Wir landeten im Abseits und waren mittendrin. Auf einmal gab es keine Farben mehr. Alles in der Erinnerung ist von einem tiefen Schwarz und einem schimmelfarbenen Weiß. Nur die Fotos, auf denen Gesichter, Häuser und Straßen konturlos ineinander übergehen, sind von einem stumpfen, hellen Grau.
Wir zogen tiefer hinein nach Kreuzberg. Ein Haus — das dritte vor der Mauer — wurde unser neues Zuhause. Das Vorderhaus war von den Erstbesetzern verlassen worden. Sie hatten sich zerstritten, zogen irgendwohin und ließen ein leeres Haus zurück. Ein Übriggebliebener, ein Mieter aus dem obersten Stock, fühlte sich einsam und wandte sich an die Blockräte. So bekamen wir diesen heißen Tipp. Der Mieter sagte, wir könnten sofort einziehen, und so machten wir uns gleich auf den Weg. Raus aus unserem Notquartier, hinein am frühen Morgen in das Haus an der Mauer. Abbruch ist auch Aufbruch und Umbruch, meinte Luise. Einige hatten genug von diesem anstrengenden Leben und verabschiedeten sich. Zogen zurück in Miete. 21 Frauen und Männer, zwei Katzen und fünf Leiterwagen auf dem Weg zum Kottbusser Tor. Unser Besitz passte in einige Plastiktüten. Das Bettzeug nahmen wir über die Schulter. Kreuzberger Umzug. Unsere wenigen Möbel waren im geräumten Haus geblieben. Mit unserer spärlichen Habe lebten wir 21 dicht gedrängt in drei Zimmern mit Küche und Außentoilette. Von den ehemaligen Besetzern erbten wir einen großen Tisch und eine bunte Mischung an Stühlen. Geschirr und Töpfe kauften wir beim Trödler, Besteck hatten wir mitgenommen. Überall lagen Matratzen herum, und auch die Küche diente mit einem Hochbett als Nachtlager. Stimmung wie im vorrevolutionären Russland. Kam man spät nach Hause, war immer noch einer wach zum Diskutieren.
Die Uneinigkeit der früheren Besetzer war nirgends zu übersehen. Sie hatten ihre Energie für den Streit aufgebraucht und das Haus dabei vergessen. Die meisten Türen und auch viele Bodendielen waren verheizt worden. Ein Stockwerk war den Hunden vorbehalten gewesen. Weil nur selten einer mit ihnen vor die Tür ging, hatten sie die Schüttung vollgepisst. Es stank bestialisch.
Im fünften Stock wohnte links unser Retter und rechts eine türkische Familie. Zu fünft teilten sie sich eine kleine Zweizimmerwohnung. Der Mann trug immer einen dunklen Anzug. Wir vermuteten, dass er sich die Haare und den Schnurrbart färbte, denn beides glänzte wie mit schwarzer Schuhcreme angemalt. Seine Frau hatte ein rundes, hübsches Gesicht und trug Kopftuch, was damals eher eine Seltenheit in Kreuzberg war. Man sah sie nur zu zweit das Haus verlassen. Dreimal die Woche gingen sie einkaufen. Der Mann schob mit der einen Hand einen kleinen Wagen, und an der anderen Hand hielt er seine Frau. Sie wirkten sehr verliebt. Der Mann und die Frau gingen offensichtlich nicht arbeiten und verbrachten ihre Zeit zusammen in der kleinen Wohnung. Bei uns wurde nur selten geputzt, und Hausschuhe besaßen wir nicht, sodass wir laut mit unseren Stiefeln durch das Haus lärmten. Unsere türkischen Nachbarn zogen vor der Tür ihrer blitzsauberen Wohnung ihre Schuhe aus. Mit stoischer Ruhe ignorierten sie den vermüllten Hinterhof, das verwahrloste Treppenhaus, die radikalen Parolen auf den Transparenten und die verbarrikadierte Haustür. Das nahmen sie hin, es interessierte sie nicht. Wir lebten in friedlicher Koexistenz und grüßten einander freundlich. Neugierig beobachteten dagegen ihre Töchter unser Zusammenleben. Ab und an kam eine von ihnen vorbei, um uns von ihren Plänen zu erzählen. Alle drei waren gute Schülerinnen. Sie wollten studieren, auf keinen Fall zurück in die Türkei, kein Kopftuch tragen und unbedingt raus aus Kreuzberg. Wer hier bleibt, habe keine Chance, meinten die jungen Türkinnen übereinstimmend. Wir schauten uns an und staunten.
Schnurgerade führte unsere Straße auf die Mauer zu. Wir wohnten im letzten, kurzen Abschnitt direkt vor der Mauer. Eine Art Sackgasse war dort entstanden. Zwei Straßenschilder, die es exklusiv nur hier gab, wiesen darauf hin: Auf dem einen stand »Notweg« und auf dem anderen »Noch 50 m bis zur Schandmauer«. Über den Todesstreifen hinweg ging die Straße auf der anderen Seite weiter. Die Straßenlaternen waren verschieden, der Straßenname änderte sich nicht. Der Abschnitt zwischen unserem Haus und der Mauer war Parkplatz und türkische Autowerkstatt. Immer lag einer unterm Auto und schraubte daran herum, während die anderen um ihn herumstanden und ihre Kommentare abgaben. Vom Fensterbrett aus sahen wir genau auf den Todesstreifen. Darüber hinaus konnte man zusehen, wie drüben auf der anderen Seite der Straße in Ostberlin jemand seinen Hund ausführte. Wir winkten einander nie zu. Da drüben lief ein anderer Film ab. Wir fühlten uns nicht als Nachbarn oder gar Gesamtdeutsche.
Der ehemalige Postzustellbezirk Südost 36 — abgekürzt SO 36 — bildete an drei Seiten eine Grenze zu Ostberlin. Dazu gehörte auch die nahe gelegene Spree. Das Wasser war trüb, die Stimmung apokalyptisch. »You Are Leaving The American Sector« warnten große, am Westberliner Ufer aufgestellte Schilder. Hier gab es keine Mauer. Das Ufer gehörte zum kapitalistischen Westen und das Wasser zum sozialistischen Osten. Boote der Grenzpatrouillen kreuzten im Wasser.
Unsere Straße befand sich in Laufweite zum ehemaligen Herzen der Stadt, zum Alexanderplatz. Die Schlussoffensive der Roten Armee hatte sich dort in der Mitte der Stadt abgespielt. Hunderttausende Berliner hielten sich in Kellern und Bunkern versteckt, während alte Männer, Reste der Waffen-SS und Hitlerjungen glaubten, das »Tausendjährige Reich« gegen den Angriff von zweieinhalb Millionen Rotarmisten verteidigen zu können. Der Krieg war fast vierzig Jahre vorbei, doch der Nachhall davon war noch spürbar. Diese Energien waren nicht einfach verschwunden. So kam es vor, dass Fremde anklopften und darum baten, sich den Hof anschauen zu dürfen. Dann erzählten sie, dass sie im Keller des Hinterhauses die letzten Kriegsjahre verbracht hätten. Der Hof war ihr Garten gewesen, und im zweiten Hinterhof hielten sie Schweine. Es gab auch ein Pferd, und im Hochparterre rechts war eine Arbeiterkneipe gewesen. »Dort ging es hoch her, kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Die Kneipe hieß ›Zur Mitte‹. Wahrscheinlich weil der Alex so nah war.« Der Fußballplatz an der Ecke, auf dem jetzt die türkischen Jungs kickten, sei ein Gemüsefeld gewesen. Irgendwann waren sie weggezogen, lebten schon lange nicht mehr in Kreuzberg.
Die Verwandtschaft unserer Berliner Mitbesetzer blieb weg. So, als ob sie fürchteten, die Mauer könnte sich auftun und sie würden sich ohne ihr Zutun auf der anderen Seite wiederfinden. Ihr Zuhause war in den Vorstädten. Der Geschmack der Mietskaserne, mit Kachelofen und Außentoilette, war durch das Flair eines sozialen Wohnungsbaus mit Fernwärme und Nasszelle ersetzt worden. In ihren Neubauten verspürten sie kein Heimweh nach Zilles Milljöh und den lichtarmen Hinterhöfen Kreuzbergs oder Neuköllns. Bei uns »gelernten Berlinern« war das anders. Das neue Quartier fanden wir schlichtweg großartig. Eine Steinwüste aus Ruinen. Ein verslumtes Gebiet, vollgestopft mit Hinterhofelend: Alkohol, Kälte, Gewalt, Armut, Einsamkeit, Drogen. Im Winter, Herbst und Frühjahr roch es durchdringend nach Kohle und im Sommer nach Hundekacke. Wenn man Glück hatte, war der Berliner Winter Mitte Mai vorbei. Von der Mischung aus Wohnen und Arbeiten, der »Kreuzberger Mischung«, war nicht viel übrig geblieben. Handwerker, Gewerbetreibende und Händler waren bereits in den sechziger Jahren weggezogen. Private Investoren, senatseigene Wohnungsbaugesellschaften und sozialdemokratisch gesinnte Städteplaner machten sich mit vereinten Kräften daran, die Gründerzeithäuser, die von den Bomben verschont geblieben waren, dem Erdboden gleichzumachen. Steuerabschreibung, Berlinförderungsgesetz, Zukunftsinvestitionsprogramm, Kapitalanlage, Förderung von Abrissmaßnahmen bei anschließender Neubebauung waren ihre Instrumente dazu. Für den Fall der Wiedervereinigung, an die keiner glaubte, plante der Senat schon einmal eine Autobahn von West nach Ost und von Nord nach Süd. Das Autobahnkreuz sollte am Oranienplatz sein. Ringsum war der komplette Abriss und der Bau von Neubausiedlungen vorgesehen. Das Neue Kreuzberger Zentrum, das sogenannte NKZ, dieser seltsame zwölfgeschossige Gebäuderiegel am Kottbusser Tor, wurde für seine Autobahnnähe entworfen. Die nackte Brandmauer mit den schießschartenähnlichen Fenstern auf der dem Platz abgewandten Seite erinnert noch heute an diese wahnwitzigen Pläne. Durch die kleinen Fenster hätte man auf die Autobahn geschaut. In den bereits dem Autobahnbau geopferten, entmieteten Häusern, die nur noch schraffiert in den Stadtplänen vorkamen und die man verrotten ließ, durften bis zu deren Abriss Türken wohnen. Anderswo hatten sie wenig Chancen unterzukommen.
Die alten Häuser und damit die Blockstruktur Kreuzbergs waren zur Zerstörung freigegeben. An ihrer Stelle sollten futuristische Wohnmaschinen entstehen, durchzogen von der Stadtautobahn. »Funktionsschwächebehebung« nannte man diese Vernichtung von Wohnraum. Der großflächige Aufkauf ganzer Häuserzeilen durch Immobilienspekulanten war die Folge. Um ihre Rendite zu steigern, arbeiteten sie mit allen fiesen Tricks. Wenn jahrelange Vernachlässigung nicht ausreichte, um die Abbruchgenehmigung durchzusetzen oder Mieter zu vertreiben, schickten sie ihre Schlägertrupps. Sie deckten Dächer ab, zerstörten Kachelöfen, demolierten Abwasserrohre, legten Brände und zerschlugen Scheiben, um den Verfall zu beschleunigen. Anfang der achtziger Jahre gab es fast hunderttausend Wohnungssuchende und Hunderte leer stehende Häuser. Die Investoren verdienten prächtig mit dem Aufkauf, dem Leerstand, dem Abriss und der Modernisierung von Häusern. In den Neubauten oder modernisierten Häusern verdoppelte bis verdreifachte sich die Miete. Der Senat sah einfach zu und stellte Wohnberechtigungsscheine mit Dringlichkeit aus. Doch die nützten wenig. Es gab keinen bezahlbaren Wohnraum. Die noch nicht entmieteten Häuser waren eigentlich Löcher. Dort wohnten diejenigen, die man sonst nirgendwo haben wollte. Die Sozialhilfeempfänger, die Alten mit kleiner Rente, türkische Arbeiterfamilien, Junkies, Arbeitslose, Säufer. Denen schlossen wir uns an, den Außenseitern ohne Zukunft.
Unser einziger Luxus war das winzig kleine Badezimmer mit Badewanne, Durchlauferhitzer und Blick in den Himmel. Kaum waren wir eingezogen, hatte Jan zuerst den Durchlauferhitzer und dann den Stromklau organisiert. Weil wir den Strom nicht bezahlten, lag immer einer in der dampfenden Wanne, manchmal auch Fremde, denn es hatte sich schnell herumgesprochen, dass man bei uns prima umsonst baden konnte. Wie bereits im Haus bei den Gleisen führten wir eine Materialkasse. Jeder, der dauerhaft im Haus wohnte, sollte zwanzig D-Mark pro Monat einzahlen. Von diesem Geld sollte Material zur Instandsetzung gekauft werden. Die Zahlungsmoral war denkbar schlecht. Lars, der das Geld einsammelte, mahnte und klagte, doch das verfing nicht. Die Punks aus dem Hinterhaus zeigten keinerlei Interesse an Veränderungen. Sie warfen weiterhin den Müll am liebsten aus dem Fenster und teilten sich ihre Wohnung mit Hühnern und Hunden.