Im Institut für Religionswissenschaft direkt neben dem Henry-Ford-Bau residierte in einer der FU-Villen Klaus Heinrich, den ich im Schlepptau der verwunschenen Kommilitonin aus der U-Bahn schon an meinem ersten Tag an der FU in Augenschein genommen hatte. Das war ein deutscher Professor, wie er im Buche stand: gelehrt, verehrt, auftrittsstark und sagenumwoben. Franziska, die zum erlauchten Kreis gehörte, tat danach so, als hätten wir uns nie getroffen. Es gefiel ihr offenbar nicht, dass ich möglicherweise schon nach einer Nacht verstanden hatte, warum Buddhismus kein Ausweg ist und Sucht und Sog die Abgrundseite des Seins kennzeichnen. Darüber jedenfalls sprach Klaus Heinrich Woche für Woche und Jahr für Jahr. In Taubenblau der Anzug wie die Krawatte. Heinrichs Vorlesung war ein Termin für alle Jungmenschen aus dem Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften, die eine Idee davon haben wollten, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wir verfolgten im vollbesetzten Hörsaal C des Henry-Ford-Baus die allmähliche Verfertigung der Gedanken im Gehen. Ohne Manuskript, aber mit Punkt und Komma. Fünf Schritte nach Norden, fünf Schritte nach Süden. So erklärte er den Unterschied zwischen den Todesbildern von Buddha und Jesus: dass Jesus aufrecht am Kreuz starb, während Buddha liegend verschied. Der Liegende kann alles hinnehmen, weil es auf nichts ankommt. Der Aufrechte dagegen hält stand und widersteht, aber nicht, um sich selbst heroisch zu feiern, sondern weil er die Hoffnung auf einen anderen Zustand der Welt nicht aufgibt. Die Erlösung als ein Zusichkommen des Ganzen steht hier gegen die Erlösung als Abstreifen jeder Gestalt, als Aufgehen im Nichts, als Erlösung von sich.
Ich fühlte mich unwohl bei so viel Wahrheit. Erzeugte Heinrich nicht selbst diesen feinen Rausch von Meditation und Askese, den er durch die Unterscheidungen und Übersetzungen im Gespräch bannen wollte? War er nicht selbst ein Buddha, der vor den Buddhas dieser Welt warnte? Zog er einen nicht in das nie endende Gespräch mit sich selbst hinein, ohne einen je freizugeben?
Im Kreise um Klaus Heinrich herrschte bei aller fröhlichen Gebildetheit eine weltverlorene Unbedarftheit. Die meisten von denen hatten ein heimliches Gelehrtenideal und vertrauten darauf, dass ihnen unendlich viel Zeit zur Verfügung stehen würde. Man warf sich Zitate der Hausgötter wie Edgar Allan Poe, Homer oder Alfred Hitchcock zu, tauschte Methoden gegen Schlaflosigkeit aus, pries den blonden Ton der arkadischen Landschaften von Nicolas Poussin, schwärmte für Mozart und verglich die besten Reiserouten durch Italien und Frankreich. Das war eine kichernde Kulturfreudigkeit fern bourgeoiser Eingebildetheit. Aber niemand schien den Kokon verlassen zu wollen. Als sei das Institut für Religionswissenschaft mit dem sprechenden Automaten Klaus Heinrich in seiner Mitte eine nährende Mutter, die im Zweifelsfall für alles sorgen würde: für die Gedanken, für die Stellen und für ein Gefühl der schützenden Zugehörigkeit.
Ich wollte mich zwar von jenen absetzen, die ihr Studium dafür benutzten, sich ausführlich mit ihren Symptomen, Hemmungen und Charakterzügen zu beschäftigen, spürte aber auch den Reiz, sich über das Trauma der Geburt, die Mehrdeutigkeit von Übertragungsbeziehungen oder den Sinn des Unsinns Gedanken zu machen. Den Leuten um Klaus Heinrich konnte man nicht mit Freuds Aufsatz über die endliche und die unendliche Analyse kommen, in dem zu lesen war, dass für den »gründlich Analysierten« die Hinnahme der Endlichkeit seiner Psychoanalyse mit der Einsicht in die Endlichkeit seines eigenen Lebens verbunden war. Den kannten die in- und auswendig. Aber das hielt sie keinen Moment davon ab, Zustände hysterischer Natur, eine verquere Libidoentwicklung oder gar einen verborgenen Liebesroman an sich und in sich zu entdecken. Franziska war eine Spezialistin in dieser Hinsicht. Eines Tages stellte sie mir nach der Vorlesung Hans vor, von dem sie mir schon erzählt hatte, dass der deshalb so gern Peepshows aufsuche, weil er auf das langsame Öffnen des Vorhangs fixiert sei, der nach dem Einwurf der Münze den Blick auf die nackte Lust auf der Drehscheibe preisgab. Hans war ein etwas teigig verfasster Rotschopf von Mitte dreißig und freundlichster Ausstrahlung, der sich als Lacanist mit geräumiger Wohnung in der Pestalozzistraße in Charlottenburg entpuppte. Lacan war ein unkonventioneller Leser Freuds, der die Losung ausgegeben hatte, dass das Unbewusste wie eine Sprache funktioniere. Es spricht, man weiß aber nicht, worüber, und schon gar nicht, was es sagen will. Hans bot Konsultationen psychoanalytischer Art an, die das Unbewusste zum Sprechen bringen sollten. »Los, sagen Sie irgendetwas«, hatte Lacan über den Beginn einer psychoanalytischen Kur gesagt, »es wird wunderbar sein.« Ich konnte mir Hans sehr gut als einen solchen Psychoanalytiker vorstellen. Aber man wusste weder, ob er eine psychoanalytische Ausbildung absolviert, noch, ob sich jemals ein Analysant zu ihm verirrt hatte. Faktum war, dass Hans auf sehr großem Fuß lebte und sich sehr großzügig zeigte. Alle genossen die Einladungen bei ihm. Bei Hans habe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine gefüllte Kalbstasche, einen ganzen Kabeljau und selbst gemachtes Krokanteis gegessen. Franziska, die mir nie verraten hatte, wie sie zu Hans stand, trumpfte als junge charmante Gastgeberin auf, man verhielt sich wie Freunde von Hans zueinander, und niemand wurde außer Acht gelassen. Die Gespräche gingen eine ganze Zeit über nichts und mit einem Mal über alles. Ich erinnere mich genau an die Unterhaltung mit einer Kommilitonin, die Theologie studierte. Es begann mit dem Unterschied des Geschmacks von Weiß- und Rotwein und endete bei der Weiblichkeit des literarischen Schreibens. Ich muss gestehen, dass ich einen gewissen Ärger über die Tatsache verspürte, dass sie adelig, kenntnisreich und reizend, also so etwas wie eine Tochter aus gutem Hause war, aber eine Sache, die wir offenbar nicht in der Hand hatten, trieb uns bis zu der verrückten Frage, was für eine Frau der Penisneid und für einen Mann das Sträuben gegen seine passive oder feminine Einstellung zum anderen Mann bedeute. Wir sprachen über Dostojewski, der sich eine Natassja Filippowna mit dem Begehren und der Verzweiflung einer echten Frau ausgedacht hatte, über Flaubert, der gesagt hatte: »Madame Bovary — das bin ich«, und über dieses Erleben einer Öffnung beim Schreiben, der immer eine weibliche Identifizierung zugrunde liegt. Das ging über gefühlte zwei Stunden, bis schließlich ein blöder blonder Handballer-Riese mit blauen Augen auftauchte, der zweifellos ihr Freund war.
Hans wurde für mich der Inbegriff eines bestimmten unternehmerischen Typs in jenen achtziger Jahren: Hochstapler, Seelenwühler, Menschenfischer und Selbstverschwender. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Er hätte mir als Developer von Einkaufszentren, als Programmdirektor von RTL oder als Spindoktor einer Volkspartei wiederbegegnen können. Vielleicht ist er aber auch untergegangen, weil er auf eine Analysantin mit »malignem Narzissmus« gestoßen ist, deren Todestrieb er nicht widerstehen konnte.
Ich nahm lieber Abstand von dieser Welt, die die Balance von Trennung und Vereinigung zwar predigte, einen aber zum Hasen machte, dem der Igel schon immer voraus war. Unsere Freiheit, lautete das Mantra des Meisters, lag in der Verstrickung. Ich habe Heinrichs großes Buch »Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen« später als historisches Dokument einer Generation von Flakhelfern verstanden, die als »Hitlers letzte Helden« beim heimlichen Swinghören auf den dreh- und schwenkbaren 8,8-Fliegerabwehrgeschützen gelernt hatten, äußerlich mitzumachen und innerlich reserviert zu bleiben. Klaus Heinrich beschrieb den Traum einer Generation von der Unberührbarkeit in Indifferenz. Diese Phänomenologie der Coolness gefiel mir. Damit konnte ich etwas anfangen.
Jacob Taubes war der Widerpart zu Klaus Heinrich. Wer bei Taubes war, ging nicht zu Heinrich. Und wer Heinrich zu Füßen lag, mied Taubes. Bei dem stets in Schwarz gekleideten Judaisten, Hermeneuten und Philosophen trafen sich die Studenten, die das Geräusch von Presslufthämmern mochten, die schon mal probiert hatten, falsch zu spielen, und die den Schlag eines Zen-Meisters hinnehmen würden. Taubes, dessen Vater Zwi Taubes von 1936 bis 1964 Oberrabbiner an der Israelitischen Kultusgemeinde von Zürich war und der selbst Anfang der 1940er Jahre an einer der wenigen noch intakten Talmudschulen in Montreux zum Rabbi ordiniert worden war, entwickelte vor kleinem Kreis große Gedanken über falsche Versachlichungen politischer Kontroversen, lähmende Alternativbewegungen ohne weltverändernde Kraft und die Erfahrung der Geschichte als Galgenfrist. Was hatten wir zu bieten, wenn der Messias um die Ecke kommt, um die Welt zu erlösen? Das war ein übertriebenes, maßloses und arrogantes Denken, das uns Kleingeister und Kleingläubigen aus Elternhäusern ohne akademische Bildung in Atem hielt. Wir fühlten uns mit unsrer Parole »No Future« angesprochen: dass man sich, wenn es wirklich um etwas ging, weder auf die Vergangenheit noch auf die Zukunft rausreden konnte. Von Jacob Taubes erfuhren wir, dass die Apokalyptik revolutionär ist. Denn sie erwartet die Wende nicht in unbestimmter Zukunft, sondern ganz im nächsten Moment. Das apokalyptische Prinzip vereinige eine zerstörende und eine gestaltende Macht. Je nach Situation und Aufgabe tritt eine der beiden Komponenten hervor. Zerstörung ermöglicht Gestaltung, und Gestaltung bedingt Zerstörung.
Wer in den Kreis aufgenommen wurde, musste allerdings damit rechnen, dass alles bloßgestellt wurde: was man liebte, wie das, was man verabscheute. Mir war nie klar, wann Taubes den letzten Grund seines Denkens zum Ausdruck brachte oder wann er bloß einer Laune nachgab. War dieser Mann des einen Buches, das er mit Anfang zwanzig verfasst hatte und das den nicht gerade zurückhaltenden Titel »Abendländische Eschatologie« trug, ein Spieler, war er ein Hingerissener oder bloß ein Hochstapler, der sich immerzu verrannte? In einem Antiquariat in der Gneisenaustraße erstand ich 1981 für stolze 45 D-Mark eine noch nicht ganz aufgeschnittene Erstausgabe der »Abendländischen Eschatologie«. 1947 war das Buch in Bern in einer Reihe des in die Schweiz emigrierten Soziologen René König erschienen, und der Kartoneinband und die Papierseiten waren schon ganz mürbe und würden sicher sofort in Flammen aufgehen. In diesem körperlich gealterten, jedoch augenscheinlich unversehrten Buch standen mysteriöse Hammersätze, die man in der U-Bahn vor sich hin sagen konnte: »Erst die Ant-Wort des Menschen auf das Wort Gottes, welche wesentlich ein Nein ist, bezeugt die menschliche Freiheit. Darum ist die Freiheit zur Negation der Grund der Geschichte.« Taubes meinte nicht das verstockte Nein, das nur dem Selbstschutz dient, sondern das ungezwungene Nein, das einen überhaupt erst in die Existenz bringt.
Für Leo war Taubes der Partisan im akademischen Gewand. Er existierte aus dem Geist der Provokation, der seinen Gegner nicht überzeugen, sondern ihn gleich mit einem Adjektiv zerschmettern will. Solche Adjektive hießen »verdienstvoll«, »bemüht« oder wie ein Donner niederfahrend »flach«. Das konnte man bei Vorträgen von Kollegen mit nicht ganz so großen Namen wie im Theater miterleben. Taubes saß ganz vorne und schlief nach einer Viertelstunde regelmäßig ein, schreckte mit dem Schlussapplaus des Publikums auf und meldete sich sofort zu Wort. Hier habe ich gelernt, wie man jemanden rühmt, um ihm Angst einzujagen. »Sehr verehrter, lieber Kollege, so habe ich die Dinge noch nie gesehen. Was Sie ausgeführt haben, erinnert mich an eine Stelle bei Marcion, im Römerbrief oder bei dem großen Historiker Heinrich Graetz.« Die großartige Geste sollte den anderen so klein machen, dass er sich genötigt sah, seine Mittelmäßigkeit einzusehen und unter ihr zu leiden. Hätte man Taubes darauf angesprochen, hätte er in aller Unschuld erwidert: »Kein großer Charakter, der nicht zu irgendeiner Übertreibung neigte«, und hätte damit vor allem sich selbst gemeint. Taubes liebte den großen Atem, verfügte auch über die feine Ironie, aber wir Kinder aus der praktischen, quadratischen Bundesrepublik, die in der Frontstadt von der Suche nach der Wahrheit nicht lassen konnten, wussten zu keinem Moment, was am Ende schlimmer war.
Waren Frauen zu Gast zum Vortrag, schlief Taubes nie ein und gerierte sich als unglaublich aufmerksamer Charmeur, der der lieben Kollegin bei jedem Seitenhieb aus dem Publikum ritterlich zur Seite stand. Leo machte dahinter eine Methode aus, die sich beim zwanglosen Zusammensein nach dem Vortragsereignis, das zumeist sehr prosaisch in der »Luise« beim U-Bahnhof Dahlem-Dorf bei Thunfischsalat und gebackenem Camembert oder bei besonderen Gästen in der mondänen »Paris Bar« in der Kantstraße nahe beim Savignyplatz bei »Steak frites« stattfand, für uns schnell bewahrheitete. Wir anderen waren Luft, bestenfalls Stichwortgeber für immer neue Geschichten aus der großen, weiten Welt des Geistes, mit der er die Dame des Abends umwarb. Die suchte manchmal Kontakt zu uns im Tross, aber wir konnten ihr nur zu verstehen geben, dass eine Hilfestellung unsererseits nicht vorgesehen sei.
Leo war mein Schlüssel zum Phänomen Taubes. Er war so etwas wie Taubes’ Fahrer geworden. Von der FU nahm er ihn am Abend oft in seinem Auto mit zurück in die Stadt und setzte ihn am Erkelenzdamm in Kreuzberg, wo Taubes wohnte, ab. Die Wohnung, wo dieser wenige Wochen vor seinem Tod im Bademantel mit Kippa auf einem Sofa, ein Buch in der Hand, lesend aufgenommen wurde, hat er aber nie zu Gesicht bekommen. Vom Erkelenzdamm war es nicht weit zum »Exil« am Paul-Lincke-Ufer, wo Taubes unter Aufbietung seines ganzen intriganten Vermögens am großen Rad der Hochschulpolitik gedreht haben soll. Da stand Bernd Zimmer, der zu den »Neuen Wilden« vom Moritzplatz gehörte, am Herd, und da bediente Bruno Brunnet, als er noch kein Galerist war, am Tisch. Man kann sich gut vorstellen, wie sich Taubes an diesem Ort der Berliner Boheme des jungen und ambitionierten Bildungspolitikers Peter Glotz annahm. Wie er den Senator für Wissenschaft und Forschung mit den Geistessprüngen von Walter Benjamin zu Carl Schmitt und von Nietzsche zu Max Weber den Kopf verdrehte, um ihn dann davon zu überzeugen, dass die Universität vor jenem inzestuösen Justemilieu einer linken Trivialintelligenz durch die Berufung bedeutender Talente gerettet werden müsse. Der Gesellschaftslöwe Taubes hatte also im Unterschied zu den arrivierten Professoren der Kritischen Universität schon früh eine Nase für Kreuzberg. Ich selbst habe Taubes zwar öfters in der U-Bahn-Linie 1, aber nie in Kreuzberg gesehen.
Leo hatte über vier oder fünf Semester an einem zuletzt von vielleicht einem Dutzend Kommilitonen besuchten Seminar »Ästhetik der gnostischen Imaginationen: Hieronymus Bosch« teilgenommen. Dort habe man vor allem darüber hin und her überlegt, in welchem Verlag man die Ergebnisse am besten veröffentlicht. In der Theoriereihe von Suhrkamp könnte man das Projekt der Gnosis mitten in der von der Kritischen Theorie durchsetzten »suhrkamp culture« zur Geltung bringen. In einem kleinen, aber feinen Verlag wie Niemeyer würde man von der Seitenlinie den Ball mit der stillen Post der Gnosis ins Feld werfen. Die Seminarteilnehmer durften Beobachtungen über verborgene Verlagsstrategien beisteuern, auf überraschende Veröffentlichungscoups hinweisen oder gar mit Informationen über mögliche Interventionen von Geldgebern aufwarten. Das wurde vom Seminarleiter alles sorgsam erwogen und mit Geschichten über die Beeinflussbarkeit von Verlegern und die Beeindruckbarkeit von Lektoren garniert. Wie ernst dieses Spiel gemeint gewesen sei, habe man allerdings nicht ermessen können. Man spielte mit und dachte, das endlose Gerede über Verlage und Verleger, über dicke und dünne Bücher, über schlichte oder auffällige Umschläge, über schlagende oder verführerische Titel gehöre zur akademischen Welt.
Aber was um Himmels willen hatte Leo mit der Gnosis am Hut? Leo erklärte mir, dass die Gnosis die große Alternative zu Melancholie und Resignation sei. Wer nicht glauben könne, dass der Gott der Schöpfung, der diese grauenvolle Welt voller gewalttätiger Menschen, hinfälliger Körper, erschrockener Seelen und stummer Naturgesetze geschaffen hat, der einzige Gott ist, muss auf einen anderen Gott hoffen, der sich dieser an die bloße Materie, die ehernen Gesetze und blöden Hierarchien gebundenen Welt erbarmt und sich selbst als ein Gott, der Berge versetzen, Menschen heilen und Seelen trösten kann, offenbart. Ich müsse verstehen, dass die Bilder von Bosch mit ihren Miniaturen gequälter Kreaturen gegen die Schöpfung protestieren. Die Gnosis, die von der Orthodoxie immer schon als Häresie verfolgt worden ist, will sich der Welt, so wie sie ist, nicht ergeben. Sie stelle, das meinte Leo blutig ernst, die metaphysische Legitimation des Widerstands gegen jedes Gesetz und jede Behauptung von Hierarchie und Ewigkeit dar. Weil sie gegen alle Wahrscheinlichkeit und alle Gesetzmäßigkeit die Idee der Erlösung nicht fallen lasse. Jetzt verstand ich besser, was Leo bei Taubes gesucht und bei ihm gefunden hatte. Ich blieb trotzdem skeptisch. Offenbar konnte Taubes seinen Hörerinnen und Hörern das Gefühl vermitteln, sich in Gegenwart eines Eingeweihten zu befinden. Leo grinste, als ich ihm vorhielt, ob er nicht einem mit allen Wassern gewaschenen Jungmenschen-Verführer auf den Leim gehen würde. »Der gibt den kosmopolitischen Rabbi, der in Berlin genauso zu Hause ist wie in New York, Paris oder Jerusalem und dabei im Dienste einer geheimen Wahrheit des Kosmos steht.« »Du bist und bleibst ein ungläubiger Thomas. Der Name ist eben nicht Schall und Rauch, sondern Wort und Feuer.«
Von Taubes haben wir gelernt, dass die Schwermut linker Weltverlorenheit, in die sich viele Achtundsechziger in ihren Altbauwohnungen eingeigelt hatten, nicht weiterführt. Natürlich kann immer alles anders sein. Aber wer das sagt, steht draußen vor der Tür und schaut durchs Fenster und wundert sich darüber, dass der eine Bewohner ins linke Zimmer geht, obwohl er auch ins rechte hätte gehen können. Taubes wollte nicht lehren, wie man mit Kontingenz zurechtkommt, sondern dass in jedem Moment das Ganze auf dem Spiel steht. Hier, sagte er über einen Brief von Paulus oder eine Schrift aus der sabbatianischen Literatur gebeugt, hier wird etwas gefordert, was die Seele des Menschen so viel kostet, dass alle Werke dagegen nichtig sind.
Diese Esoterik für Aufsteiger passte ins Westberliner Museum für Behauptungen. Man konnte sich bei Jacob Taubes wie in einem Reich des Heiligen Geistes fühlen, in dem das Selbstdenkertum in journalistischer Form gelehrt wurde. Kurze Gelegenheitsschriften konnten nämlich mehr Wahrheit enthalten als dicke akademische Abhandlungen. Wenn Geschichte zuerst Frist ist, dann ist Kontemplation nichts anderes als Entlastung.