Der Punk bot mir nur oberflächlich Schutz. Ich konnte noch so schrill durch die Welt gehen, der Moment des Ausziehens war heikel. Mein Nacktsein brauchte eine Geschichte. Diese Geschichte wollte ich nicht erzählen. Ich war nicht bereit, Fremden meinen Körper zu erklären, und so blieb ich allein. Die Liebe zu Frauen brachte mich zurück in die Welt des Sex. Der Blick einer Frau machte es mir leichter, meinen Körper zu zeigen. Wir feierten damals ausschweifende, orgiastische Frauenfeste. Frauen boten alles. Es gab die glamouröse, die wilde, die kapriziöse, die intellektuelle, die mütterliche, die zornige, die charmante, die pragmatische, die kluge, die burschikose, die mädchenhafte, die anmutige Frau. In Ballsälen halb verfallener Grandhotels entfaltete sich unsere Pracht. Unter Kronleuchtern tanzend, fanden wir uns wunderschön. Überall nur Verführung. Ein neuer Kosmos, der begeisterte und Glück bedeutete.
Echte Lesben, mit denen ich durch die Nacht zog, mochten bisexuelle Frauen gar nicht. Sie blieben auf Abstand. Freundinnen, die auch Männer liebten, ließen sich auf Abenteuer ein. Lange vermisste ich die Männer nicht. Frauenliebe war leichte Liebe. Irgendwann jedoch ergab sich die Gelegenheit, und ich entdeckte das Begehren nach dem Anderen wieder. Der Genuss des ungleichen Körpers. Nach dieser Liebesnacht auf den Geschmack gekommen, begann sogleich das alte Spiel der Treulosigkeit und der Feigheit. Ich erinnere mich an den grünen, feuchten Maiabend, an dem ich vor dem eleganten Bau der Freien Volksbühne übrig blieb. Alle strömten von mir weg hinein ins Theater. Ich blieb allein draußen stehen mit meinem kleinen blauen Hut auf dem Kopf und den beiden Eintrittskarten in der Hand. Das Elend der Welt. Ich trinke Barbera für meine schwarze Seele. Heulend, zerschlagen und unglücklich liege ich unter der Decke. Was bin ich auch so dünn und an den Hüften nicht einmal Bananen. Am nächsten Morgen wachte ich auf mit dem sicheren Gefühl, dass ich keinen weiteren Schmerz mehr aushalten werde. Mein Körper erinnerte sich sehr wohl noch daran, was passiert war. Ganz plötzlich überfiel mich das geisterhafte Gefühl, zerdrückt zu werden. Da brauchte es nicht auch noch den Schmerz der unerfüllten Liebe. Er ist es und er ist es nicht. Kein Schmerz mehr und deshalb auch keine Liebe, schwor ich mir. So wurde ich durchlässig für kurze Affären. Mit Frauen, aber auch mit Männern von überall her. Mit iranischen oder ägyptischen Studenten und mit kurdischen Handwerkern oder ghanaischen Musikern gab es keine kulturellen Probleme. Religion spielte keine Rolle. Eine gemeinsame Zukunft war nie im Gespräch. Woher sie kamen und wohin wir gingen, war unwichtig. Diese Männer hatten sich die Bärte abrasiert, manche von ihnen schminkten sich. Sie lebten promiskuitiv. Das beruhigte mich.
Am Morgen meines 25. Geburtstags kam ich spät aus irgendeiner Bar. Es war schon hell, vor unserem Haus stand ein Sofa auf der Straße. Ich dachte daran, dass meine Mutter mit 25 ihr erstes Kind bekommen hatte, und dass ich nie Kinder haben wollte. Das klägliche Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Weißt du, wohin, Luise? Kurz darauf bewarb ich mich an der Slade School in London für ein Stipendium. Ich wurde ausgewählt und griff zu. Leichten Herzens verließ ich Berlin.
Ich kam in einem Genossenschaftsprojekt in der Nähe von Ladbroke Grove unter. Eine Künstlerkollegin war Genossenschaftlerin und besorgte mir eine für 23 Pfund im Monat unfassbar günstige Einzimmerwohnung. Die Gegend war vollgestellt mit wuchtigen, dunklen Backsteinblocks, in einem davon wohnte ich. Nachts im gelben Straßenlaternenlicht schimmerten die Bauten warmgolden. Die Straße sah dann aus wie eine Filmkulisse. Nur noch wenige Engländer entsprachen meiner Vorstellung von Engländern. Bei den Dozenten der Seminare oder auch bei unserem Landlord hatte die »behavior« durchaus noch eine besondere Note. Und manche Ladys an den Bushaltestellen wirkten »really british«. Die Jungen waren es definitiv nicht mehr. Sie waren hip und sehr nervös. Auffallend viele Männer hatten abgebissene Fingernägel. Kein Wunder, das Leben war anstrengend und teuer. Thatcher-Time! Auch mir reichte das Geld vorne und hinten nicht. Schuld daran war »the hole in the wall« — die ATM-Stationen. Geld abheben, wann immer man wollte, das war völlig neu für mich. Ohne nachzudenken, erlag ich der neoliberalen Verführung. Mein Konto war immer leer gefegt. Das war mein privates Deficitspending.
London pflegte traditionelle Strukturen, die wir in Berlin nicht kannten. Donnerstag war »Day Out«, donnerstags ging man aus. Um 23 Uhr, nach dem berüchtigten »Last Order«, hieß es schnell noch zwei Pints ergattern, die man in atemberaubender Geschwindigkeit in sich hineinschüttete. Meine Freunde und ich hatten kein Geld für Clubs hinterher. Also gingen wir in die illegalen Clubs, und ich war glücklich, die »home bar« wiedergefunden zu haben. In den indischen Clubs stand groß »No Drugs allowed« am Eingang, die Luft war geschwängert mit Räucherstäbchendüften, und zu trinken gab es Tee mit Zucker. Die schwarzen Briten aus der Karibik wohnten in unserer Nachbarschaft. Ladbroke Grove gehörte zur heruntergekommenen Inner City London. Die Clubs waren in Souterrains in den Straßen rund um die Portobello Road. Man stieg die Treppen runter, am Eingang saß gewöhnlich eine karibische Mama um die sechzig, und wir gaben ihr ein Pfund, um hinter ihr im engen Keller zu Reggaemusik zu tanzen. Linton Kwesi Johnsons »Inglan Is A Bitch« war immer zu hören. Warehouse Parties in East London erinnerten mich an zu Hause. Die Gegend war arm, verwahrlost, die Läden verbarrikadiert, die Straßen schmutzig. Hier wohnten ultraorthodoxe Juden und strenggläubige Moslems nebeneinander. In riesigen, dunklen Hallen mit hohen Fenstern hörten wir höllenlauten Rap, rauchten Gras und tanzten, bis der Tag graute.
Meine Künstlerkollegin Elizabeth und ich hatten damals beide karibische Liebhaber. Sie arbeitete in ihrem kleinen Wohnzimmer emsig an einer großen Skulptur aus Terrakotta, und ich ging mit ihrem Freund aus, wenn mein Freund keine Zeit hatte. Einmal landete ich vor ihm in der verabredeten Bar zwischen lauter anderen schwarzen Männern. Die sahen mich da gar nicht gerne. »Just because you wear a black coat, you are not supposed to come here.« So lernte ich ein anderes Fremdsein kennen.
Wenn ich nicht in einem Seminar über John Ruskins venezianische Zeichnungen, Anthony Caros Skulpturen, Cut-up-Technik in den Texten Kathy Ackers oder Jean-Pierre Melvilles filmische Darstellung der Kälte saß, ließ ich mich durch die Stadt treiben. An der Hochschule lieh ich mir eine tragbare Videokamera aus, und ohne Plan hielt ich fest, was ich sah. Heute kommt es mir so vor, als ob ich geahnt hätte, dass dieses London noch während meiner Lebenszeit unwiederbringlich verloren sein würde. So war ich, ohne es zu wissen, erneut beim Vergänglichen gelandet. Abends in meiner kleinen Wohnung zeichnete ich Aquarelle. Dazu hörte ich Maria Callas »Addio del passato« singen, immer wieder »Naima« von John Coltrane und manchmal die illegalen Radiosender der West Indies mit Reggae und Dub. Keiner meiner Berliner Freunde wäre auf die Idee gekommen, mich zu besuchen. Das wäre viel zu teuer gewesen und interessierte sie nicht wirklich. Lynn schrieb ich, ich würde meine Filme mitbringen. Wir könnten noch einmal »home bar« spielen und danach all das vergessen.
Als es zurück nach Deutschland ging, begleitete mich mein Liebhaber zur Victoria Station. Plötzlich wechselte er von meiner rechten auf meine linke Seite. Gerade, als ich ihn fragen wollte, weshalb, sah ich den Skinhead, der uns rechts begegnete. Er richtete einen hasserfüllten Blick auf den schwarzen Mann, der die weiße Frau im Arm hielt. Ein bitterer Abschied. Inglan Is A Bitch.
Fürsorglich hatte mir Michael ein Vollkornbrot, das steinhart ankam, nach London geschickt, aber er hatte mir nichts geschrieben von den Veränderungen im Haus. Wahrscheinlich hatte er mich nicht beunruhigen wollen. Wir wurden älter. Jan fielen die Haare aus, Lynn trug jetzt weiße Blusen, und Marianne kiffte nur noch am Wochenende. Bevor ich nach London abgereist war, war schon klar, dass Thomas und Robert ausziehen würden. Ich hatte keinen Versuch unternommen, sie zum Bleiben zu bewegen, aber jetzt, da andere in ihre Wohnung eingezogen waren, spürte ich, wie sehr es mich verunsicherte, sie nicht mehr in meiner Nähe zu wissen. Ich nomadisierte durchs Haus, erzählte meine Geschichten und hörte den Geschichten der anderen zu. Wir kannten uns, vertrauten uns, aber unser gemeinsamer Lebensmittelpunkt war mit dem Ende der Bewegung verloren gegangen. Wir waren auf der Suche nach einem neuen Sinn.
Ein ausgebleichtes Polaroidfoto zeigt mich neben meiner Skulptur »Spanische Geherin«. Es wurde in meinem Atelier an der Hochschule aufgenommen, dort, wo ich meine erotische Beziehung zur Kunst wiedergefunden hatte. Meine Haare sind sehr kurz geschnitten. Nichts sollte mich beschweren. Die weite Arbeitshose ist mit Farbflecken übersät, mein Gesichtsausdruck konzentriert und ernst. Meine Aufmerksamkeit wird vollkommen von der neben mir stehenden Skulptur in Beschlag genommen. Ich trage ein kurzärmeliges weißes Herrenunterhemd. Wenn man genau hinschaut, dann entdeckt man die vielen Narbenstiche auf meinen Armen. Daneben legte ich ein Foto, das vor dem Unfall im Fotoautomaten im U-Bahnhof Kottbusser Tor gemacht worden war. Was ich sah, überraschte mich: Eine Träumerin war ich geblieben.
The Invisibles. Künstlerinnen blieben unsichtbar. Zählten einfach nicht im Kunstbetrieb. Zwar zeigte man allmählich ein gewisses Interesse für feministische Themen, doch als Künstlerin wusste ich damit nichts anzufangen. Es sollte um meine Kunst und nicht mein Geschlecht gehen. Rosemarie Trockels Strickbilder und polierte Herde in allen Ehren, aber mir war diese Kunst zu sehr mit dem weiblichen Körper und dem Hausfrauendasein verbunden. Warum entschied ich mich für die Bildhauerklasse? Damals interessierte mich die internationale Zusammensetzung der Klasse, aber heute denke ich, dass es eigentlich um Soraya ging. Soraya war Filmerin. Sie liebte den Rhythmus der bewegten Bilder, wollte eingreifen und mittendrin sein. Ich dagegen war Beobachterin. Meine Position war außerhalb. Die bemalte Skulptur im Raum war für mich ein eigenständiges Objekt, das von jeder Seite etwas anderes von sich sehen ließ. Ich spürte, wie glücklich mich die Nächte im Atelier mit der Skulptur machten. Ich war im Dialog mit Soraya. Ich durfte die Erinnerung an sie nicht zumüllen, sondern wollte ihr eine Form geben. Im Alltag betäubte ich meinen Schmerz durch das Abspulen ausgedachter Geschichten, die ich leise vor mir hersagte und irgendwann anfing, selbst zu glauben. Doch wenn mich die Erinnerung daran überfiel, wie mir Soraya einmal kurz den Arm um die Schultern gelegt und »Na, Freundin« gesagt hatte, ergriff mich die schiere Verzweiflung. Was sollte ich bloß mit dieser Erinnerung anfangen?
Drei Frauen waren verschwunden. Soraya und Vroni waren tot. Von Elena traf keine Nachricht ein. Ich wusste nicht, wo sie war und wie es ihr ging. Wie die beiden toten Frauen war sie einfach nicht mehr da. An Sorayas Tod und an Elenas Verschwinden fühlte ich mich schuldig. Und es war ein harter Kampf, die bösen, hinterhältigen Einflüsterungen des Albs, der noch immer festgekrallt zwischen meinen Schultern saß, zu überhören. Er erinnerte mich an die Nacht, die ich mit Vroni in einer Schöneberger Eckkneipe zugebracht hatte. Flipper, Bier, Musikbox. »Da da da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht«. Dann Little Richards »Midnight Special«. Vroni und ich tanzten Rock ’n’ Roll, und die Säufer sahen zu. Auf unserem frühmorgendlichen, sonnigen Heimweg tauschten wir Turnschuh gegen Stöckelschuh. Irgendeiner im Haus war immer wach. In diesem Fall Michael, der zur Friedrichstraße fuhr und zwei Flaschen Sekt im Intershop kaufte. Mit Blick auf die Türme des Bethanien dozierte ich über Innenräume und Außenwelten, über Vermeer und die bewusste Inhaltslosigkeit bei Mondrian. Vroni war ganz Ohr. Michael schlief derweil auf ihrem Schoß ein. Nach dieser Nacht waren Vroni und ich uns verbunden. Der Alb zischte drohend, dass der Tod sich ja geirrt haben könnte. Der Tod lauerte doch mir auf, hatte es auf mich abgesehen und nun bereits zum zweiten Mal die falsche Frau geholt. Wenn ich ihm zuhörte, brach mir der Schweiß aus, und ich ballte die Fäuste zusammen. Zu abstrus hörte sich das an, und ich konnte mit niemandem darüber reden. Heute weiß ich, dass ich meine Zukunft in der Kunst suchte. Die Kunst blieb als Einziges wesentlich.
Es hieß, der schwedische Assistent stecke hinter der Künstlerstudienreise. Er sei überzeugter Kommunist und ein Freund der KP China. Außer Henry Kissinger und die Kader irgendwelcher kommunistischer Splitterorganisationen ließen die Chinesen damals nämlich niemanden in ihr Land. Wir waren eine Gruppe von zehn Meisterschülerinnen und Meisterschülern und fanden, die Einladung stand uns zu. Wer, wenn nicht wir, sollte Westberlin repräsentieren. Die Reise begann mit einer 38 Stunden langen Zugfahrt durch das sozialistische Ausland. Drei Grenzen. Eine Zeitreise. Ústí verschlief ich. In Prag war ich wach. Obwohl ich wusste, dass es sinnlos war, suchte ich den Bahnhof nach dem Gesicht von Dr. Lípa ab. Weiter über Budapest und schließlich Bukarest, wo die Männer goldene Zähne hatten und kleine Pelzmützen trugen. Von Bukarest aus flogen wir über Karatschi nach Peking.
Das Erste, was ich hörte, war ein deutliches Surren in der Luft. Es dauerte, bis ich begriff, dass dieses nie enden wollende Geräusch von den riesigen Scharen an Radfahrern kam, die in der Stadt unterwegs waren. Radwege, so breit wie der Ku’damm. Ansonsten Busse an Oberleitungen, wenige Taxis und Privatfahrzeuge. Auf den Straßen und Plätzen sah ich Männer mit Maomützen, viel Grün und Blau der Uniformen, dazwischen weinrote Kleider. Uns Langnasen, die am Straßenrand saßen und den Passanten zusahen, trafen abschätzige Blicke. Tourist, wie man noch nie Tourist gewesen war: Wir waren unübersehbar anders. Nur morgens, wenn wir gemeinsam unsere Frühstückssuppe schlürften, fühlte ich mich den Chinesen nah. Wir hatten den gleichen Geschmack im Mund. Ich verstand nicht, was ich sah, und deshalb aß ich den ganzen Tag, erkundete China mit dem Gaumen. Mild geräucherte Schlange, Ratte mit Knoblauch und Ingwer, weiße, weiche Bandnudeln, Flughund mit grünem Pfeffer, Tausendjährige Eier. Auf den lauten Märkten wurden die Tiere mit Haut und Haaren angeboten. Die Zahnärzte mit Bergen von ausgerissenen Zähnen vor sich warteten breit lachend auf Kundschaft. Die Männer, deren Geschäft es war, Dornwarzen aus den Fußsohlen zu ziehen, standen mit ernstem Gesichtsausdruck daneben. Die Kassiererinnen in den Geschäften hatten Holzrechenmaschinen, die sie irre schnell bedienten. Die Toiletten waren rechteckige, schmale Pissritzen. Die Chinesinnen saßen dicht nebeneinander und strullten ungeniert, unterhielten sich murmelnd oder warteten geduldig, bis ein Platz an der Ritze frei wurde. Blutige Monatsbinden wurden gewechselt und eingepackt. Ein beißender Ammoniakgeruch raubte mir fast den Atem. Bei nächtlichen Fahrradfahrten durch die schmalen, verwinkelten Straßen verloren wir uns im Dickicht chinesischer Zeichen und einstöckiger Wohnhäuser. Die Luft in Peking war trocken. Mich quälte ein beißender Husten, und ich erinnerte mich der metallischen, frischen Meerluft Londons.
Mit freundlicher Neugierde erwarteten uns unsere chinesischen Künstlerkollegen in der Akademie. Kalligraphie an den Wänden. Uns wurde altmeisterliche Malerei vorgeführt. Überall standen gipserne, michelangeloartige Bruchstücke herum. Figurativ versuchten die chinesischen Künstlerinnen und Künstler an den westlichen Stil heranzukommen. Ihr Eigenes litt. Wir trafen Bildhauer, die Monumente, Figuren und Statuen auf staatlichen Auftrag ausführten. Wir aus dem Westen waren uns einig, dass wir solche Aufträge ablehnen würden. Lieber arm bleiben als sich mit Helmut Kohl beschäftigen. Die Übersetzerin, die zugleich Aufpasserin war, wich nicht von unserer Seite. Mit zusammengepressten Lippen verfolgte sie das Zusammentreffen. Unsere Fragen nach der Kulturrevolution blieben unbeantwortet. In der Ferne begriff ich Beuys’ Kojotenaktion. Drei Tage und drei Nächte mit einem Drachen in einem Käfig eingesperrt, dann wüsste ich am Ende mehr von diesem Land.
In der Abenddämmerung fuhren wir mit dem Zug nach Schanghai. Die Farben Schanghais sind Altrosa, Tintenschwarz, Algengrün und Fledermausgrau. Das Tuten der Schiffe im Hafen klang sentimental in meinen Ohren. Im Kolonialbau eines ehemaligen deutschen Cafés trank jetzt die chinesische Intelligenzija Kaffee. Junge Männer, alte Männer, nur wenige Frauen. Saßen und sahen aus wie in den zwanziger Jahren in Wien oder Berlin, nur auf Chinesisch. Sie trugen Sakko, redeten viel, rauchten genüsslich, looking forward mit einem gewissen unverbrauchten Glänzen in den Augen. Ich erinnerte mich, wie ich mit Diana im VW Käfer nach Chinatown gefahren war. Wo geschah das Eigentliche unserer Zeit? War ich eine Künstlerin des 20. oder schon des 21. Jahrhunderts? Es war 1986, und meine Jahresfarbe war Caput mortuum, braunrotes Eisen.
Am 3. Mai verbreitete sich die Nachricht, in der UdSSR nahe der weißrussischen Grenze habe es in einem Atomkraftwerk einen Unfall gegeben. Angeblich über zweitausend Tote. Eine nukleare Wolke treibe auf Skandinavien zu. Keine der anderen Langnasen wusste Genaues, und die Übersetzerin verweigerte auf Nachfragen die Antwort. Unsere Rückreise nach Berlin sollte mit der Transsibirischen Eisenbahn bis Moskau und dann weiter mit dem Zug durch Weißrussland führen. In Peking warteten wir stundenlang in der deutschen Botschaft. Die Botschaft hatte keine direkte Telefonverbindung nach Deutschland. Einmal in der Woche traf üblicherweise ein Telex aus Bonn ein. So waren die Diplomaten ebenso ratlos wie wir. Wir machten Jagd auf »China Daily«, die englischsprachige Tageszeitung. Seltsame Situation: Die Katastrophenmeldungen, das war die Wirklichkeit von uns, den Ausländern. Die Chinesen ging das offensichtlich nichts an.
Obwohl wir nur ungenaue Vorstellungen über das Ausmaß der Katastrophe hatten, bestiegen wir die Transsibirische Eisenbahn. Fahrt durch die Innere Mongolei, durch die Wüste Gobi. Die Berge, die Häuser, die Schafe — alles in einem hellen Braun. Frauen mit breiten Gesichtern, schmalen Augen und langen Zöpfen schauten dem Zug nach. Die Kinder winkten. Stundenlange Fahrt entlang des Baikalsees. Eisschollen trieben auf dem dunklen Wasser. Die Birkenwälder brachten mich zurück nach Berlin. Mir fielen »Die Sommergäste« ein, Peter Steins auf der Pfaueninsel gedrehter Film. Inmitten lichter Birkenwälder tagträumen junge Frauen und Männer im vorrevolutionären Russland, dass sie nur Sommergäste in einem zerfallenden Land seien. Alles befindet sich in Auflösung. Sie streiten sich darüber, ob die Wahrheit oder die Schönheit oberste Priorität in der Kunst hat. Das war die Frage, die wir in China nicht hatten stellen können. Wir selbst wussten auch keine Antwort darauf. Meine letzten Rubel rollten für ein paar Löffelchen Kaviar, bitteren Kaffee und mehlige Kekse. Am siebten Tag gab es endlich Papirossy und Sonne. Die Nacht in Moskau, bevor es weiterging, verbrachten wir in einem Hotel in der Nähe des Roten Platzes. Ein Unfall habe sich ereignet, hieß es lapidar. Schulterzucken. Ahnungslosigkeit. Während wir in der deutschen Botschaft saßen, beobachteten wir, wie das deutsche Personal mit Geigerzählern im herrschaftlichen Garten umherwanderte. Ein absurdes Bild: Sie hielten die piepsenden Geigerzähler an die Blätter. Das war ihr verzweifelter Versuch, etwas über die Katastrophe in Erfahrung zu bringen. Scharf umrissen in Szene gesetzt sah ich die rote Fahne auf dem Kreml. Auf der Straße erinnerten mich die stark geschminkten Antifaschistinnen an die Filmdiven längst vergangener Tage.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin zahlte unseren Flug von Moskau nach Frankfurt am Main. Von dort aus ging es weiter nach Hause. Wir überflogen das Gebiet, in dem sich eine Katastrophe ereignet hatte, von der wir nur gerüchteweise gehört hatten. Wir waren seltsam unbekümmert.
Die anderen erschraken zuerst und freuten sich dann doch noch, als sie mich unversehrt und munter in unserer Küche antrafen. Erst allmählich begriff ich das Ausmaß des Unglücks. Das Atomkraftwerk von Tschernobyl war nur 1500 Kilometer von Berlin entfernt. Den offiziellen Regierungsverlautbarungen war anzuhören, dass sie eigentlich nichts wussten. Wir ahnten den Kontrollverlust, weigerten uns jedoch, ernsthaft darüber nachzudenken, was geschehen war. In meinem Kopf fing es ganz leise an zu brummen. So, als käme mein Denken nicht mit. Ich wusste, wie verdrängen geht, aber nicht, wie verleugnen funktioniert. Wir waren bilderlos, hatten keine Vorstellungen, spürten nichts. Besser man verschloss davor die Augen. »Super-GAU« und »Strahlentod« gingen uns ganz selbstverständlich von den Lippen. Wir befanden uns in einer apokalyptischen Situation, an die zu denken man sich zwingen musste, denn die Welt um uns herum sah nicht anders aus als zuvor. Eine unsichtbare und unheimliche Macht bedrohte uns. Nach und nach mehrten sich jedoch die sichtbaren Anzeichen dafür, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Mit unserem ganz normalen Alltag stimmte etwas nicht. Schwangere sahen der Geburt ihres Kindes mit Schrecken entgegen. War ihre Muttermilch kontaminiert? Warum ein Kind auf die Welt bringen, wenn diese Welt radioaktiv verseucht war? In der U-Bahn fingen vor allem Männer mittleren Alters unvermittelt an, leise zu weinen. Kinderspielplätze wurden mit gelb-schwarzem Flatterband abgesperrt und Sandkisten abgedeckt. Kinder sollten im Haus bleiben. Wer es sich leisten konnte, ergriff die Flucht. Berlin lag im verstrahlten Osten. Kreuzberger Mütter brachen mit ihren Kindern nach Gomera auf. Besucher sagten ihre lang geplante Reise nach Berlin ab. Jodtabletten und H-Milch waren flächendeckend ausverkauft. Wir horteten Konserven. Auf einmal fanden wir es gar nicht mehr so lächerlich, dass der Senat für den Fall einer erneuten Blockade Vorräte für die Bevölkerung angelegt hatte. Ohne Regenschirm verließ man nicht mehr das Haus, denn angeblich hatten sich Wolken, die radioaktive Partikel mit sich trugen, über Europa verteilt. Wir hatten Angst davor, Milch zu trinken, frisches Obst zu essen, uns auf die Wiese zu setzen, schwimmen und nach draußen zu gehen. Am meisten Angst hatten wir vor dem Regen. An dem Tag, als der Regen kam, saß ich mit Freunden in einer Bar. Ein Mann kam hereingestürmt, der rief ganz laut: »Es regnet!« Wie sollte man sich verhalten? Es war wie in einer Filmszene: Wildfremde fielen sich weinend in die Arme, andere starrten vor sich hin ins Leere, und nicht wenige sprangen auf und tanzten ausgelassen im prasselnden Regen.