Wir vermissten die »home bar«. Eine Zeit lang waren die rustikalen Kneipen, in denen Mietrechtsaktivisten, Kreuzberghistoriker und Hausbesetzer sich gemeinsam betranken, interessant. Aber bald schon hatten wir genug von den Schnapsnasen und ihrem Gerede. Da schuf Claudius GOTT. In der alten Arbeiterkneipe, halbe Treppe links, hatten die ehemaligen Besetzer das »Café Morazan« betrieben. Das sollte ein solidarischer Akt mit den Revolutionären in El Salvador sein. Claudius fand den Namen doof. »Ich wollte einen Namen haben, der über allem steht. Außerdem gefiel mir die Vorstellung, dass die Leute sagen: »Lasst uns ins GOTT gehen.« Ich fand, das klingt gut. Ab dem Kottbusser Tor stand an die Häuserwände gesprüht: »ZU GOTT«. Die Unwissenden landeten vor der Mauer und fragten sich, wo denn GOTT sei. Claudius lachte darüber. »Am Kotti vorbei und dann entlang der Kebabtürme, bis es nicht mehr weitergeht. Vor der Mauer umdrehen und drei Häuser zurück. So findest du zu GOTT.«
Claudius, der Dealer, hatte Geld. Seine zahlreichen Gehilfen, die ihn umschwirrten, renovierten den Laden. Für 150 D-Mark ließ er sie Getränke einkaufen. Dann machte er auf. Nach drei Wochen war es jede Nacht voll. Das GOTT war ein Ort für Partys, wo vorher nichts dergleichen gewesen war. »Der Faden ist gerissen«, so Gilles Deleuze und Michel Foucault 1977 bei Merve, und so lautete die Devise. Was für die Philosophie galt — kein Reenactment der zwanziger Jahre mehr, keine Wertformanalyse nach Art der Hegel’schen Logik, kein Neukantianismus kategorialer Klärungen —, sollte auch für das Nachtleben gelten. Der Punk bedeutete die Rebarbarisierung einer an Feingeisterei erstickten Popmusik. Wer Pogo tanzt, vertraut Wildfremden, genial sind die Dilettanten. Es kamen vor allem die Szenenachtschwärmer, denen es auf der O-Meile langweilig geworden war. Die vier Stammgäste aus der Nachbarschaft stachen heraus. Da war der lahme Nachbar. Den ganzen Tag fuhr er auf seinem Fahrrad mit Stützrädern durch Kreuzberg. Das GOTT machte zumeist erst nach 23 Uhr auf, und ab da saß er an der Theke. Er lief, als ob er Kinderlähmung gehabt hätte, doch es war der Suff, der zu diesen Lähmungserscheinungen geführt hatte. Immer leicht unsicher, mit einem Glas Mineralwasser in der Hand, lehnte er am Tresen und erzählte ein ums andere Mal, er würde im nächsten Sommer wieder laufen können. Da war der ungarische Nachbar. Ein übergewichtiger, stark schwitzender Handwerker mit großporiger Haut, der fürchterlich einsam war und starke Antidepressiva nahm. Im GOTT kiffte er zum ersten Mal. Danach war es um ihn geschehen. Bis in die frühen Morgenstunden sah man ihn mit roten Augen, aber glücklich im GOTT dicke Joints rauchen. Seine Antidepressiva verschenkte er an den Hertie-Punk. Der Hertie-Punk war ein Junge aus Peine, der beim Kaufhaus Hertie eine Lehre machte. Doch seine Liebe gehörte dem Punk. Er kam in seiner Hertie-Berufskleidung — blauer Kittel mit Hertie-Logo — ins GOTT, und wenn geschlossen wurde, machte er sich auf den Weg zu Hertie. Da war der schwule Nachbar. Zusammen mit seiner Mutter wohnte er in einer Zweizimmerwohnung um die Ecke. Er war ein freundlicher, vornehmer Mann mit nur wenigen Haaren, die er ins Gesicht gekämmt hatte, als ob er sich dahinter verstecken wollte. Wenn er ausging, trug er einen aus der Mode gekommenen weißen Anzug. Wir wussten, kam er ins GOTT, war er wieder verprügelt worden. Böse Menschen, die Schwule nicht mochten, lauerten ihm auf. Mit Blut im Gesicht und an der Hose traute er sich nicht nach Hause zu seiner Mutter. Die Verletzungen in seinem Gesicht versuchte er vor dem Spiegel im Kneipenklo notdürftig mit seinen wenigen Haaren zu kaschieren. Die Blutspritzer auf seiner weißen Schlaghose wusch er mit einer Mischung aus Schultheissbier und Spülwasser aus. Auch Thomas, der sich mit ihm angefreundet hatte, verriet er nicht, wer ihn so zugerichtet hatte. Auf Nachfragen lächelte er nur leise und winkte ab.
Claudius war ein Dealer mit Prinzipien. Er verkaufte keine harten Drogen. Der Verkauf von Haschisch war für ihn ein bequemes Handelsgeschäft, das den Vorteil hatte, dass man nicht mit dem Staat abrechnen musste. Er warf GOTT an, aber schon nach kurzer Zeit gefiel es ihm in seinem eigenen Laden nicht mehr. Es gab zu viel Kokain. Die stumpfen Typen, die dieses Programm anzog, wollte er nicht als Gäste haben. Die machten vielleicht Kunst, aber eigentlich waren sie nur auf Droge, und solche Leute verfügten nicht über das Niveau, das er schätzte. Bei einem nächtlichen Konzert des Hertie-Punks krachte der Boden unter der Toilette durch. Das war das Ende von GOTT.
Keine Rede mehr von Anschlägen gegen das System, Blockräten, Untergrund, Knastbesuchen, Umsturz oder Gefangenenbefreiung. Stattdessen Reiseberichte. Mit bulgarischen, rumänischen oder russischen Airlines, die vom Flughafen Schönefeld im Osten abflogen, kam man billig in die große, weite Welt. Viele blieben monatelang weg. Es war, als ob sie erschöpft seien von den Jahren der permanenten Revolution. Robert erzählte von der Wüste, von verschleierten Frauen, bewaffneten Tuaregs, mehligem Sand, staubigem Sand. Marianne berichtete vom Äquator, von Reisfeldern und dem zweimaligen Regen am Tag in Singapur. Reiche Chinesen, nordthailändische Hungerbäuche, Klöster, Brüllaffen, Kinderprostituierte. Luise kam in gestreiften Hosen und mit schwarzer Sonnenbrille zurück aus New York. SoHo mit Galerien, Feuertreppen und Lagerhäusern, Jazz, Salsa, Sushi, Rap, die Kathedralen des 20. Jahrhunderts auf der Madison Avenue, das schwarze Harlem, die Chassidim in Crown Heights. Andere Welten. In SO 36 sah man die schwarzen Lederjacken mit dem umrundeten A auf dem Rücken immer seltener. Die letzten besetzten Häuser wurden geräumt oder legalisiert. Und irgendwann gab es keine Demos mehr. Nach einer langen Nacht konnte Jan es immer noch nicht lassen, auf dem Nachhauseweg die Scheiben der Sparkassen-Filiale einzuwerfen. In diesem müden Abklatsch erschöpfte sich der Widerstand.
Am ersten Verhandlungstag, als der Chef der Wohnungsbaugesellschaft in seiner schwarzen Dienstlimousine mit Chauffeur in der Waldemarstraße eintraf, kam es zu einem regelrechten Auflauf. So große, teure Autos kamen hier selten durch. Die Jungs vom Bolzplatz kamen feixend herbeigelaufen. Mit grimmigem Gesichtsausdruck blieb der Chauffeur hinterm Steuer sitzen. In dieser unsicheren Türkengegend wollte er sein Auto nicht allein lassen.
Uli hatte einen Anfänger-Anwalt aufgetan, der einen Vertragsentwurf für uns ausgearbeitet hatte. In basisdemokratischer Manier wollten wir alle zusammen über die Nutzungsverträge verhandeln. Der Wohnungsbaugesellschaftschef, ein großgewachsener Mann mittleren Alters, der in unseren Augen furchtbar alt aussah, stand in Anzug und Krawatte vor uns, einem Haufen schwarzgrauer Besetzer. Er setzte sein Pokerface auf und rührte sich nicht mehr, nachdem er einmal auf dem Resopalstuhl Platz genommen hatte. Die Punks aus dem Hinterhaus drängelten und wollten zuerst ihre Forderungen loswerden. Ohne Zusage für den Einbau von Marmorbädern und Aufzug würden sie nicht unterschreiben, blökten sie. Dann kam Robert an die Reihe und erklärte, wir würden unsere Namen nicht nennen. Die Frage, wie man mit jemandem, der nicht bereit ist, seinen Namen zu nennen, einen Vertrag abschließen sollte, interessierte uns nicht. Wir fühlten uns so stark, dass wir ihnen dieses unlösbare Problem einfach vor die Füße rotzten. Irgendwie gelang es dem diskreten Anwalt, den Chef der Wohnungsbaugesellschaft davon zu überzeugen, dass es genüge, wenn er, der Anwalt, den keiner von uns kannte, den Vertrag unterschrieb. Für die Wünsche der Punks fand er keine Lösung. Die waren stinkesauer, demolierten den noch intakten Rest des Treppenhauses und suchten mit ihren Hühnern und Hunden das Weite.
Schließlich begann das Leben mit den Bauarbeitern. Stuckateure aus Polen, spezialisiert aufs Restaurieren, richteten sich in unserem Keller eine Werkstatt ein. Als das Kriegsrecht verhängt wurde, um die Errungenschaft der sozialistischen Revolution zu erhalten, hatten sie ihre Heimat verlassen. Jetzt gossen sie in Westberlin Jakobinerköpfe. Die Bauarbeiter auf den Gerüsten drehten morgens ihre Radios extralaut, um die faulen Langschläfer zu ärgern. Auf die Idee, dass das schlafende Taxifahrer, Kellnerinnen und Zapfer nach der Nachtschicht waren, kamen sie nicht. Einer der Künstlergaleristen von »endart« strich unsere Fenster. Als »Maler« hatte er sich um den Auftrag beworben und den Zuschlag erhalten. Seinen spontan gegründeten Einmannhandwerksbetrieb begriff er als Kunstaktion. Allerdings verspürte er nur wenig Lust auf diese Arbeit, und so stand immer ein anderer Künstlerkumpel im Hof und strich mehr oder weniger begeistert unsere Fenster. Die Arbeit zog sich über Wochen hin, die Fenster waren ziemlich schlecht gestrichen, aber alle hatten ihren Spaß. Uli hatte ausgehandelt, dass wir uns gegen Bezahlung an der Renovierung beteiligen konnten. So kam es, dass Lenny sich der Maurertruppe anschloss, die die Innenwände verputzen sollte. Drei Berliner, ein Friese, ein Brite und der Hesse Lenny verbrachten die meiste Zeit des Tages damit, sich gemeinsam zu berauschen. Ein Kasten Bier stand immer in Reichweite, und der Joint ging nie aus. Unsere Innenwände gerieten krumm und schief. Das störte niemanden, und beim Einweihungsfest saß Lenny glücklich im Kreis seiner neuen Freunde und ließ sich hochleben.
Die türkische Familie zog ins Nachbarhaus. Vroni, Lenny und Michael schnappten sich die Wohnung. Bei ihnen war man immer willkommen. Der Blick aus ihren Zimmern ging auf die orientalischen Türme des Bethanien. Die Wohnung roch nach Kaffee und Shit. Lenny spielte auf der Gitarre, Vroni erzählte ihre Geschichten, und Michael hatte immer eine andere Schöne auf dem Schoß. Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Nachdem John und Irene weg waren, zog Claudius zu Marianne. Die beiden pflegten einen avantgardistischen Wohnstil. Marianne hatte sich für Psychologie an der Uni eingeschrieben und machte auf Wissenschaftlerin. Claudius schaffte das Geld ran und mimte den Impresario. Sie hatten ein großes Hochbett, darunter standen drei Aldi-Einkaufswagen, vollgefüllt mit ihren Kleidern und Büchern. Es gab nur zwei Stühle. Wenn man sie besuchen kam, musste man stehen. Also blieb man nicht lange.
War unsere glorreiche Zeit vorüber? Das soziale Niemandsland, in dem wir die vergangenen Jahre verbracht hatten, verschwand, und mit der Legalisierung war ein neuer Wirklichkeitsdruck da. Wir fanden es schrecklich, Mieter zu werden, und nahmen diesen Begriff so gut wie nie in den Mund. Wir mussten uns plötzlich Gedanken über Dinge machen, die es zuvor nicht gegeben hatte. Das Ende des Provisoriums stellte uns vor unangenehme Fragen. Was war, wenn einer mal nicht seinen Monatsbeitrag zahlen konnte? Zahlten dann die anderen für ihn, oder flog er raus? Konnte man seinen Mietvertrag verkaufen oder vererben? Durfte man untervermieten und von den Mieteinnahmen seine Reisen finanzieren? Waren die Wohnungen und Zimmer fest zugewiesen, oder sollten wir ein Rotationsprinzip einführen? Um einen Rest Rebellion und Antibürgerlichkeit zu bewahren, duldeten wir auch jetzt keine klar voneinander abgegrenzten Wohnbereiche. Es gab Wohnungstüren, aber einen Schlüssel, der überall passte. Jeder hatte jederzeit Zutritt zu den Küchen, Schlaf- und Wohnzimmern der anderen. Das führte zu Konflikten. So, wenn etwa Jan nachts in die Küche von Thomas schlich und den Kühlschrank plünderte. Oder wenn Vroni nicht merkte, dass die netten Freaks, die sie anschleppte, Junkies waren. Wir mussten jedenfalls nicht ins Kino, um »Die Kinder vom Bahnhof Zoo« anzuschauen. Nachdem die Junkies von der Potsdamer Straße vertrieben worden waren, zogen sie weiter zum Kottbusser Tor. Irene war sich sicher gewesen, dass dahinter die CIA stecke. Die Bullen förderten die Ausbreitung des Heroins, um uns handlungsunfähig zu machen, so ihre Theorie. Ganz von der Hand zu weisen war das nicht. Wir waren nur noch genervt von diesen halb toten Gestalten, die uns immer wieder beklauten. Richtig böse sein konnten wir ihnen nicht. Außenseiter gehörten eben dazu.
Jeder machte jetzt sein Ding. Thomas und Robert lebten zurückgezogen inmitten von Büchern. Weil sie keine Regale hatten oder wollten, stapelten sie die Bücher entlang der Wände und die Wände hoch. In der Kommune im Haus an den Gleisen hatten Romane, Traktate, Flugschriften, Philosophisches und Politisches kreuz und quer in den Regalen gestanden oder waren über den Raum verteilt gewesen. Das war jetzt anders. Die Ordnung des Alphabets hatte Einzug gehalten. Die Bücher waren fein säuberlich nach den Namen der Verfasser sortiert. Das üppig wuchernde Sperrmüllmobiliar, angereichert mit Bierkisten und Polit-Postern, war verschwunden. Die Zimmer waren bewusst karg eingerichtet. Nichts, was überladen oder dekorativ hätte wirken können. Mit ihren leeren Räumen schirmten sich die beiden gegen die Außenwelt ab. Nackte Glühbirnen unter milchweißen, selbst gemachten Papierlampenschirmen tauchten die Wohnung in ein mattes, weiches Licht. Auf den unbehandelten Holzdielen lagen Matratzen, Blätter und Steine. Die Wände waren roh verputzt. Weder tapeziert noch gestrichen. Thomas und Robert duldeten keine Bilder, Vorhänge oder Rollos. Mit dem bloßen Blick aus dem Fenster versichere er sich des Verstreichens der Zeit, so Thomas hochtrabend.
Robert hatte mit dem Raubdrucken aufgehört. Ungewohnt offen erzählte er, dass er sich vor sich selbst geschämt hätte für den Schund, den er druckte und verkaufen ließ. Für die Erwachsenen, die diese Kinderbücher von Michael Ende begeistert lasen und dazu vielleicht noch »99 Luftballons« von Nena hörten, hatte er nur Verachtung übrig. Er vermutete, dass die »Grünen«, die friedlich strickend jetzt auch im Bundestag vertreten waren, für diesen Hype verantwortlich waren. Er wollte diese Infantilisierung der Politik nicht mitmachen und sich ganz auf die Kunst verlegen. »Wir Besetzer haben etwas von popkulturellem Belang in Gang gesetzt. Wüst, empfindsam, wagemutig, hemmungslos. Künstlerische Experimente jenseits der eingezäunten Bereiche von Musik, Malerei, Tanz oder Theater. Damit mache ich weiter«, erzählte er jedem, der es hören wollte. Bislang hatten wir von ihm nur gewusst, dass er Berliner war, aber jetzt stellte sich heraus, Robert kam aus einer Reinickendorfer Familienhölle. »Ich war zu gut in der Schule, als dass es mir mein Alter hätte verbieten können, aufs Gymnasium zu gehen.« Der Vater war Buchhalter in einer Seifenfabrik, die Mutter Filialleiterin bei »Bolle«. Zwei Geschwister, städtische Wohnanlage, Opel Kadett. Der Vater trinkt, die Mutter hält der Kinder wegen still und haut nicht ab. Robert verordnete sich das Besetzen als eine Art Umerziehung: illegal wohnen und mit Fremden alles teilen. Manchmal traf er noch seine Mutter, aber mit seinem Vater, unter dessen autoritärem Regime die ganze Familie litt, hatte er gebrochen. Die experimentelle Besetzerexistenz sei seine Katharsis gewesen, meinte er scherzhaft. Er hatte seine Kleinbürgerherkunft abgestreift. »Ich könnte eigentlich alles, aber letztendlich kann ich nichts. Ich habe nur das Gefühl, ich könnte alles. Wir waren schließlich die erste Generation, die durch den Fernseher die große, weite Welt gesehen hat. So wie auch Madonna, Keith Haring und Jean-Michel Basquiat. ›Percy Stuart‹, ›Lassie‹, ›Bonanza‹, ›Fury‹, aber auch Bilder aus dem Krieg in Vietnam, die ersten Schritte des Menschen auf dem Mond und der Kniefall Willy Brandts im Warschauer Ghetto — all das wurde uns als Bild ins Wohnzimmer geliefert.« Robert kam immer schnell in Fahrt. »Dann in der Schule die Leistungskurse in Kunst oder Philosophie. Das Kurssystem war relativ offen gehalten. Auch hier waren wir die Ersten, die das mitgemacht haben. So entwickelte sich das Gefühl, ziemlich viel zu können, wenn man nur wollte. Ich habe viele Ansätze in verschiedene Richtungen und entscheide allein, welchem ich nachgehen will.« Nur eines wusste er sicher, ein Künstler war er nicht. Das Raubdruckgeschäft hatte ihm gezeigt, dass in ihm ein Unternehmer steckte. Er suchte nach Gelegenheiten, und wenn ihm etwas erfolgversprechend erschien, war er bereit, ins volle Risiko zu gehen. Robert war ein Typ, von dem man glaubte, dass er alle kennt, die in zehn Jahren berühmt sein werden. Für die Filmerei reichte sein Geld nicht aus. Theater war einfacher zu haben. Seine anarchistische politische Einstellung übertrug er auf die Kunst. Er stritt für ein radikales Theater der Provokation, organisierte Workshops zum japanischen Butoh-Tanz, lud Yogi und andere Performance-Künstler zu Vorträgen ein und wollte Cassavetes’ »A Woman Under the Influence« auf die Bühne bringen. Nach wie vor trug er seine dunklen Arbeitsanzüge, die er bei »John Glet« am Mehringdamm kaufte. Das hatte er sich von David Bowie abgeschaut, dem er mal aus Neugierde in das Fachgeschäft für Arbeitskleidung gefolgt war. Fast jeden Abend ging er ins Theater oder traf Leute vom Theater. Er war einer der wenigen von uns, deren Radius nicht am Kottbusser Tor endete. Robert war Gast in der »Paris Bar« und im »Axbax« in Charlottenburg, im »Ciao« neben der neuen Schaubühne, aber auch im »Risiko«, »Café Swing« und »Ex’n Pop«. So trainierte er sich seine Reinickendorfer Kleinbürgerlichkeit ab. Robert dachte gar nicht daran, sich von seiner Herkunft festlegen zu lassen.
Thomas blieb freundlich und undurchschaubar. Im Sommer saß er gerne mit seinem neuen Sonnenhut auf dem Kopf im Hof und hörte Glenn Gould die »Goldbergvariationen« spielen. Ab und an tauchte er mit einem Bier bei Vroni oder bei Jan auf. Freitagnachts traf man ihn auf der O-Meile. Er stand dabei, beobachtete die anderen, schaute den jungen Frauen mit den kurzen Röcken hinterher. Was er dachte und was ihn umtrieb, behielt er für sich.
Uli, Jan, Lynn und Luise, die aus purem Zufall zusammen auf einem Stock wohnten, waren unterschiedliche Monaden. Im Gegensatz zu Robert kam Uli seine Zeit in den besetzten Häusern verschwendet vor. Ausgerechnet Uli, der unseren Vertrag ausgehandelt hatte, war enttäuscht. Er hatte sich mehr erwartet. Was genau, wusste er jedoch nicht zu sagen. Fast jedes zweite Wochenende fuhr er zu seinem Vater nach Frankfurt. Das Einzelkind Uli hatte auf einmal das dringende Gefühl, sich um seine Familie, nämlich seinen allein lebenden Vater, kümmern zu müssen. Ansonsten widmete er sich seinem Studium. Durch die Besetzerei war ihm viel Zeit verloren gegangen. Er wollte nicht der letzte aus seiner Clique sein, der das Studium abschloss. Das änderte jedoch nichts daran, dass er, wenn eine Hausversammlung anstand oder es etwas zu entscheiden gab, immer zur Stelle war. Seine Ausdauer und seine Verantwortlichkeit waren bemerkenswert, und doch fragten wir uns, warum er noch im Haus an der Mauer wohnen blieb. Nur selten ließ er sich zu einem blauen Cocktail in der »O-Bar« überreden. Die Verführungen der O-Meile waren ihm fremd.
Jan war ein Verlierer der neuen Situation. Pfusch war nicht länger angesagt. Funkgeräte, Sirenen und Stromschranken brauchte keiner mehr. Damit war seine Autorität erledigt. Solange Handwerker im Haus gewesen waren, hatte er noch so tun können, als ob er beschäftigt sei. Doch mit dem Abschluss der Modernisierung saß er herum wie ein Frührentner. In seinem Fahrerjob war man seinen kleinen Diebstählen auf die Schliche gekommen, und er war entlassen worden. Früher hatten alle ständig über Demos und Aktionen diskutiert, doch heute wollte keiner mehr hören, dass er gestern Nacht die große Scheibe des Büros des SPD-Ortsvereins mit seiner Zwille getroffen hatte. Sein Rebellenoutfit war von vorgestern, der »Bauhof« aufgelöst. Niemand wollte mehr mit ihm konspirative Aktionen planen oder über das Anzapfen von Wasserleitungen fachsimpeln. Jan trauerte Irene, John und Rabe nach. Wenn die hiergeblieben wären, dann wäre seine Position eine andere, da war er sich ganz sicher. Auf einmal ging es um die Lust am Leben, und alle rochen nach Parfüm. Diese Lust muss man sich erst mal leisten können, brummelte er vor sich hin, wenn Lynn ihn darauf ansprach.
Lynn war dabei, eine erstaunliche Wandlung durchzumachen. Es war, als ob sie wie Dornröschen aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht sei. Allerdings mit dem Unterschied, dass nicht Jan der ersehnte Prinz war. Sie schlug also die Augen auf und sah diesen Trotzki-Lookalike, der Selbstgedrehte rauchte, sich nur ungern wusch, immer einen Blaumann anhatte und sie schon mehrmals geschwängert hatte. Lynn beschloss, ihr Leben zu ändern. Es begann mit kleinen Unfreundlichkeiten im Alltag. »Stehpisser müssen draußen bleiben«, warnte ein in knalligem Rot geschriebenes Schild an der Toilettentür. Es wurde Lynns Spezialität, die Tür aufzureißen, um zu überprüfen, ob dem Folge geleistet wurde. Wenn nicht, konnte sie richtig unangenehm werden. Jan wurde von seinen Kumpels ausgelacht und verlor noch mehr an Ansehen. Von seinem Flehen, mit dem Scheiß aufzuhören, ließ sich Lynn nicht beeindrucken. Ganz im Gegenteil. Sie erweiterte ihren Aktionsradius und schrieb Artikel über den neuen Chauvinismus und das Machogehabe der linken Männer. Wegen ihres hohlen Revolutionsgetues und ihres Primatengehabes nannte sie sie Paviane. Diese Artikel wurden in der »taz« veröffentlicht und sorgten für große Aufregung. Das hatte sich noch keine vor ihr getraut: Lynn schrieb, dass Frauen in den ehemals besetzten Häusern von Pavianen verprügelt und vergewaltigt worden seien. Doch damit nicht genug: Wagte es eines der Opfer, Anzeige zu erstatten, so wurde es aus dem Kreis der Revoluzzer ausgeschlossen. Daran waren auch andere Frauen beteiligt, die aus Angst vor Strafe den Mund hielten. Lynns Vorwurf lautete, dass sich in den Häusern eine Clanstruktur herausgebildet habe. Die Paviane entschieden über Recht und Unrecht. Ihre Gesetze galten und nicht die des verhassten Staates. Damit, so Lynns Fazit, zogen Frauen immer den Kürzeren. Die Frauen in der autonomen Szene waren nicht besser dran als ihre verschleierten türkischen Schwestern, die von ihren Männern in Kreuzberger Zweizimmerwohnungen wie Sklavinnen gehalten wurden. Das saß. Lynn war jetzt eine Szeneberühmtheit und stolz darauf. Sie machte sich keine Illusionen darüber, wozu die erzürnten, beleidigten Paviane fähig sein würden, und beschloss, Selbstverteidigung zu lernen. Das Einüben von Schlag-, Stoß- und Tritttechniken, das Erlernen von Würfen und Würgegriffen machte aus der zarten Lynn eine sehnige, bewegliche, reaktionsschnelle und starke Frau. Es sprach sich herum, dass Lynn zum Gegenangriff übergegangen war, und die Paviane ließen besser die Finger von ihr. Sie und ihre Mitkämpferinnen verfolgten und attackierten nämlich Männer, die Frauen schlugen, beleidigten und vergewaltigten. Lynn war unterwegs im dunklen, gewalttätigen Berlin. Sie berichtete von Hertha-Fröschen, Neonazis und Skins, die Lesben, Linken und Schwulen auflauerten, von Ehemännern, die ihre Frauen und Kinder misshandelten, von den faschistischen »Grauen Wölfen«, die ein anderes Kreuzberg wollten, und von den Vergewaltigern in der Familie, am Arbeitsplatz, im Ehebett und im Park.
Sich ihrer Herkunft aus einer Eppendorfer Stadtvilla erinnernd, führte Lynn bürgerliche Rituale in unseren Alltag ein. Wir konnten uns des Eindrucks nicht erwehren, dass sie damit ganz bewusst Jan weiter schwächen wollte. Er hatte keine Ahnung, wie man mit einer Serviette umgeht, war unfähig zur Konversation, wusste sich nicht zu benehmen beim Klassikkonzert in der Philharmonie und rülpste laut bei Tisch. Lynn wies ihn zurecht und sorgte dafür, dass er sich wie ein ungeschlachter Friesenbauer vorkam. Früher hatte sie seine schlechten Manieren aufregend gefunden, aber jetzt sah sie in Jan eine Fehlbesetzung in ihrer Biographie. Die Stimmung zwischen den beiden war gereizt. Um sich abzureagieren, zog Jan jeden Abend mit seinen Kumpanen um die Häuser. Wenn er spät in der Nacht nach Hause kam, bat und bettelte er vor Lynns Tür, zu ihr ins Bett zu dürfen. Sie machte ihm ein ums andere Mal lautstark deutlich, dass sie auf einen nach Bier und Rauch stinkenden, zugekifften Liebhaber keine Lust habe. Nach ein paar Wochen war er pleite, bewarb sich auf Anlernjobs und kam schließlich in einem Supermarkt in der Wilmersdorfer Straße unter. Dort wog er Obst ab und füllte Regale auf. Sein größter Horror war es, nach Kreuzberg versetzt zu werden. Seine Freunde würden ihn auslachen, wenn sie ihn in seinem weißen Verkäuferkittel und in der schlecht gebügelten Jeans zwischen den Salatköpfen entdecken würden.
Während Jan seine Tage als unterbezahlte Supermarkthilfskraft fristete, stieg seine Freundin zu einer gefragten Feministin auf. Die kurzen Radiointerviews, Podiumsdiskussionen und Zeitschriftenartikel wurden mehr. Lynn war eine medienwirksame Mischung: Sie konnte präzise formulieren, dachte radikal und sah gut aus. Immer wieder erregte sie mit ihren Forderungen Aufsehen. Vergewaltiger sollten mit Kastration bestraft werden. Wenn wir sie so argumentieren hörten, erinnerten wir uns, mit welcher Vehemenz sie sich damals im Haus an den Gleisen erfolgreich gegen eine Ganzkörperdurchsuchung zur Wehr gesetzt und mit welchem Furor sie Aaron Rosenblatt verteidigt hatte. Wir hatten uns getäuscht, als wir sie für das sanfte Kätzchen an der Seite des raubeinigen Pfuschers gehalten hatten. Jan mochten und schätzten alle, wir hatten nicht vergessen, dass er damals die Nazis vertrieben hatte. Es war schrecklich, ihn leiden zu sehen, aber keiner von uns wollte sich in das Beziehungsdrama einmischen. Als jedoch das Thema »Verhütung« aufkam, ging das nicht mehr, denn Lynn forderte uns auf, Stellung zu beziehen. Wir hätten doch miterlebt, wie sehr sie unter den Abtreibungen, die ihr Jan aufgezwungen hatte, gelitten habe. Noch immer weigerte er sich, Kondome zu benutzen. Diese Gummidinger seien seiner Potenz abträglich, meinte er lapidar. Lynn, die sich maßlos über diese arrogante Machohaltung ärgerte, sann auf Rache. Lysistratas Beischlafstreik stand damals hoch im Kurs, und Lynn verkündete, sie werde erst dann wieder mit Jan das Bett teilen, wenn er sterilisiert sei. Jan und alle anderen Männer wurden ganz blass, als sie das hörten. Wir Frauen fanden die Idee gar nicht so schlecht. Lynn setzte ihm das Messer auf die Brust: Bislang habe er vier Kinder gezeugt und keines davon gewollt. Sie sehe nicht, dass sich das ändern werde. Die Verhütung müsse endgültig gesichert sein. Sie war auch nicht bereit, Kondome zu akzeptieren. Was, wenn die platzten? Lynn forderte Jan auf, er solle endlich ein Mann sein, die Konsequenz aus seinem Verhalten ziehen und sich sterilisieren lassen. Wochenlang ging es hin und her. In den Küchen, im Hof, im Bus, in der Kneipe, in der U-Bahn, auf der O-Meile, in der Bar, überall, wo wir uns trafen, gab es nur noch dieses eine Thema. Am Ende gab Jan nach. Zu Hause im Bett liegend, empfing er nach dem Eingriff Besuche. Auf die leise Nachfrage, wie es gewesen sei und wie es ihm jetzt gehe, schlug er die Bettdecke zurück. Stolz präsentierte er seine blitzeblauen Hoden. Diese blitzeblauen Hoden, bei deren Anblick die Männer schmerzhaft das Gesicht verzogen und die Frauen ein Grinsen unterdrückten, machten Jan für ein paar Tage zum Helden. Die Männer bewunderten seinen Mut, die Frauen lobten seine Einsicht. Lynn stand daneben. Ein feines Lächeln umspielte ihren Mund.
Es war erstaunlich, wie sehr die zwei Wochen New York Luise verändert hatten. Der Wandel von der punkigen Hausbesetzerin, die zottelig und ungeschminkt ins Leben blickt, zur Frau, die kurze Röcke trug und ohne Hut und Lidstrich nicht mehr das Haus verließ, war verblüffend. Es war, als ob sie in Hosen einen wichtigen Teil von sich versteckt gehalten hätte. Luise ging auf einmal mit wunderbaren Beinen durch die Welt. Wenn sie auf ihren Heels die O-Meile entlangspazierte, pfiffen ihr die Paviane hinterher. Wir konnten nur rätseln, wie es zu dieser Veränderung gekommen war. War das etwa der Einfluss dieser ominösen Tante Diana, oder hatte sie sich einfach verliebt? Keines von beidem traf zu. Luise hatte sich entschieden, der Kunst den ersten Platz in ihrem Leben einzuräumen. New York hatte sie gelehrt, dass der Künstler sich selbst repräsentieren muss. Luise wollte als Künstlerin wirken. Die Zeit der Künstlerpunks war vorüber. Idiosynkrasie und Individualität lauteten die neuen Zauberworte. Dann die große Enttäuschung. Eine Künstlerin, die leer stehende Häuser besetzt und Käse im KaDeWe stiehlt, darf kein Stipendium in den Staaten bekommen. Am Abend des Tages, an dem ihr Visumantrag abgelehnt worden war, saßen wir alle mit Luise in ihrer Küche zusammen. Es war fast wie früher. Wir hörten lauten Punk und Rap und schimpften auf die imperialistische Weltmacht USA, die, wie man an Luises Beispiel sehen konnte, in Wirklichkeit eine menschenverachtende Diktatur war. Alles endete in einer großartigen polytoximanischen Nacht.
Vroni konnte gar nicht genug von New York zu hören bekommen. »Warst du im Rainbow Room, ist der Himmel über New York wirklich so strahlend blau, riecht es auf der Fifth Avenue nach Meer, sind die New Yorkerinnen so chic wie Holly Golightly, was ist mit Little Italy, mit Chinatown, SoHo, Harlem, Brooklyn, dem Ringelspiel in Coney Island, dem MoMA und mit dem Sonnenaufgang im Central Park?« Luise gab geduldig Auskunft, und Vronis Begeisterung steigerte sich zusehends. Eines schönen Tages verkündete sie, dass sie nach New York reisen werde. Um sich auf die Reise einzustimmen, lud sie das gesamte Haus und ihre Freunde zu einer Grillparty ein. Unser kleiner Kreuzberger Hinterhof sah aus, als ob Ronald Reagan persönlich seinen Besuch angekündigt hätte. Über den Tischen und Bänken waren Stars-and-Stripes-Fähnchen aufgehängt, auf den Servietten lachte einem Uncle Sam entgegen, Frank Sinatra schmetterte in der Endlosschleife »New York«, Ketchup, Cola- und Mayoflaschen standen allerorten, auf dem Grill schmorten dicke Burger, und in den Senfgläsern schimmerte golden der Whiskey. Vroni hatte einen GI aufgetan, der für sie im amerikanischen Supermarkt an der Clayallee eingekauft hatte. Die Gastgeberin mit stripesroten Lippen kicherte und gluckste, sprach Billy-Wilder-Amerikanisch und freute sich wie ein kleines Kind. Uns war nicht ganz wohl bei der Sache. Woher hatte Vroni das Geld, um diesen Aufwand zu betreiben? »Stellt euch vor, wenn uns John und Irene so sehen würden«, flüsterte Robert. Riskierten wir nicht unseren Ruf als erklärte Feinde der US-Macht, wenn wir fröhlich unter amerikanischen Fähnchen saßen, herzhaft in die Burger bissen und uns mit Jack Daniel’s zuprosteten? Keiner wollte Vroni die Laune verderben. Also machten wir gute Miene zum bösen Spiel.
Einige Wochen später bekam Vroni hohes Fieber. Lenny machte ihr Wadenwickel, und Michael kochte indische Hühnerbrühe. Als sie wieder auf die Beine kam, war sie deutlich abgemagert. Sie blieb so dünn, und wir begannen uns um sie zu sorgen. Mittlerweile wussten wir auch, wie sie zu Geld gekommen war. »Vroni geht anschaffen im Türkenpuff«, krächzte Jan eines Abends in die Runde. Die Freundin einer Freundin hatte ihr den Tipp gegeben, sich in einem hinter dem NKZ versteckten Schuppen als Barfrau zu bewerben. Bestimmt gefiel den türkischen Männern, die dort vorwiegend verkehrten, eine üppige Blondine, wie Vroni eine war, meinte die. Und wirklich, Vroni wurde genommen. Allerdings stand sie nicht lange hinter der Bar, sondern wechselte schon bald in eines der Hinterzimmer. So würde sie schneller das Geld für ihre Reise nach New York zusammenhaben, hatte sie Jan und Lynn erklärt. Lynn gab ihren feministischen Segen dazu. Es war die Zeit, in der man glaubte, dahintergekommen zu sein, dass Prostitution eine Art selbstbestimmter Arbeit sei. Auch in der Ehe musste mit Sex bezahlt werden.
Vroni erzählte jetzt Geschichten aus dem Puff. Es gab Familienväter aus Hermsdorf und vom Schlesischen Tor, die sich bei ihr ausweinten und behaupteten, in sie verliebt zu sein. Aber es gab vor allem Männer, die Vroni verachteten und auszunutzen versuchten. Damit hatte man leichtes Spiel bei ihr. Vroni war unfähig, Männer einzuschätzen. War einer nett zu ihr, war sie bereit, alles für ihn zu tun.
Wir bemerkten, dass sie zunehmend Schwierigkeiten damit hatte, die Treppen bis zum vierten Stock hochzuzkommen. Ihr lautes Keuchen war im ganzen Treppenhaus zu hören. Auf halbem Weg musste sie haltmachen, um sich auszuruhen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch dafür zu schwach sein würde. Wir redeten uns ein, das sei nur eine verschleppte Grippe und bald würde Vroni wieder die Alte sein. Nur Michael glaubte das nicht. Als er mitbekam, dass sie sich im Badezimmer einschloss, fragte er sie, was mit ihr los sei und ob sie sich etwa geniere. Vroni blieb ihm eine Antwort schuldig, und als sie sich das nächste Mal einschloss, öffnete Michael die Tür gewaltsam. Ihm bot sich ein Bild des Jammers: Vroni saß nackt und schweißüberströmt auf dem Boden. Ihr vollkommen abgemagerter Körper war mit violetten Knoten übersät. Michael wusste sofort Bescheid. Sie hatte Aids. Er ging zu Uli, und gemeinsam überredeten sie Vroni, zum Arzt zu gehen. Uli hatte einen Freund im Urban-Krankenhaus, der sie kostenlos behandeln würde. Obwohl Vroni jeglichen Kontakt mit Institutionen panisch vermied, ging es ihr einfach zu schlecht, und sie nahm Ulis Angebot an. Vroni kam nicht mehr zurück. Erst seit wenigen Jahren wusste man von dieser Epidemie. Auch Prostituierte gehörten zur Risikogruppe. Das musste Vroni gewusst haben, aber wir konnten uns gut vorstellen, dass sie zu gutmütig oder zu bekifft war, um auf den Gebrauch des Kondoms zu bestehen. Ohne Kondom bekam sie außerdem mehr Geld und glaubte schneller in New York sein zu können. Ausgemergelt, erschöpft und mit ungeschminkten Lippen lag sie in ihrem Krankenhausbett. Wir versuchten ihre Stiefschwestern in Wien ausfindig zu machen, aber da gab es niemanden.
Vroni blieb dem Punk treu. Ihr letzter Wunsch war, wir sollten Heurigenlieder für sie singen. Alle kamen, sogar Sven mit Kurtchen auf der Schulter stand mit um ihr Bett herum. Marianne malte Vronis Lippen rot an, Lenny begleitete uns auf der Gitarre. Es muss sich schrecklich angehört haben, aber Vroni — geschlagen von einer Plage biblischen Ausmaßes — strahlte uns an. Wir sangen und schluchzten. Zwei Tage später war sie tot.