, Gas- und Wasserdiebstahl auf die Schliche zu kommen. Hatte man Pech, zerstörten sie die Steigleitungen, stellten das Wasser ab und kappten den Gasanschluss. Auch die Sheriffs von der Gebühreneinzugszentrale waren mit von der Partie. Wir warteten derweil über den Raum verteilt, sitzend, stehend oder liegend. Entweder wir schwiegen, oder wir rätselten darüber, ob dies eine Räumung oder eine Durchsuchung werden sollte. Sicher konnte man sich nie sein, denn rasch konnte aus einer Durchsuchung eine Räumung werden. Zum Tross der Polizei gehörte ein Bautrupp, der bereitstand, um in diesem Fall Fenster und Türen zuzumauern. Auch nach wiederholten Durchsuchungen konnten wir kein System erkennen, warum es gerade uns erwischt hatte. Die Politik und die Justiz dürsteten nach Informationen. Horst Herold, der doktormabuseartige Chef des Bundeskriminalamtes und Erfinder der Rasterfahndung, hatte mit seinen Computerfahndungsmethoden neue Maßstäbe gesetzt: Terrorismusbekämpfung bedeutet Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung. Sein Versprechen: »Wir kriegen sie alle.« Eine Folge davon: Hunderte Durchsuchungen der besetzten Häuser. Mit Informationen über uns sah es nämlich schlecht aus. Ohne erkennungsdienstliche Behandlung wussten Polizei, Politik und Politische Staatsanwaltschaft nicht, wer die Hausbesetzer eigentlich waren. An unseren Türschildern standen Namen wie B. Setzer, A. Narcho, Reiner Unsinn, Che Guevara oder Karla Kaos. Die Fluktuation in den Häusern war groß, sodass auch regelmäßige Beobachtung nur unzureichende Informationen lieferte. Nicht jeder, der im Haus verschwand, war ein Besetzer. Erschwerend kam hinzu, dass wir ausgiebig mit unserem Aussehen experimentierten. Wir amüsierten uns, wenn die Bullen Schwierigkeiten damit hatten, zu erkennen, ob der brave junge Mann mit dem Pagenschnitt auf dem Passbild derselbe war wie der, der jetzt mit einem grün gefärbten Irokesen vor ihnen stand.
Wenn mit dem Finger auf einen gezeigt wurde, musste man folgen. Gewöhnlich diente eine der Küchen als Verhörraum. Zuerst an die Wand stellen zum Fotografieren, dann die Fingerabdrücke und schließlich die Angabe der Personalien. Viele der Beamten waren in unserem Alter. Für uns sahen sie alle gleich aus. Schmerbäuchige Idioten. Es kam zu komischen, aber auch dramatischen Situationen. Vroni spielte ihre mondäne Weiblichkeit gekonnt aus. Unvergessen, wie sie in breitem Wienerisch dem Preußen neben ihr eins auswischte. Als er sie abführte, murmelte sie für alle gut hörbar vor sich hin: »Schlechtes Rasierwasser. Billiges Zeugs.« Der Junge in Uniform neben ihr zuckte zusammen und wurde knallrot. Natürlich war es Michael, dem angeblich einer der grünen Männer verstohlen zugeflüstert hatte, dass er uns großartig finden würde. Irene lachte Michael dafür aus. Völlig ungerührt von dem Aufgebot der Staatsmacht war Fouad. Mit lässiger Eleganz und gelangweilter Miene musterte er die Polizisten in ihrem öden Outfit. Mit seinem Blick drückte er seine ganze Verachtung aus. John dagegen tigerte im Zimmer umher und drohte jeden Moment auszurasten. Seine Dompteurin Marianne redete beruhigend auf ihn ein. Bei einer der Durchsuchungen war zufällig eine von Johns Gelegenheitsgeliebten im Haus. Wie sich herausstellte, war sie nur wenig tauglich für den revolutionären Alltag. Leise vor sich hin weinend und zitternd vor Angst fragte sie, ob sie jetzt überhaupt noch Lehrerin würde werden können. John schnauzte sie an, sie solle den Mund halten. Die Situation war ihm schrecklich peinlich. Irene und Marianne warfen sich einen wissenden Blick zu. Warum ließ sich John auch mit einer Pädagogikstudentin ein? An der zarten, aber unbeugsamen Lynn bissen sie sich die Zähne aus. Sie schrie wie verrückt, schlug um sich und versuchte, die Beamtin zu beißen. Wollte sich nicht von einer, wie sie es nannte, Fascho-Tante im After herumfummeln lassen. Der Einsatzleiter hatte eine Ganzkörperuntersuchung angeordnet und sie zusammen mit zwei Beamtinnen in ein separates Zimmer geschickt. Das war reine Schikane. Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass Lynn Drogen oder Kassiber versteckt haben könnte. Ihre Gegenwehr war zu heftig, und sie ließen von ihr ab. Als lächelnde Siegerin kam sie zu uns zurück. Wir saßen da mit geballten Fäusten. Sprachlos und voller Wut.
Die Prozedur konnte sich bis zu sechs Stunden hinziehen. Es war eine einzige Demütigung. Wir hörten, wie sie sich Witze über uns zuriefen und sich über uns lustig machten. Wir waren die Anderen. Die Kriminellen. Die Terroristen. Die Unnormalen. Fassungslos kommentierte einer von ihnen Luises Skulpturen: »Die spinnen, die nageln Schrippen ans Holz.«
Wie Plünderer fielen sie ein. Was sie erbeuteten, waren die Objekte eines anderen, ihnen fremden Lebens, das sie gründlich verachteten. Wenn die schweren Motoren der Wannen angelassen wurden, wussten wir, es war vorbei. Aus Angst, sie könnten zurückkommen, tasteten wir uns ganz langsam vor. Wir inspizierten das veränderte Haus. Schränke und Schubladen waren durchwühlt, Mülleimer und Aschenbecher auf dem Boden ausgekippt, Matratzen waren umgedreht, Bettzeug lag verstreut im Treppenhaus herum, Zahnpasta war auf Kleidern ausgedrückt, die Türen der Kühlschränke standen offen, Plakate hingen schräg, und Geschirr war zerschlagen worden. Unsere Wohnungen waren durchsäuert von den Körperausdünstungen der Bullen. Sie ließen uns mit einem Gefühl der Hilflosigkeit, des Zorns und der Scham zurück. Wir rissen die Fenster auf. Das half wenig. Tagelang hing der fremde Geruch im Haus.
Die Erinnerung an das Erlebte wirkte nach. Gewöhnen konnte man sich daran auch nach wiederholten Malen nicht. In der Küche von Lynn und Michael sprachen alle aufgeregt durcheinander, keiner hörte dem anderen zu. Auch wenn es noch früh am Tag war, ging einer los, Bier kaufen. Es war, als ob geredet und getrunken werden musste, um die Schmach zu tilgen. Jan drehte den Kassettenrekorder auf: »Kill the Poor« von den Dead Kennedys dröhnte durchs Haus. Irene und John schwirrten aus, um sich mit ihren politischen Freunden zu beraten. Was steckte hinter dieser Aktion? Wollten sie uns bald räumen? Wie kann der Widerstand organisiert werden? Robert verfiel in einen Zustand erschöpften Schweigens. Am liebsten ging er danach ins Kino. Schaute sich drei Filme hintereinander an. Thomas zog sich zurück und nahm sich seinen Husserl vor, von dem er sich mittlerweile sieben Bände angeschafft hatte. Uli schüttelte diese Stunden einfach ab. Er saß an seinem Schreibtisch und bereitete sich auf die nächste Klausur vor. Wenig beeindruckt war auch Vroni, die sich erst einen Kaffee kochte und dann mit Lenny einige Joints rauchte. Ihr lautes Lachen war bis auf die Straße zu hören.
Jede Durchsuchung machte uns radikaler. Zwischen der nationalsozialistischen SA und der Berliner Polizei wollten wir keinen Unterschied erkennen. Auf Demonstrationen lautete eine unserer Standardparolen »Polizei — SA — SS«. Wir waren die Antifaschisten und die Bullen die Büttel der Faschisten. Mit dieser Demokratie konnten wir nichts anfangen. Es ging um unsere Freiheit. Venceremos!