Obwohl es heiß in diesem Sommer gewesen sein soll, erinnere ich mich an einen kalten Juli, in dem ich nach Berlin zurückkehrte. Ich hatte den Frühling in Süddeutschland bei meinen Eltern verbracht, wo ich wieder gehen lernte. Ich wog so viel wie zuletzt als Elfjährige, und meine Beine waren so dünn wie die Arme eines mageren Mannes. Jeden zweiten Tag im milden Heidelberger Frühling wanderte ich hinunter zum Neckar, spazierte über die Brücke und kaufte auf der anderen Flussseite in einem kleinen Spezialitätengeschäft Käse. Ich genoss es, alle Arten von würzigem und stinkendem Käse zu essen. Diese regelmäßigen Spaziergänge waren die reine Freude. Mir gefiel dieses Gehen mit meinem neuen Körper, der mir fast durchsichtig vorkam, noch undefiniert. Freunde aus Berlin besuchten mich. Auch mein Liebhaber kam, und es machte mir nichts aus, dass wir beide kein Liebesverhältnis mehr wollten. Das entschied sich leicht, ohne Vorwurf und ohne Verwundern. Andere Freunde lösten sich von ihrer jahrelangen Einsilbigkeit und fingen an zu erzählen. Sie waren von etwas berührt, was wir selbst kaum verstanden.
Jetzt kehrte ich also zurück, um wieder an mein Leben in Berlin anzuknüpfen. Ich kehrte zurück in unser besetztes Haus, und es gab viel Willkommen. Auf dem S-Bahngelände die Birken, auf dem Dach die schwarze Fahne. Alles wie immer. Aber unsere Gruppe gab es nicht mehr. Einer nach dem anderen hatte mich besucht, aber der Schock von Sorayas Tod war wie ein Loch im Sein. Thomas war zu Uli gezogen, Wolle wohnte im Taxi, Robert saß allein in unserer Küche, und Elena kam nur noch selten vorbei. Es gab viel Veränderung. Sie erzählten mir von dem Überfall der Nazis, warum Prinzessin Crumb ausgezogen war, vom Stress in den Räten, von ihrer Angst, wie es weitergehen soll, von den Räumungen und Durchsuchungen, von der Schlacht am Nollendorfplatz und natürlich von Trennungen und Affären. Ohne große Begeisterung lernte ich Jan, Lynn und Rabe kennen. Eine Überraschung war Irene, die sich anscheinend wirklich freute, mich wiederzusehen. Damit hatte ich am wenigsten gerechnet.
Unser Schlafzimmer war verlassen. Ich warf alle Matratzen raus und baute ein Zimmer für mich allein. Ich putzte die Fenster, die tief hinunter auf das S-Bahngelände blicken ließen, wo nach wie vor in regelmäßigem Takt die alten Züge rumpelten. Sorayas Chagall-Bild rührte ich nicht an.
Zurückgekommen war ich mit dem Wissen, dass ich überlebt hatte, weil die Ärzte und Krankenschwestern in Ústí ihre Arbeit sehr gut gemacht hatten und weil mir meine Eltern geholfen hatten. Jetzt blieb mir nichts als dieses wiedergefundene Leben. Die Freunde im Haus waren offen und wollten von meinen Erfahrungen und Erlebnissen hören, aber als ich beim Erzählen in ihre erstaunten Gesichter sah, verstummte ich. Meine Worte tönten falsch nach Sensation, und weil ich das unerträglich fand, hielt ich den Mund.
Unsere Rebellion war in die Jahre gekommen. Es gab noch viele besetzte Häuser und immer wieder große Demonstrationen, aber die Gräben zwischen den Besetzern vertieften sich. Auch bei uns im Haus gab es Richtungskämpfe. Wir demonstrierten weiterhin gegen Nachrüstung und für die Befreiungskämpfe in El Salvador und Nicaragua, aber sobald ich einen Krankenwagen sah, schlich ich mich davon. Im Fernsehen hatte ich die Jubelfeiern der Engländer nach ihrem Sieg auf den Falklandinseln gesehen. Das war mir besonders unangenehm gewesen, denn ich wusste, dass hinter all dem Hurra nur Tote lagen. Ich wurde plötzlich sehr empfindlich.
Wie die Figuren in Jean-Paul Sartres »Das Spiel ist aus«, die nach ihrem Tod eine zweite Chance bekommen, um sich ganz ihrer Liebe hinzugeben, stolperte ich ungeschickt herum, irgendwie entlassen und vollkommen zurückgeworfen auf mein Leben. Ich fand, ich machte es nicht besser als Eva und Pierre bei Sartre. Ich scheiterte genauso. Einmal lief ich mit Einkaufstüten eilig durch die Straßen, als ich mein Spiegelbild in einem Schaufenster entdeckte. Was ich sah, erschien mir plötzlich furchtbar lächerlich. Beim Anblick meines Spiegelbilds — im Pullover, fröstelnd und mit zwei Plastiktüten links und rechts — blitzte in meinem Kopf die Frage auf: Dafür also?
Mein Körper war ein anderer geworden. Nach der langen Zeit, unbeweglich im Bett, hatte sich meine Wirbelsäule verändert. Wo vorher alles gerade gewesen war, sprangen jetzt die Wirbel hervor. Die linke Hand war verkrüppelt. Ein abgedrückter Nerv musste langsam nachwachsen, um die Muskeln am kleinen Finger wieder versorgen zu können. Am merkwürdigsten war die Narbe an meinem Hals, rot und rund wie ein Knutschfleck, der sich mit dem Kehlkopf verklebt hatte und nun bei jedem Schlucken auf und ab hüpfte. Ich war darüber nicht bitter. Mein veränderter Körper war sichtbares Zeichen meiner Geschichte. Wo ich ansonsten nur vage Erinnerungen hatte, konnte ich ihn als greifbares Ergebnis behalten. Ich war zuerst mein Körper und dann meine Geschichte. Dieses wesentliche Ereignis meines Lebens war ihm eingeschrieben, und ich akzeptierte das wie selbstverständlich. Nur an einen Liebhaber dachte ich noch lange nicht. Ich mochte niemanden neu in meinem Leben. Ich wollte nicht berichten müssen, wie ich so geworden war.
Ich war ungeschminkt, trug einfache T-Shirts, schwarze Hosen, keinen BH. Meine Haare waren kurz, schwarz, ungekämmt und abstehend. Meine Menstruation hatte seit langer Zeit ausgesetzt.
Von Soraya gab es nur noch das Chagall-Bild. Alle anderen Spuren waren verschwunden. Noch während meiner Zeit in Ústí waren ihre Mutter und auch der Grande gekommen und hatten ihre Hinterlassenschaft mitgenommen. Ein paar ihrer Bücher blieben zufällig auf unserem Bücherregal stehen. Ich stellte ein Buch dazu, das bei unserem Unfall gerettet worden war, ein schmaler, blutverschmierter Band tschechischer Kurzgeschichten, den Soraya in Prag gekauft hatte. Wenn ich darüber nachdachte, wie es zu dieser Reise gekommen war, fühlte ich mich als Überlebende irgendwie schuldig. Das konnte ich nicht abschütteln. Das Gefühl von Soraya als meinem Gegenüber blieb mir erhalten. Manchmal wurde es mir lästig, was ich mir jedoch nicht einzugestehen getraute. Die anderen Freunde hatten an ihrem Grab trauern können. Dafür war es für mich zu spät, und auch Sorayas Familie sollte ich nie kennenlernen. Nicht vor und auch nicht nach dem Unglück. Ich versuchte nicht, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Es sollte Jahre brauchen, bis ich das Gefühl überwunden hatte, eine Zukunft zu haben, die nicht nur für mich gedacht war. Ich befand mich in einem anderen Zustand, versuchte mit meinem Überleben zurechtzukommen, immer mit Soraya an meiner Seite. Wenn ich an sie dachte, spürte ich ein unangenehmes, fast schmerzhaftes Ziehen in mir. So etwas wie Zahnschmerzen in der Seele. Mein Körper wusste mehr über mich als ich. Meinen veränderten Körper fand ich passend zu meinem Gefühl des Aus-der-Welt-gefallen-Seins. Ich las »Die Gesänge des Maldoror«, viel über Surrealismus, »Das Passagen-Werk« von Walter Benjamin, André Malraux’ »Imaginäres Museum«. Alles Schriften von Männern. An eine weibliche Identifikationsfigur für mich als Künstlerin kann ich mich nicht erinnern. Ich fand keine oder suchte sie vielleicht auch gar nicht, da es sie nicht gab.
Zusammen mit Elena und Thomas teilte ich dieses eine unverrückbare Erlebnis. Aber weil eine von uns tot war, konnten wir unser Überleben nicht feiern. Wir legten es nicht besonders darauf an, uns zu dritt zu treffen. Es war einfach zu viel, immer wieder erinnert zu werden. Thomas und ich gingen uns aus dem Weg. Er stellte kaum Fragen, war eigentlich wie immer. Mir war das recht so. Auch ich fragte ihn nicht. Ich hatte keine Erinnerung an ihn im Krankenhaus von Ústí. Für mich war er nie dort gewesen.
Elena wurde die enge, intime Freundin und gleichzeitig die Wissende, Mitleidende und Rätselhafte. Wir teilten die Trauer um Soraya, die für mich eine Unbekannte war, bis sie starb, und die nun in der Trauer konkret werden konnte. Elena wollte ein Buch über Soraya schreiben, woraus jedoch nie etwas wurde. Ihre Trauer um Soraya verband sich mit einem geheimnisumwobenen Toten, der Marcello hieß und den Elena geliebt hatte. Sie hatte schon so viel mehr erlebt als ich.
Elena führte mich ein in die Welt der Bücher. Sie machte mich vertraut mit dem Wissen, das ich suchte. Sie las russische und südamerikanische Literatur: Tolstoi, Dostojewski, Borges, Tschechow, Lispector, Turgenjew, Onetti. Ganz genau erinnere ich mich noch, wie beeindruckt sie von Bulgakows »Meister und Margarita« war. Mir schenkte sie »Rayuela« von Julio Cortázar. Allmählich baute sie sich eine kleine Bibliothek auf, die mich in ihrer Anlage beeindruckte und die sich später, als Elena plötzlich verschwand, in alle Winde zerstreute. Ich habe keines ihrer Bücher.
Elena hatte kaum Gepäck, als sie auf dem Sozius von Sorayas Motorrad aus dem Piemont über die Alpen kam. Sie hatte auch kein Geld und jobbte an den seltsamsten Stellen. Gelegenheitsarbeiten nahm sie an, wie sie kamen. Lange Zeit arbeitete sie als Putzfrau in einem Bordell in der Kantstraße. Sie erzählte mir von der Traurigkeit der asiatischen Prostituierten, die nur selten das Haus verließen und kaum Deutsch sprachen.
Im Waisenhaus war sie mit sechzig Kindern in einem Schlafsaal untergebracht gewesen. Pro Kind gab es einen Nachttisch, der, wenn man nicht aufpasste, geplündert wurde. Die Kinder hatten alle die gleichen Schuhe, auf die sie höllisch achtgeben mussten, denn auch die Schuhe wurden geklaut. Man nahm, was man haben konnte. Wer morgens seine Schuhe nicht mehr fand, wurde bestraft. Zu essen gab es immer nur Polenta und Bacalao, und nie war es genug. Wie als kleines Mädchen im Waisenhaus war Elena auch als erwachsene Frau immer hungrig. Sie wurde nie richtig satt. Als wir zusammenlebten, ging sie tagsüber heimlich zum Essen in die Lebensmittelabteilungen der Kaufhäuser oder in die Kantinen der Bezirksämter und Gerichte. Und ich wunderte mich, wie sie von unseren Abendessen so füllig werden konnte. Sie erzählte mir die Geschichte, dass es einmal in der Klosterspeisekammer Bananen gab, die von der kleinen Elena gefunden wurden. Sie stopfte sich damit voll. Als der Diebstahl entdeckt wurde, holte man die Kinder zusammen und stellte sie zur Rede. Alle schwiegen. Da baute sich die Nonne vor ihnen auf und sagte: »Wenn der Dieb eines Tages vor den Herrgott tritt, tut er das mit Bananen in den Händen.« Elena spielte das wundervoll nach, hob ihre Hände hoch, wie gefüllt mit prächtigen Bananen, und lachte wie irre.
Ich meinte, viel über Elena zu wissen, irrte mich aber. Sie blieb verschlossen und bewahrte sich einen Ort, an den ihr niemand folgen durfte. Wie ich später erfuhr, tat sie auch Dinge, von denen sie niemandem etwas sagte. Das ahnte ich und versuchte, es in den Porträts, die ich von ihr zeichnete, festzuhalten. Ihr Hintergrund war ein tiefes Dunkel, Schwarz und etwas Blau.
Elena und ich verbrachten gemeinsam den Sommer. Ich hatte ein Freisemester wegen des Unfalls. Wir verreisten nicht, sondern lebten zurückgezogen in meinem Zimmer. Unser einziges Ausflugsziel in diesem Sommer war die Gemäldegalerie in Dahlem. Staunend wanderten wir durch die Säle der Meister. Tintoretto, der gegen Ende seines Lebens an der Farbe verzweifelte. Tintoretto, wie ihn Cézanne beschrieben hat. Schlaflos, von seinen ruchlosen Träumen verzehrt und in Schweiß gebadet. Seine Tochter sitzt mit ihm in seinem purpur ausgeschlagenen Zimmer und spielt ihm stundenlang auf dem Cello vor. Diese Geschichte wollte Elena immer wieder hören, und ich erzählte sie ihr auf unseren langen Fahrten mit der U-Bahn von Kreuzberg in den grünen Süden der Stadt. Ich liebte El Greco. Sein schräger Strich, die flackernden Gesichter, sein grelles Magenta-Rot, knalliges Cyan-Blau, kreischendes Gelb. El Greco ist Übersteigerung, die Farben künstlich und kaum in der Natur vorhanden. Ich fragte mich, ob es einen Zusammenhang zwischen meiner Entdeckung des Manierismus, der Idiosynkrasie und meinem veränderten Körper gab.
Elena lehrte mich italienische Kinderreime. Scheinbar sinnlose Verse, die wunderschön klangen und die ich noch heute, so viele Jahre später, aus dem Gedächtnis aufsagen kann. Tagsüber ging ich in mein Studio. Meine Bildgründe für die Malerei behandelte ich nachlässig, rissige Kanten und deutliche Schmutzspuren störten mich nicht. Meine Malerei war tropfend, flüssig, zeichenhaft. Meine Beschäftigung mit dem Surrealismus hatte mich zu Max Ernst und zur afrikanischen Skulptur gebracht. Ich baute Figuren aus Drahtbügeln für Kopf und Schultern, darunter aufgespannt zwei harte gewellte Brotscheiben für die Lungenflügel. In mein Tagebuch notierte ich: »Die einzige Kunst ist die Revolte. Kunst ist Revolte. Kunst ist Befreiung.« In unserem rumpeligen Hof entstanden Figuren aus Holz, Teer, Brot und Schrott. Es waren provisorische Skulpturen des Übergangs. Sie blieben dort, wo sie waren, für sich selbst und ohne Betrachter. Totempfähle. Ich wollte Klarheit und liebte das kalte Meer. Während ich mitten im Hof arbeitete, streiften mich aus den Kellerlöchern Schwaden muffiger Luft, und aus unserem Haus dröhnten Sex Pistols, Beethoven, Gianna Nanini oder Malaria!. Ich war mir der Bedeutung dieser Figuren für mein Leben und für meine Kunst sehr bewusst, habe aber keine davon behalten und auch nicht ans Verkaufen gedacht. Bilder wurden verschenkt, Skulpturen gingen verloren. Ihr Verlust hat mich nie geschmerzt. Bis auf eine Skulptur sind alle weg.
Es war August, als ich eines frühen Morgens einen Spaziergang auf dem S-Bahngelände machen wollte. Ich sah das Hakenkreuz sofort. Schwarz, hässlich und bedrohlich war es fett auf die Holzplatten gesprüht, mit denen wir die Scheiben der »home bar« schützten. »Sie sind also zurückgekommen«, schoss es mir durch den Kopf. Alle aus dem Haus hatten mir von dem Neonazi-Überfall erzählt. Und alle — sogar Irene, Marianne und John — gaben zu, sie hätten Angst, dieser Überfall könne sich wiederholen. Der anfängliche Schock war vorüber, wir schliefen wieder im Seitenflügel, und Jan hatte die Stromfallen abgebaut. Von einem normalen Leben konnte trotzdem keine Rede sein. Bei den Nachtwachen waren wir jetzt zu zweit. Keine von uns, die nicht beim Blick in der Nacht auf die leere Straße oder auf den finsteren Hof die entsetzliche Ahnung beschlich, dass sie zurückkommen würden. Und nun waren sie von uns unbemerkt da gewesen und hatten unser Haus markiert. Das Hakenkreuz war eine Drohung. Den halben Tag waren wir damit beschäftigt, es zu übermalen. Dann hieß es, ich als Künstlerin solle mir was überlegen. Wir müssten ein Zeichen setzen. Sofort fiel mir Herbert Achternbuschs Film »Das letzte Loch« ein. Die Hauptfigur Nil leidet unter der »dreißigjährigen Brutalität Nachkriegsdeutschlands«. Jeden Tag trinkt er in zehn verschiedenen Wirtshäusern je vier Bier, um »sechs Millionen tote Juden« zu vergessen. Elena und ich kopierten im Copy-Shop das Filmstandbild von Postkartengröße auf ein mal zwei Meter hoch. Danach leimten wir die Fotokopien auf die Holzverblendung, sodass ein riesiges, grobkörniges Foto entstand, das man nicht ignorieren konnte. Zu sehen war eine Wirtshausszene, und darüber stand: »Bier ist gut für die Erinnerung. Woran sich erinnern?« Einige Nachbarn verstanden sofort, um was es ging. Manche grüßten nicht mehr, und andere forderten uns empört auf, diesen Schandfleck zu beseitigen. Wir dachten nicht daran.
Mit diesem Film-Still begann unsere seltsame Anverwandlung an unseren Hausbesitzer Aaron Rosenblatt. Seit dem Morgen unserer Besetzung wussten wir, dass das Haus einem Juden gehörte. Unser Jahrestag der Besetzung fiel mit dem der nationalsozialistischen Machtübernahme zusammen. John hängte damals unverdrossen das »Enteignet«-Transparent aus dem Fenster und wurde dafür vor allem von Uli und Clarissa angemacht. Ihr Streit wurde nicht ausgetragen. Das Transparent hatte irgendwann seinen Dienst getan und wurde abgehängt. Den jüdischen Hausbesitzer vergaßen wir wieder. Und zwar so lange, bis die Nazis ihr Hakenkreuz hinterließen und bis die Frage »Verhandeln oder nicht?« immer drängender wurde. Es war nämlich ein Unterschied, ob man es mit einer der großen Wohnungsbaugesellschaften oder mit einem Privatbesitzer zu tun hatte. Wir konnten uns nicht zusammenschließen, sondern mussten allein unseren Weg finden.
Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, aber es ergab sich wie von selbst, dass ich fast jede Freitagnacht mit Marianne, Elena und Lynn in der »home bar« zusammensaß. Wir tranken viel Wein. Unser Lieblingsthema war Aaron Rosenblatt. Nachdem wir als eine Art Voodoo-Zauber das Film-Still an der Fassade angebracht hatten, drehte sich alles um die Frage, wer dieser Aaron Rosenblatt eigentlich sei, warum er das Haus hat leer stehen lassen und was er von uns hält. Wir hörten das Flüstern der Nachbarn auf der Straße. Sie kamen näher, senkten die Stimme: »Er ist Jude … Herr Rosenblatt lässt das Haus leer stehen, um uns zu ärgern. Es ist für ihn ein Mahnmal der deutschen Geschichte. Aber was haben wir damit zu tun? Ein Glück, dass ihr gekommen seid. Jetzt rutscht man wenigstens nicht mehr auf der Taubenscheiße aus.« Zu ihrer Freude über die Beseitigung der Taubenscheiße mischte sich unverhohlen ihre Freude über die Beseitigung des Mahnmals, was jedoch nichts daran änderte, dass sie uns verachteten und jederzeit ans Messer geliefert hätten. Mit unserem Film-Still an der Fassade hatten wir diese unangenehme Komplizenschaft, in die sie uns zwangen, aufgekündigt und ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Lynn, Marianne und ich fanden, das war nicht genug. Wir waren der festen Überzeugung, wir sollten Kontakt mit Rosenblatt aufnehmen. Unser Interesse an Aaron Rosenblatt teilten die anderen nicht. Die meisten im Haus waren zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, als dass sie sich da reingehängt hätten. John zeigte uns den Vogel, Uli musste studieren, Irene war eifersüchtig wegen Marianne, Thomas hielt sich wie immer raus, und für Rabe galt die Regel: »Hausbesitzerschwein bleibt Hausbesitzerschwein.« War ihm doch egal, ob der im KZ seine Familie verloren hat.
Die ablehnenden Reaktionen bestärkten uns in unserer Haltung. Wir phantasierten uns in eine Art Geistesverwandtschaft mit Aaron Rosenblatt hinein. Rückblickend kann ich mir das nur so erklären, dass wir insgeheim glaubten, wir gehörten wegen des Nazi-Überfalls zusammen. Also die abstruse Vorstellung, wir würden in einem Boot sitzen. Der Jude und Holocaust-Überlebende mit den jungen Deutschen. Unsere gemeinsamen Feinde waren die Nazis und die Nachbarn, die wie 1933 gegen Juden, Linke, Schwule und Andersdenkende agierten. Man kann es nicht anders sagen, aber wir bastelten uns einen Juden. Ich war die einzige von uns, die überhaupt Juden kannte. Aber ich erzählte nichts von Dr. Lípa und Dr. Maly aus Ústí, was wahrscheinlich auch daran lag, dass ich sie gar nicht in Zusammenhang mit Aaron Rosenblatt brachte.
Irgendwoher bekamen wir die Information, Rosenblatt besitze über zwanzig Häuser in Berlin. Wir besorgten uns eine Liste dieser Immobilien und begannen sie abzuklappern. Es waren allesamt große Charlottenburger und Wilmersdorfer Mietshäuser aus der Gründerzeit. Ihr Zustand war sehr unterschiedlich, aber keines davon stand leer. Lynn versuchte über Rosenblatts Mieter mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Manche Häuser ließ er verkommen, für andere sorgte er vorbildlich. Er vermietete auch an Wohngemeinschaften, was wir gleich als Indiz seiner politischen Fortschrittlichkeit interpretierten. Von einer älteren Dame, die Rosenblatt persönlich kannte und die seit vielen Jahren seine Mieterin war, erfuhr Lynn, dass Aaron Rosenblatt der einzige in seiner Familie war, der die Nazizeit überlebt hatte. Alle anderen waren im Konzentrationslager umgebracht worden. Damit glaubten wir eine Erklärung dafür zu haben, warum er unser Haus seit Kriegsende hatte leer stehen lassen. Mussten wir diesen Leerstand nicht akzeptieren? War es wichtiger, dass das Haus bewohnt wird, oder war es wichtiger, es als Mahnmal für die Verbrechen der Nazis bestehen zu lassen? Welche Moral galt mehr — die des Holocaust-Überlebenden oder die der Hausbesetzer? Können wir unter diesen Umständen das Haus weiterhin besetzt halten? Auf welcher Seite stehen wir? Auf der Seite der Antisemiten oder auf der Seite des Juden? Machen wir mit unserer Besetzung nicht gemeinsame Sache mit unseren Fascho-Nachbarn? Wie kann eine antifaschistische Haltung dazu aussehen? Haben wir als Nachfahren der Täter nicht eine besondere Verpflichtung den Opfern gegenüber? Diese Diskussion war in unserem Haus nicht zu führen, und in den Räten hielten sie uns für meschugge. Einer, der sein Haus jahrelang nicht vermietet, ist ein Spekulant. Spekulanten sind die natürlichen Feinde der Hausbesetzer. Dazu gehören auch Juden. »Vor allem Juden. Schau dir doch mal Frankfurt an«, rief einer im Blockrat laut. Spekulanten müssen enteignet werden. Egal, welche Geschichte sie haben. Die Enteignung des dringend benötigten Wohnraums war wichtiger als Auschwitz. Das war die Linie, Ende der Diskussion. Insgeheim verfluchte ich es, dass wir überhaupt angefangen hatten, uns für Rosenblatt zu interessieren. Würden wir nichts über ihn wissen, dann hätten wir uns diesen Seiltanz aus Verstehen und Nicht-entschuldigen-Wollen sparen können. Aber jetzt wollte ich dranbleiben.
In der Fasanenstraße steht an der Stelle der in der Pogromnacht 1938 von den Nazis niedergebrannten großen Synagoge das Jüdische Gemeindehaus. Dort gibt es eine Bibliothek. Ich kannte den Bau nur von außen. Die strengen Einlasskontrollen schockierten mich. Was hast du dir eigentlich gedacht?, fragte ich mich und spürte, wie unbehaglich mir zumute war. An den Arbeitstischen im Bibliotheksraum saßen einige wenige Besucher. Auf der Straße hatte ich noch nie jemanden gesehen, der sich durch seine Kleidung als Jude zu erkennen gab. Jedenfalls nicht in Deutschland. Doch hier waren sie: Männer mit Bart in durchgehend schwarzer Kleidung. Manche hatten einen Stoffgürtel um die Taille und manche Schläfenlocken. Sie saßen still und konzentriert über die Bücher gebeugt. Ich fühlte mich vollkommen fehl am Platz und war froh, als ich am Fenster zwei junge Frauen sitzen sah. Dennoch traute ich mich nicht, den Bibliothekar anzusprechen, und verkroch mich zwischen den Regalen. Es gab klassische Judaica, Bücher über Philosophie, jüdisches Denken, Literatur, Kunst, Zionismus und den Staat Israel, Antisemitismus und Verfolgung, die Geschichte der Shoa. Wie sollte ich hier je etwas über Aaron Rosenblatt finden? Nachdem ich ohne Ergebnis in einigen Büchern gesucht und geblättert hatte, fasste ich mir ein Herz und wandte mich an den Bibliothekar. Ich fragte ihn, aus welchen Büchern ich etwas über die Familie Rosenblatt erfahren könnte, die im Konzentrationslager ermordet worden sei. Ob es dazu vielleicht irgendwelche Unterlagen gebe. Er schaute mich ernst an, mir rauschte es laut in den Ohren. Von seiner Antwort hörte ich nur »sechs Millionen Tote«. Rot vor Scham drehte ich mich um und stürzte davon. Ich erzählte niemandem von meinem verunglückten Besuch im Jüdischen Gemeindehaus. Seither bin ich nicht mehr dort gewesen.
»Es gibt keine andere Lösung, wir müssen Rosenblatt persönlich sprechen. Das ist doch ganz einfach. Er wohnt in Berlin, und wir gehen bei ihm vorbei. Wir müssen ihm sagen, dass wir nicht wie unsere Eltern, Großeltern und die anderen Nazi-Deutschen sind. Vielleicht überlässt er uns dann das Haus«, beendete Lynn, die immer mehr wie Patti Smith aussah, unsere Diskussion ungewohnt forsch. Sie schlug vor, wir sollten Rosenblatt besuchen. Für Marianne war das ein Problem. Ihre Position Rosenblatt gegenüber war in ihrer Küche sehr umstritten. Während John und seine Gefährten unser Vorgehen kategorisch ablehnten, schien Irene kompromissbereiter. Keine Ahnung, wie Marianne das gelungen war, aber Irene setzte sich eines Freitagabends zu uns an den Tisch, bestellte Wein und erklärte fröhlich, sie werde uns begleiten. Zwar glaube sie nicht, dass das was bringen werde, aber versuchen könne man es. Vielleicht hatte Irene die Rolle der toughen Revolutionärin über und suchte die Abwechslung. Was auch immer ihr Grund gewesen war, wir waren froh über die Verstärkung. Im Laufe der Nacht kam uns die Idee, Rosenblatt könne an seinem Mahnmal festhalten, wenn er uns als Bewohner akzeptieren würde. Die meisten Nachbarn ärgerten sich über uns. Sie mochten nicht, wie wir aussahen, wie wir lebten, fanden die »home bar« schrecklich und schimpften auf unsere Transparente. Die Polizeieinsätze in ihrer Straße empfanden sie als Ruhestörung. Wir könnten Rosenblatt versprechen, uns in dieser Richtung noch mehr einfallen zu lassen. Unser Transparent »Es ist besser, unsere Jugend besetzt leere Häuser als fremde Länder« würde ihm doch bestimmt gefallen. Wir malten uns aus, wie er uns besuchen kommen würde. Die Spießerfaschonachbarn wären bestimmt entsetzt, wenn sie mitbekommen würden, dass »der Jude« und »die Hausbesetzer« sich zusammengeschlossen hätten. Marianne schlug vor, bei dieser Gelegenheit »Deutschland muss sterben, damit wir leben können« aufzulegen. Man müsste die Anlage so laut aufdrehen, dass das Lied durch die Straße dröhnte und sie es mit der Angst zu tun bekämen. Das mit Rosenblatt erträumte Arrangement wäre eine elegante Lösung des Dilemmas »Verhandeln oder nicht verhandeln«. Wir würden dadurch Nichtverhandler bleiben, denn es ging nicht um Mietzahlungen oder Erbpachtverträge, sondern um widerständiges Wohnen. Das Haus bliebe als Mahnmal gegen die Nazis erhalten. Das würden wir Rosenblatt garantieren. Wir fünf Frauen fanden das ziemlich clever.
Für den Besuch bei Rosenblatt waren wir wie üblich ganz in Schwarz angezogen. Elena, die schwierigen Situationen gerne aus dem Weg ging, wollte nicht mitkommen. Seine Adresse war in Wilmersdorf in der Nähe des Südwestkorsos, eine noble Gegend. Wir waren dort nie gewesen und kannten auch niemanden, der dort wohnte. Das Haus, in dem Rosenblatt lebte, war einer der großen repräsentativen Altbauten im wilhelminischen Stil. Hohe Fenster, ein Vorgarten mit dunkelrot blühenden Anemonen, tief liegende Balkons, Morgensonne. Lynn fiel auf, dass an keinem der Fenster Gardinen hingen. Auch die Balkons waren unbepflanzt und wirkten wie verlassen. Mit einem flauen Gefühl im Magen tänzelten wir die Stufen zur Haustür hoch. Auf dem langen Klingeltableau standen nur zwei Namen: Aaron Rosenblatt und Miriam Goldstein. Von einer Frau war bislang nicht die Rede gewesen. Ratlos schauten wir einander an. Unsere Erwartungen waren so hoch, dass wir unmöglich umkehren konnten. Irene drückte beherzt den Klingelknopf. Ohne Nachfrage antwortete der Türsummer. Wir waren drin. Die Namensschilder neben den Wohnungstüren waren unbeschrieben. Wohnte hier überhaupt jemand? Unsere Schritte hallten wider in dem großen Treppenhaus. Im obersten Stockwerk angekommen, kam es zu einem Szenenwechsel. Plötzlich war lautes Schreibmaschinengeklapper zu hören. Die Tür zu einem Büroraum war nur angelehnt. Darin saß an einer Schreibmaschine eine Brünette Mitte vierzig mit hochtoupierten Haaren. Ihre dunklen Augen musterten uns abschätzig. Sie wirkte, als ob sie auf uns gewartet hätte. Weil sie nichts sagte, brachte Irene unser Anliegen vor: »Wir wollen Aaron Rosenblatt sprechen. Wir kommen aus dem besetzten Haus.« In diesem Moment betrat ein junger Mann mit auffälliger Frisur den Raum. Scharf rasierte Koteletten, schwarzes, stufig kurz geschnittenes Haar und ein Pony, der ihm in die Augen fiel. Sah niedlich aus, wie ein Zottelhund. Das konnte unmöglich Aaron Rosenblatt sein. Er trug ein gelbes Hemd, eine braune Lederkrawatte und darüber einen grün-gelb gemusterten Blouson mit breit gepolsterten Schultern. »Popper«, zischte Irene uns zu. Das mit dem niedlich hatte sich schnell erledigt. Weil wir zehn Meter gegen den Wind als Besetzerpunks zu erkennen waren, musste er nicht lange nachdenken. »Raus! Und zwar dalli, bevor ich mich vergesse. Ich rufe jetzt die Polizei«, sagte er laut und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Tür. Dabei blähten sich seine Schulterpolster zu beeindruckender Größe auf. Wahrscheinlich kam er sich wie Superman vor. Die Brünette, weiterhin still, griff schon mal zum Hörer. »Dalli? Wie spricht der denn?«, überlegte ich noch, als wie aus dem Nichts ein zweiter Mann auftauchte.
Klein, weiße Haare, grauer Anzug, weißes Hemd, Krawatte, glänzende Schuhe. Lynn trat auf ihn zu, schaute ihn aus großen Augen verwundert an und sagte: »Sind Sie der Rosenblatt?« Nickte er, lächelte er, was für einen Gesichtsausdruck hatte er? Keine von uns wusste das hinterher zu sagen. Wenn ich mich heute daran zu erinnern versuche, wie Aaron Rosenblatt ausgesehen hat, so ist das wie Heinz Berggruen, wie Yitzhak Rabin, wie Shimon Stein, wie Michael Degen, wie Michel Friedman. Mit anderen Worten: Ich weiß es nicht wirklich. So plötzlich wie er aufgetaucht war, so plötzlich trat er wieder ab. Wortlos. Lynn lief ihm hinterher. Er ging zu einem Aufzug. Wir anderen hörten, wie sie aufgeregt sagte: »Wir kommen aus dem besetzten Haus. Wir wollen mit Ihnen sprechen.« Darauf antwortete Aaron Rosenblatt ruhig: »Lassen Sie sich einen Termin geben«, drückte auf den Fahrstuhlknopf und schwebte davon.
Atemlos hatten der Popper und die Brünette mit uns zusammen die Szene durch die offene Tür verfolgt. Kaum war von Rosenblatt nichts mehr zu hören und zu sehen, spielte sich der Popper wieder auf. »Verlasst sofort das Haus, oder wollt ihr noch eine weitere Anzeige wegen Hausfriedensbruch am Hals haben?« Irene konterte cool, dass wir nicht per Du seien und wir im Übrigen, wie er gehört habe, einen Termin mit Rosenblatt wollten. Wie zu erwarten, wurde daraus nichts. Die Brünette reichte ihrem Popperchef den Hörer. Bevor er sein Anliegen der Polizei vortragen konnte, waren wir auf und davon.
Zu Hause erzählten wir nicht viel. Zuckten auf Nachfragen mit den Schultern. Uns war klar, dass sich die Sache erledigt hatte. Der Popper würde uns nie und nimmer einen Termin geben. Und ob Rosenblatt auf diesen Termin drängen würde, war mehr als ungewiss. Die Politik, die er mit seinen Häusern verfolgte, blieb unverständlich und widersprüchlich. Irene und Marianne befanden sich wieder voll auf Linie und erklärten, John und die Räte hätten recht gehabt. Rosenblatt war ein Spekulant und gehörte enteignet. Lynn und ich jedoch glaubten noch immer daran, dass er auf unserer Seite war. Doch uns fehlten dafür die Beweise.
Um acht Uhr morgens schlug der erste Polizeitrupp lautstark die Tür am Hintereingang ein. Die Megaphondurchsage kam hinterher. Marianne und Michael, die Nachtwachen, waren eingeschlafen und hatten uns nicht gewarnt. Ungewohnt höflich wünschten sie uns einen »Guten Morgen«. Angeblich schützten sie nur die Mitarbeiter der Bewag, die herauszufinden versuchten, wie und wo wir den Strom klauten. Der zweite Trupp agierte dann wie gewohnt: zum Fotografieren an die Wand, Fingerabdrücke nehmen, Personalien feststellen und dazu möglichst dämliche Sprüche klopfen. Ich war froh, dass Elena nicht über Nacht geblieben war. Diese Prozedur hätte sie nicht ausgehalten.
Alles ging reibungslos ineinander über. Die Suche nach Beweisen für den vermuteten Stromdiebstahl wurde zur Durchsuchung, und aus der Durchsuchung wurde die Räumung. Vier Stunden mussten wir dicht gedrängt, ohne Wasser und Brot, unter strenger Bewachung im Gefangenentransporter ausharren. John war knapp vor einer Panikattacke. Wir sahen nicht, was draußen vor sich ging. Sie sagten uns während der vier Stunden nicht, was sie mit uns vorhatten. Schließlich ließ man uns frei. Wie ein verlorenes Häuflein standen wir auf dem Bürgersteig vor unserem Haus zusammen. Dann erklärte der Einsatzleiter in bestem Bürokratendeutsch: »Obwohl die baupolizeiliche Sperrung nicht zu einer Räumung hätte führen müssen, konnte man den Zugriff des Eigentümers nicht abwenden.« Da stand er auch schon: der Popper, der sich als der vom Eigentümer Aaron Rosenblatt bevollmächtigte Verwalter entpuppte. Wieder hatte er seinen grüngelb gemusterten Blouson an. Er schien sich ziemlich unwohl zu fühlen. Der Einsatzleiter und er schoben die Verantwortung für die Räumung jeweils dem anderen in die Schuhe. Wir glotzten in die Luft. Das war es wohl. 28 Obdachlose stehen vor ihrem geräumten Haus. Mit dem Satz »Ich kann Ihnen auch nicht helfen« hechtete der Popper überstürzt in seinen schwarzen Mercedes und brauste davon. Irene merkte sich die Autonummer.
Was folgte, war banal. Der Einsatzleiter erklärte uns, dass wir heute noch vier und morgen fünf Stunden Zeit haben würden, um unser Eigentum aus dem Haus zu schaffen. Es gab keinen Weg zurück. Ein überschaubarer Trupp Unterstützer, darunter auch einflussreiche Häuptlinge anderer Häuser, stand hilflos um uns herum. Aus offenen Fenstern verfolgten die Nachbarn neugierig unsere Vertreibung, manche mit Fernglas. Es gibt Fotos dieser Szenen der Räumung. Ich stehe in meinem Alpakapullover inmitten von Polizisten und Freunden. Deutlich ist meine rote Kehlkopfnarbe zu erkennen. Stolz und kriegerisch sehe ich aus. Wir alle sehen kriegerisch und stolz aus. »Glaubt bloß nicht, dass wir heulen«, rief Irene laut den Bullen zu.
Ein letzter Versuch: Lynn und ich eilen zur Bezirksverordnetenversammlung. Stehen vor den Volksvertretern wie die armen Vettern und fordern Gnade. Der Dezernent für Soziales konstatiert ein »menschliches Problem«. In zierlichen Buchstaben schreibt er die Adresse eines Obdachlosenasyls auf und reicht den Zettel an uns weiter. »Obdachlose gehören ins Obdachlosenasyl«, ruft uns der Vertreter der Jungen Union hämisch hinterher.
Wir kommen in einem in der Nähe gelegenen Jugendzentrum unter. Dort schlafen wir alle zusammen in einem großen Saal und ziehen am nächsten Morgen los, um unsere Habe zu holen. Das war eine bittere und gemeine Erfahrung. Die Müllcontainer sind bereits vor dem Haus platziert. Die Bullen begleiten uns durch die Zimmer und passen genau auf, was wir mitnehmen. Die Fenster der »home bar« waren zugenagelt. Bauarbeiter standen im Hof, warteten ab und rauchten. Richtig fies. John gelingt es, mehrere Fensterscheiben einzuschlagen. Der Wind pfeift durch das menschenleere Haus. Ich packe meine Skulpturen, die Bilder, die Bücher, meine Kleider und die Matratze auf einen Leiterwagen. Das Chagall-Bild lasse ich hängen.