In SO 36 habe ich mich gern verirrt. Es hat lange gedauert, bis ich hinter dem Stahlbetonskelettbau mit Sichtmauern aus großflächigen Kalksteinplatten von Sankt Michael ohne Kirchturm den Alfred-Döblin-Platz entdeckt habe, der so gar nicht nach Alexanderplatz aussah, aber mich trotzdem in so ein Fassbinder-Gefühl hineingleiten ließ, dass ich mich nur auf meine Sehnsucht verlassen müsste und mir alles gelingen könnte. Ein anderes Mal traf ich vor dem Fotoatelier von Charlotte Mathesie in der Adalbertstraße 11 eine unglaubliche Rote aus Landshut, mit der ich mich ewig über die Hundebildnisse dieser legendären Fotografin unterhielt. Danach habe ich die Rote tagelang in dem Gebiet zwischen Mauer und Kanal gesucht. Ihr Niederbayerisch ist mir heute noch im Ohr. Oft bin ich am Maybachufer entlangspaziert und habe einen halben Sommerabend ganz allein auf einer Bank zugebracht und vor mich hin geträumt und mir vorgestellt, dass ich jetzt mein ganzes Leben in Berlin verbringen würde. Heute glaube ich, dass ich mich damals zu so einem Walter-Benjamin-Menschen gemacht habe, nämlich alles, woran mir liegt, von weitem auf mich zukommen zu sehen.
SO 36 erkunden hieß für mich die Welt erkunden. Die wichtigste Lebenslinie des Bezirks war die Oranienstraße. Am Moritzplatz hatten Salomé, Helmut Middendorf, Bernd Zimmer, Rainer Fetting und all die anderen bis 1981 ihre Künstlerselbsthilfegalerie betrieben, als Alibifrauen waren Anne Jud und Elvira Bach dabei. Die malten alle große Bilder mit grellen Farben, groben Figuren und derben Themen, bei denen der ganze Körper mit allen Öffnungen und Ausscheidungen und der Pinsel als Körperorgan zum Einsatz kamen. Robert besaß den Band »Hunger nach Bildern« von Wolfgang Max Faust, der 1982 herausgekommen war. Da waren Bilder einer rabiaten männlichen Intimität zu sehen, die die Ungezwungenheit unseres Hausbesetzerdaseins mit offenen Funktionsräumen und mehr oder minder Standardsex ganz schön auf die Probe stellten. Für die Ausstellung »Heftige Malerei«, die 1980 den Ruhm der »Neuen Wilden« vom Moritzplatz begründete und sie zu einer Nummer auf dem internationalen Kunstmarkt machte, waren wir zu spät nach 36 gekommen. »Gefühl und Härte« bezog sich jetzt nicht nur auf Häuserkampf, Punk, Straßenkrawall und Pogo. Es war auch eine Formel für den Durchbruch zum Männersex.
Auf Salomés Bild »Blutsturz« von 1979 leuchten in einem dunklen Raum die nackten Körper von zwei männlichen Figuren. Der eine Mann ist im Jesusstil an den Handgelenken gefesselt und steht blutüberströmt mit dem Rücken zum Betrachter. Der andere liegt in gekrümmter Haltung zu dessen Füßen auf dem Boden. Es sollte jeder darauf gestoßen werden, was da vor sich gegangen war und jede Nacht wieder vor sich gehen würde. Weil die Lust so groß und der Sex so geil ist. Auf dem Plakat »Geile Tiere« sieht man Salomé mit Luciano Castelli in einer Positur wie aus »Cabaret« mit Liza Minelli und Helmut Griem, und man hat den lüsternen Song schon auf den Lippen. Und auf Middendorfs Bild »Electric Light« machen einen schemenhafte Gestalten in wildem Tanz in einer dunklen Partynacht an. Der ganze Körper erscheint als eine Ansammlung von Partialkörpern, die sich stoßen, aneinanderreiben und miteinander verschmelzen. Hier wird der Mann dem Mann ein fremdes Wesen.
Auf Rainer Fettings »Van Gogh und Mauer-Sonne« bewegt sich eine Figur mit hochgezogenen Schultern und lang gestrecktem Körper an der Mauer entlang. Das Gesicht verbirgt sich zur Hälfte unter der Krempe des gelben Van-Gogh-Sonnenhutes, dahinter gibt ein breiter Spalt in der Mauer den Blick auf einen blutroten Abendhimmel frei. So haben sich die Leute vom Moritzplatz offenbar als Künstler am Arsch der Welt gefühlt. Was konnten diese Bilder für uns bedeuten? Ich habe mit Robert nie richtig darüber gesprochen. Wir haben uns die Abbildungen immer nur mal wieder so wie Pornohefte hingehalten, aber sie niemals zusammen angeschaut. An einem Abend in der Küche, als ein Besuch, eine glühende Blonde und ein engbehoster Hagerer, vom »Movimento« zurückkam, wo in der Nachtvorstellung seit ewigen Zeiten »The Rocky Horror Picture Show« lief, kam die Rede auf »Tom’s Bar« in der Motzstraße, und wir überlegten, da mal zusammen hinzugehen. Aber dazu hat uns dann doch der Mut gefehlt.
In der O 36, ungefähr in der Mitte zwischen Oranienplatz und Adalbertstraße, war der Schauraum von »endart«. Daneben führten Mutter und Sohn einen Elektroladen, wo man sich mit Sicherungen und Schnurschaltern versorgen konnte, und schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite stieg man zu »Farben Kacza« ins Souterrain, wo man sich über die herrlichsten Farbpigmente vom reinen Gold bis zum knalligen Pink beraten lassen konnte. Chicken alias Klaus Theuerkauf und Anus alias Ralph Arens oder auch der frühe Comedien Funny van Dannen, eigentlich holländischer Herkunft, mit seinen »Lassie Singers« machten crossdeutsche Kunst, in der sich Kitsch und Tod, das Banale und das Mörderische, die Caprifischer und die Riesenschwänze mischten. Die aus Schrottblechen gefügten Skulpturen wie der »Wünstler« oder »Ursula heiratet Waldi« habe ich sofort als Dokumente des bundesdeutschen Ungeschicks verstanden. Überhaupt nicht pubertär, sondern böse, schwarz und komplett anarchistisch. Unverstellter Ausdruck ohne Rücksicht aufs »kommunikative Beschweigen« der Verbrechen der Wehrmacht. Auf Video ist eine Performance festgehalten, bei der der nackte, nur mit Seitenscheitel und Hitlerbärtchen verzierte Anus, der sich hier Wixfried Schüttelheimer nannte, seinen schlaffen Schwanz an einen langen schwarz-rot-goldenen Bindfaden hängt und den am rechten Arm festbindet. Dann reißt er den rechten Arm mit einem Ruck zum Hitlergruß hoch und seinen Schwanz jedes Mal mit. Dazu brüllt er mit jedem Ruck: »Abspritzen, abspritzen!« Das sollte sich auf den KZ-Arzt Dr. Josef Mengele beziehen, der bei seinen Experimenten mit Zwillingen im Falle des Überlebens eines der beiden Kinder das Todesurteil mit dem Befehl »Abspritzen« gefällt habe.
Für mich waren das Recherchen im Urgrund der »Männerphantasien«, deren ungeheure Macht über den nicht zu Ende geborenen Mann Klaus Theweleit in seinem Klassiker von 1977 beschrieben hatte. Ich erlebte die Produktion einer bildenden Kunst mit, die wie das Kino, wie die Literatur und wie die Theorie ihren ganz speziellen Beitrag zur Erforschung unserer Gegenwärtigkeit lieferte. Bei jeder Eröffnung soffen wir uns gemeinsam bis spät in die Nacht ins offene Nichts.
Bruno S., der bei Werner Herzog in dessen Filmen »Kaspar Hauser« und »Stroszek« Hauptrollen spielte, habe ich oft bei den »endartisten« auf seinem Schifferklavier spielen gehört. Bruno S. kam im Alter von drei Jahren als unehelicher Sohn einer Prostituierten in ein staatliches Heim und verbrachte die folgenden 23 Jahre in diversen Anstalten. 1941 wurde er in die Wittenauer Anstalten, die heutige Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, verbracht, wo man mit Impfstoffen an angeblich geistig behinderten Kindern Experimente durchführte. 1956 hatte man ihn als geheilt in die Freiheit entlassen. Bei »endart« gehörte Bruno S. selbstverständlich zum Künstlerkollektiv. Bloß kein Geniekult, kein einsames Künstlertum, kein Werkstolz. In dem Namen »endart« stecke auch »entartet«, was dann so viel wie »Ende der Kunst« heiße. Aber zuerst höre man in dem Namen einen Klang, der aus zwei Lauten bestehe: einfach »endart«.
Um 1988, ich schwamm auf einmal im Geld, habe ich Anus ein »Porträt A. H.« für tausend D-Mark abgekauft. Das war eine mittelgroße Leinwand mit einem hellbraun melierten Untergrund, auf dem mit einem schwarzen Stempel eine Scheitellocke und ein Schnurrbart gedruckt worden waren. Irgendwann wurde ich gefragt, ob das Charlie Chaplin oder Hitler sei. Anus hatte mich beim Kauf angegrinst, davon würden sie jetzt hundert Stück verkaufen, jeden Tag zwei Mal den Führer stempeln, und damit hätten sie dann 100.000 D-Mark verdient.
Der erfolgreichste von allen war der nervigste von allen. Luise konnte Kippenberger überhaupt nicht leiden. Der sei weder ein Freund der Frauen noch einer der Männer. Der spiele das Großmaul und den Quertrinker, aber im Grunde sei er ein Abstauber, der am liebsten den anderen die Laune verderbe. Mit dieser Meinung war Luise nicht allein. Wen auch immer man auf der O-Meile fragte, bei Kippenberger winkten die meisten ab. Der erzähle doch nur einen vom Pferd. Für Salomé war die Sache klar. »Viel Luft, viel dumme Sprüche. Dann seine abgemalten, schwarz-weißen, fotorealistischen Bildchen. Also sagten wir: ›Mann, so eine Kacke, jetzt sind wir gerade mal froh, dass wir von dem tradierten Mist wegkommen, und jetzt malt da noch mal einer wie Tom Wesselmann 1968, bloß noch mit einem blöden Spruch drauf.‹« Kippenberger selbst focht dass alles nichts an. »Salomé wollte die ganze Welt begeistern. Ich wollte auch die ganze Welt begeistern, das passte nicht zusammen.« Am Ende hatte es Kippenberger geschafft, dass sein Name sofort fällt, wenn vom »SO36« die Rede ist. Irgendwann Mitte der achtziger Jahre setzte er eine ganz merkwürdige Duftmarke, als er sich im Fotostudio von Charlotte Mathesie als Türkin mit Kopftuch, anatolischem Rock neben Kunstblumengebinde und vor einem Schmiedeeisenrelief aus Plastik aufnehmen ließ. Heilig war dem nichts. Das Bild fand 1985 Wiederverwendung auf der Einladungskarte für die Ausstellung »Helmut Newton für Arme. Selbst-beschmutzende Nestwärme« und kam so ins Werkverzeichnis des Weltkünstlers mit dem Markenkern SO 36.
Das »SO36« war ein ehemaliges Kino in der Oranienstraße nahe dem Heinrichplatz. Acht Meter hoch, 29 Meter lang und acht Meter breit. Ein kahler, rechteckiger Raum, in dem an den Längsseiten ein paar Hochtische mit Hockern standen. Wo man reinkam, war eine Theke mit Kühlschränken für das Bier dahinter. Es gab nur eine Sorte Bier, Cola und einen Schnaps. Vorn dann eine Bühne für die Bands. Das war alles. Kahl, hart, nackt, direkt.
Ursprünglich war der Laden seit August 1978 von drei Typen aus dem Düsseldorfer Raum geschmissen worden. Die waren in Westberlin hängen geblieben, hatten so etwas wie den »Ratinger Hof« im Sinn, zählten sich zur »Post-68-RAF-Generation« und hatten sich einem knallharten Punk verschrieben. An den Abenden ergoss sich eine Masse von Leuten in den Raum, die sich ohne Beschönigungen vergnügen wollten. Knappe zwei Jahre hat das »Esso« besten Punk und New Wave geboten. Wir waren ein paarmal gewissermaßen auf Betriebsausflug von unserem Haus da. Zusammenbleiben ging gar nicht. Man wurde im Rattern des Sounds ganz schnell von der Masse mitgerissen. Das Ganze war ein Hochofen, in dem die Welt des sich selbst genießenden und sich selbst beklagenden Einzelnen sich einfach auflöste. Diese Formulierung unterstrich ich jedenfalls in Jüngers Aufsatz »Über den Schmerz«, in dem ich damals Aufschluss über den Kult des Widerlichen, des Hässlichen und des Bösen im Punk suchte. »SO36« stand mit Bleistift an dieser Stelle. Ich hatte nach einer Nacht im »Esso« tatsächlich das Gefühl, dass sich um mich herum die feinen, nervösen und beweglichen Gesichter in ein geschlossenes, gezügeltes und starres Gesicht mit einem festen Blickpunkt verwandelt hätten. Man fühlte sich durch Härtung und nicht durch Lockerung wie befreit.
Kippenberger hatte es geschafft, auf die Kommandohöhe vom »SO36« zu kommen. Als ob er vom »Büro Kippenberger« aus, das er als Rundum- und Vielzweckmanager am Segitzdamm in einer Fabriketage eröffnet hatte, etwas in die Hand bekommen hätte. Luise wurde richtig böse, als ich sie fragte, woher dieser Kippenberger-Effekt rühre: Das sei diese klebrige, saugende Männlichkeit, die wie ein besonderes Nichts alles in sich aufsauge. Die Formel habe er selbst geliefert: »Durch die Pubertät zum Erfolg.« »Vatti« und allen gewidmet, »die ich auf dem Weg nach oben treffe, weil ich ihnen auf dem Weg nach unten wiederbegegne«.
Luise hatte recht: Wie sollte sie als Künstlerin eine Position zwischen diesen rangelnden, trunkenen und hochfühlenden Künstlertypen behaupten können? Die Moritzplätzler, die »endartisten« und Kippi hatten die O-Meile unter sich aufgeteilt. Wer war am schnellsten und heftigsten? Die Parole hieß: Power vor der Mauer. Sollte Luise sich wie Elvira Bach bewusst isolieren und sich als ein einzelnes weibliches Wesen mit dem Hang zum Alleinsein zeigen, oder sollte sie sich die Taktiken der Jungs aneignen und eiskalt ihr eigenes Ding machen, oder sollte sie einfach warten, bis was ganz anderes dran war? Ich hatte seit dem Unfall den näheren Kontakt zu Luise verloren und betrachtete sie ein bisschen wie einen Fisch im Aquarium. Was würde sie tun, wie sich geben und wann denen ein Bein stellen? Ich war damals total überzeugt von Luises Kunst. Die war schließlich ein Ausdruck unserer Praxis, die viel weitergegangen war als all das, was auf der O-Meile zu besichtigen war. Wir hatten einen Schlussstrich gezogen unter eine Art und Weise, die Verhältnisse aus einem sicheren Abstand zu kritisieren. Wir wollten nichts demonstrieren, sondern einfach nur ein anderes Leben probieren. Das war Luises ungeheurer Vorteil: Sie hatte sich zusammen mit uns auf einen Weg begeben, und aufgrund eines furchtbaren Zufalls wäre sie fast ums Leben gekommen. Sie hatte überlebt und machte weiter eine Kunst, in der sie sich selbst Zeichen gab. Das konnte niemand dieser Jungs für sich beanspruchen. Heute wundere ich mich über die Verve, mit der ich das jetzt niederschreibe. Ich teilte ein Schicksal mit ihr, das irgendwie zum Schicksal unseres Hauses geworden war.