Im Herbst 1983 sollte angeblich auf Einladung von Jacob Taubes Jacques Derrida in der Stadt gewesen sein. Weder Leo noch sonst wer aus unserem Kreis war dabei gewesen. Alexa mit den kleinen Zähnen hätte einiges, wahrscheinlich sogar noch viel mehr dafür gegeben, mit von der Partie zu sein. Einzig die Merve-Verleger Heidi Paris und Peter Gente wurden als Zeugen genannt, aber sie rückten mit der Sprache nicht raus. Ob Derrida eine seiner endlos langen Danksagungen abgeliefert hätte für die ehrenvolle Einladung an eine Universität, die sich »Freie Universität« nannte, in der er womöglich ausgeführt hätte, dass die Freiheit ohne die Unfreiheit gar nicht zu denken sei, weshalb es keine Freiheit ohne Unfreiheit gebe. Ob er an bestimmten Stellen ins Deutsche gewechselt wäre. Ob eine Frau mit rotem Lippenstift an seiner Seite gesessen hätte. Ob tatsächlich der Geruch eines Parfüms von Hermès in der Luft gelegen hätte. Nichts war ihnen zu entlocken. Nicht einmal, wo dieses geheime Treffen der gespenstischen Geister stattgefunden hätte. Sodass Leo augenzwinkerte, ob es sich überhaupt auf dieser Welt und nicht in Bielefeld zugetragen hätte.
Es sei irgendwie um Nietzsche gegangen, um die Strategien der Löschung von Name, Werk und Leben, um den Schreiber von »Ecce homo«, der kein Mensch, sondern Dynamit sein wollte, und darum, dass es vielleicht nur ein Vorurteil sei, dass man lebe, und dass sich diese gewagte Vorwegnahme eines Lebens in der Gegenwart erst bewahrheite, wenn man tot sein wird. Unsere ungläubigen Blicke über diese Lust am Verlust waren den beiden keine weitere Erläuterung wert. Derrida habe eben einen Vortrag wiederholt, den er schon mal in den USA gehalten habe, und Taubes habe sich mit Derrida in Bezug auf Nietzsches Jugendtext »Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten« darüber verständigt, dass die »akademische Freiheit« eine betrügerische Illusion sei, und beide hätten die Frage aufgeworfen, wo man Schluss mit dem Nazi-Nietzsche machen müsse und was für eine Politik mit einem anderen, wahren Nietzsche nach dem Erdbeben, von dem Nationalsozialismus und Faschismus nur Episoden gewesen seien, erst im Kommen sei. Wir wollten mit Heidi und Peter darüber sprechen, was hier »im Kommen« heißen solle, aber da bissen wir auf Granit. Peter murmelte was vom Bilderverbot, und Heidi wurde geradezu unwirsch über unser Unverständnis.
Ich hatte Peter bei einem frühabendlichen Treffen mit Leo und ein paar anderen Leuten in der »Feinbäckerei« in der Vorbergstraße kennengelernt, bei dem es um ein Zeitschriftenprojekt ging. Das Lokal mit dem Trödelcharme einer Studentenkneipe war Leos Wohnzimmer. Leo hatte die »nicht mehr schönen Künste« im Auge: die Rechtfertigung des Hässlichen, den Wert des Kitschigen, das Lachen der infamen Menschen, den Reiz des Obszönen und die Komik des Endes. Das war das Programm einer anderen, nicht mehr repräsentativen Literaturwissenschaft, die sich den niederen, verpönten und links liegen gelassenen literarischen Formen verschreiben sollte. Leo hatte sich mit einem Papier schwer ins Zeug gelegt. Dahinter standen die uns mächtig beeindruckenden Bände des hochheiligen Professorenprojekts »Poetik und Hermeneutik«, in denen ziemlich grundsätzlich die Frage nach der Wirklichkeit gestellt wurde. Nicht einfach im Sinne einer gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, so als ob irgendjemand sagen könnte, aufgrund welcher gesellschaftlichen Veränderungen sich welche Wirklichkeitsverständnisse ergeben haben, sondern im Sinne eines »Herausholens« von Weltbildern aus der Wirklichkeit. Leo war davon überzeugt, dass die abseitigen Künste von Splatterfilmen, Monstermärchen und Trivialmythen hier einen besonderen Zugang böten, um die Verschränkung von Fiktionen und Fakten im Machen von Erfahrung selbst zu verstehen. Leo hatte sich eingebildet, dass so eine Zeitschrift in Heidis und Peters Merve Verlag erscheinen könnte. Peter rauchte eine Zigarette nach der anderen, bestellte sich ein Bier nach dem anderen, sagte aber so gut wie nichts zu dem Vorhaben. Er war wohl gekommen, weil er mitgekriegt hatte, dass Leo mit Taubes verbandelt war, aber offenbar war ihm das Ganze zu akademisch bestrebt und zu literarisch beschränkt. Mit seinem riesigen Schädel bildete er zweifellos die Mitte der Runde. Aber die Mitte blieb stumm und leer. Nach zwei Stunden war er plötzlich weg, und wir kamen uns alle wie in einem Stück von Botho Strauß mit dem Titel »Merve Farce« vor. In einer Fußnote am Ende des 1982 bei Merve erschienenen Bandes »Geniale Dilletanten« (genau so geschrieben) hatten Heidi und Peter notiert: »Wir sind Dilettanten und bekennen uns fröhlich dazu, unseriös zu sein, schlechte und billige Bücher zu machen.«
Von dem Tunix-Kongress, wo alles angefangen hatte, habe ich zwei Fotografien von Heidi und Peter in der Hand, auf denen die beiden Verleger von Merve in Aktion zu sehen sind: Heidi als gewinnende junge Frau, die an der Seite von Michel Foucault mit seinem Haifischlachen in der zweiten Reihe vorn im TU-Audimax sitzt und es genießt, dass alle Blicke auf sie gerichtet sind. Der vierzehn Jahre ältere Peter steht mit langen Haaren und in Parka-Kluft irgendwo an einer Ecke im Hintergrund und ist ganz das große Ohr, das für alle Wellen empfänglich ist und dem nichts entgehen wird. Er kann sein Ohr zwar nicht schließen, aber er weiß genau, wem er es leihen und wann er es spitzen sollte. Ich hatte damals beide mit einer gewissen Ehrfurcht beobachtet, weil es hieß, dass ihre Bücher in Stammheim genauso wie in Starnberg gelesen werden würden.
Heidi war nicht durch Eiswüsten der Abstraktion gegangen, um die ganze Begründungs- und Rechtfertigungswut des kritischen Denkens abzuschütteln. Sie spielte gegenüber dem von 1968 geprägten Peter die Gnade der späten Geburt voll aus und setzte sofort jenseits von allem Negativen und Dialektischen an. Das Bataille’sche Lachen machte ihr keine Mühe, es war für sie vielmehr der selbstverständliche Ausgangspunkt fürs Agieren im Freien. Bei Peter diente immer der lange Weg von Marx und Freud zu Nietzsche, Foucault, Derrida, Deleuze, Cixous und Virilio zur Erklärung. Er fühlte sich befreit von einer Last, die Heidi so nie empfunden hatte. Peter musste dem Ich in heroischen Akten immer wieder seine transzendentale Würde nehmen, für Heidi war von Anfang an klar, dass man nur dann werden kann, wer man ist, wenn man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist. Peter kam immer wieder auf Adornos »Minima Moralia« zurück, Heidi war dieses Stundenbuch aus der noblen Bibliothek Suhrkamp fremd und im Grunde herzlich egal.
Nähergekommen sind wir uns im »Nürnberger Trichter«. Das war eine Kneipe Nürnberger Ecke Augsburger Straße gleich neben einem dieser Berliner Etagenhotels gleichen Namens. Ursprünglich wollte ich mit Robert dahin gehen. In einigen Hotelzimmern, in denen Gäste wie Heiner Müller, Robert Wilson, Gilles Deleuze, Harald Szeemann oder Kathy Acker logiert haben sollen, war eine Kunstaktion angesagt. Dann war Robert doch nicht erschienen, sodass ich mich allein in meinem schwarzen Zweireiher, den ich unter den Secondhand-Anzügen bei Arno in der Wiener Straße gefunden hatte, unter die sehr zu überblickende Schar mischte. Ich erkannte Thomas Kapielski, Hanns Zischler, Reinhard Mucha, Hannes Böhringer, traf überraschenderweise auf Alexa mit den kleinen Zähnen, die mir erzählte, dass sie an einer Übersetzung für Merve saß, und grüßte Peter, ohne mir sicher zu sein, dass er mich wiedererkannt hatte. Geboten wurde eine Art Geisterbeschwörung von Übernachtungsorten, wo es ein Leichtes sein könnte, das Schwerste zu schreiben. So jedenfalls habe ich die Zeichen- und Wortdarbietungen in Erinnerung, die sich ungefähr zwei Stunden hinzogen. Ich ließ den Dingen ihren Lauf und bemühte mich um ein Bild stoischer Ruhe. Danach ging es in die Eckkneipe, wo die Stammgäste »Küstennebel« tranken und für fünfzig Pfennig Hans Albers’ »Auf der Reeperbahn nachts um halb eins« aus der Musikbox hörten. Mit einem Mal stand Heidi neben mir und fragte mich, was aus dieser Sache mit der Zeitschrift geworden sei. Peter hatte mich also erkannt und Heidi Bescheid gegeben, dass ich vielleicht zum Club gehören könnte. Sie hatte überhaupt nichts Eingebildetes oder Selbstgefälliges. Ich brauchte mich nicht ins Zeug legen, sie verlangte keine Gegenleistung für den Schritt auf mich zu. Heidi schien einfach nur sagen zu wollen: »Wir nehmen dich wahr, wir registrieren, wie du mitgehst, und wir sehen dann mal weiter.« Ich war nur überrascht über ihre hellen blauen Augen, die nichts festhalten und nichts bewahren wollten. Diese Augen glaubten nicht daran, dass es da eine Welt gibt, die von ihnen wahrgenommen wird. Ich habe in der Musikbox »Azzurro« von Adriano Celentano aufgelegt, und wir kamen auf Tom Wolfes »Das bonbonfarbene tangerinrot gespritzte Stromlinienbaby«. Dann ging’s um Wolfes weißen und meinen schwarzen Anzug, dann winkte sie einen heran, den ich nicht kannte, der grinste wie ein Honigkuchenpferd und fing mit »Nightclubbing« von Grace Jones an. Die furchterregende Disco-Amazone, quasselte es aus seinem Mund, und die Mutter aller Mütter, die keinem Gesetz unterworfen ist, weil sie selbst als das Gesetz auftritt. Mir fiel ein, wie unglaublich Marvin Gaye das »Oh, Baby« am Beginn von »Sexual Healing« dehnt, aber ich behielt diesen Einfall lieber für mich. Heidi war wieder verschwunden, und Peter warf mir einen geradezu ernsten Blick durch die Menge zu. Zum Glück tippte mir schließlich einer von den schon etwas angeleuchteten Stammgästen auf die Schulter, um sich anerkennend über meine schwarzen Lederschuhe zu äußern, für die ich ein Vermögen in einem Schuhgeschäft am Ku’damm ausgegeben hatte, weil sie wie angespitzte Boxerschuhe aussahen. Irgendwann lief Wencke Myhres »Knallrotes Gummiboot«, und ein Breitgesicht mit Brille schwadronierte mit erhobener Maß Bier in Führerbunkermanier über den Ekel vor Hegel. So, schoss es mir durch den Kopf, brüllt das Untier.
Am nächsten Samstagmorgen war Robert mal wieder zu Hause und hatte beim Bäcker in der Hochkirchstraße schon jeweils ein Splitterbrötchen für sich und mich und ein großes Stück Streuselkuchen vom Blech für uns zusammen zum Frühstück geholt. Ich erzählte ihm von dem langen Abend im »Nürnberger Trichter«, und wir landeten bei der Frage, wie man in einer Welle von Kitsch, Stereotypen und Vulgarität untertauchen und trotzdem nicht untergehen kann. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass der gestrige Abend eben nicht wie so ein Endlosabend in unserer »home bar« war, wo wir Besetzer den Elenden und Einsamen dieser Welt ein Asyl boten, sondern dass ich letztlich einer Kunstaktion beigewohnt hatte, in der sich alle Beteiligten einer Art von performativem Selbstversuch unterwarfen. Was bei uns naiver Anarchismus war, meinte Robert, wie im Seminar bei Taubes, sei hier zelebrierter Surrealismus. Die Aufgabe bestand darin, ein Leben als Kunst aufzuführen und dabei die anderen wahlweise als Partner oder als Publikum miteinzubeziehen. Dabei musste man allerdings höllisch aufpassen. Peinlich wäre die Rolle des exzessiven Künstlers wie die des ausrastenden Schizos gewesen. Im ersten Fall würde man sich zur lächerlichen Karikatur, im zweiten zum therapeutischen Fall machen. Die Antwort lautete, dass man diese prekäre Mitte zwischen Kunst und Leben nur dann treffe, wenn man die unausweichliche existentielle Symbiose mit der Massenkultur hinnimmt, aber aus diesem disparaten Material an tröstlichen Dingen, sehnsüchtigen Schlagern, verführerischen Bewegungen und irren Assoziationen Kapital für ein eigenes Leben schlägt. Aber auch dieses unbeschwerte Probieren darf man nicht zu ernst nehmen. Am Ende bestimmen sowieso vertraute Zufälle und plötzliche Fügungen den Lauf der Dinge. Robert musste aufstehen, weil er glaubte, er habe die definitive Formulierung für unser Leben gefunden: »Die Kunst ist nie ein Ziel. Sie ist nur ein Mittel, um Linien im eigenen Leben zu ziehen.«
Ich habe später Leute getroffen, die mich davon überzeugen wollten, dass die Merve-Welt im Grunde nur die Lizenz fürs Schneller-Lesen, Fixer-Denken und Schlauer-Machen nach dem Motto »Frech kommt weiter!« verliehen habe. Aber dann unterschlägt man das Strenge in diesem Dilettantismus und das Existentielle in diesem Versuch, einen Diskurs zu begründen, indem man einen Diskurs abschafft. Peter hat sich immer als einen emphatischen Leser bezeichnet. Schreiben konnte er in der Tat nicht. Heidi hat das interessanterweise nie von sich behauptet. Sie war für mich mehr eine Empfinderin als eine Leserin oder besser noch: Lesen war für sie empfinden und empfinden lesen. »Was tun?« hieß für sie beide jedoch zunächst und zumeist »Wie lesen?«.
Man liest ein Buch, so wie man eine Platte hört. Es handelt sich um ein Nebenher-Hören, das jederzeit in ein Voll-und-ganz-Hören umschlagen kann. Man schwingt die meiste Zeit mit, doch dann hört man plötzlich eine unglaubliche Stimme, die eine unglaubliche Aussage macht. »And I know, I know, I know, I know.«
Kann man Hegel lesen, so wie man Bill Withers hört? Kein Problem!
»Ich unterscheide mich von mir selbst, und es ist darin unmittelbar für mich, dass dies Unterschiedene nicht unterschieden ist. Ich, das Gleichnamige, stoße mich von mir selbst ab; aber dies Unterschiedne, ungleich Gesetzte ist unmittelbar, indem es unterschieden ist, kein Unterschied für mich.«
So erklärt Hegel im Sound seiner grundstürzenden Dialektik in der »Phänomenologie des Geistes«, dass das Ich in dem Versuch, sich zu begreifen, sich selbst fremd und sich zugleich immer schon bekannt ist. We are different but nevertheless the same.
Meine Audienz bei Heidi und Peter in der Crellestraße bekam ich, als ich ihnen einen Band über den spezifischen Stil unserer Generation vorstellen wollte, für die der Faden von Anfang an gerissen war. Peter interessierte die Mischung aus Unschuld, Militanz, Experimentalismus und Schmerz. Ich war mit einem Mal zum Sprecher einer »Generation Berlin« geworden, die sich selbst einen ungeheuren Kredit gegeben hatte, indem sie den Tod begraben und das Leben gerettet hatte. Wir hatten uns eingeredet, dass wir von Ableitungen auf Behauptungen, von Erwartungen auf Erfahrungen, vom Original aufs Double und vom hohen Ton aufs anonyme Gemurmel umgeschaltet hatten, und konnten kaum glauben, dass plötzlich stimmen sollte, was wir aus dem Nichts gemacht hatten. Peter meinte, das sei einen Band wert, und Heidi hatte schon einen Plan parat, was jetzt eins, zwei, vier zu tun sei.
Ich hatte insofern einen Durchbruch erlebt, als es mir gelungen war, in der Tiefdruckbeilage »Bilder und Zeiten« der FAZ ein Stück über die Einsamkeit des Investmentbankers vor der Minibar unterzubringen. Robert beglückwünschte mich am Samstagmorgen des Erscheinens für meinen Schachzug in der Kunst der Kriegsführung: »Man könnte das mit Sunzi einen listigen Haken im Raum des Feindes nennen!« Seitdem hatte ich bei den jungen Wilden vom FAZ-Feuilleton, Frank Schirrmacher, Gustav Seibt, Patrick Bahners, einen Stein im Brett, was sich in drei Texten über »Berlin Calling« niederschlug, in denen ich in den besetzten Häusern der Frontstadt eine »Stunde null« nach 1968 erfasste. Ich glaube, das war die Eintrittskarte für den Nachmittagstee bei Heidi und Peter. Es gab tatsächlich Tee. Grünen Tee aus Japan, den Peter genau zwei Minuten ziehen ließ und mit einem kleinen Besen elegant aufschäumte, bevor er ihn in die innen rot und außen schwarz lackierten Holzschalen goss.
Die Fabriketage, in dem der Verlag im vierten Stock des Gebäudes in einem Hinterhof residierte, war kein Loft, sondern ein sichtbarer Produktions- und Lebensort mit Wohnecke, Lagerraum, Verpackungstisch, Archivbereich und Bücherregalen. Auf einem fahrbaren Gestell war ein Computer montiert. Entlang der hohen Fensterfront mit Blick auf die S-Bahngleise lief eine Schreibtischplatte, sodass trotzdem der freie Raum dominierte. Eine Factory wie bei Andy Warhol, dachte ich. Wir fanden Platz auf einer grau gestrichenen hölzernen Sitzbank vor einem quadratischen Beistelltisch, deren Gestaltung an das harte Ambiente bestimmter Orte der Berliner Nachtszene erinnerte. Ich bekam einen eigenwilligen Sessel angeboten, einen Einkaufswagen, in den man sich auf eine mit dickem durchsichtigen Plastik ausgeschlagene Sitzfläche setzte. Ich wollte aber lieber auf einem ganz normalen Stuhl sitzen. Später habe ich erfahren, dass es sich bei dem Sessel um den »Consumer’s Rest Lounge Chair« von 1983 des Berliner Designerkollektivs Stiletto handelte, von dem nur tausend Exemplare gefertigt wurden.
Nach einer Stunde hatte ich das Gefühl, dass die Sache von Anfang an abgemacht war. Wir redeten eigentlich überhaupt nicht über mein Projekt, sondern vor allem über John Cage, Richard Rauschenberg, das Östliche und die Kunst des Vergessens. Ich hatte etwas über das Ehepaar Eames und deren Haus in L. A., über Heiner Bastian und dessen Handel mit Cy Twombly und über Luhmann und Stockhausen als Flakhelfer beizutragen. Peter erkundigte sich dann doch über meine Kontakte zur FAZ, und Heidi wollte von mir wissen, wie ich an den Sammler und Artdealer Bastian rangekommen sei. Ich merkte, dass die Merve-Welt auch ein Spinnennetz war. Ich würde nicht allein Autor eines Bandes, sondern Teil einer geheimen Familie sein, die durch das eigenwillige Paar zusammengehalten wurde. Peter war naturgemäß kein Vater und Heidi keine Mutter. Man hatte schon wegen des Namens Merve, für den Peters erste Frau Merve Lowien Pate gestanden hatte, eine Ahnung davon, dass sie als Paar aus einem Ursprungskollektiv der Studentenbewegung übrig geblieben waren. Wir sollten alle Kinder von unbekannten Eltern sein. Als älterer Bruder war Peter das Hirn, das Zeitschriften wälzte, Namen verfolgte und Verbindungen herstellte; als jüngere Schwester war Heidi der Bauch, der Entscheidungen fällte, Übersetzerinnen und Zulieferer bei der Stange hielt und die Kasse im Auge hatte. Das heißt nicht, dass Peter nicht kochen (er kochte sogar ziemlich gut) und Heidi nicht träumen (sie trat manchmal sogar ziemlich weg) konnte. Aber sie ergänzten sich, weil sie beide ihr Los kannten.
Robert war ganz aus dem Häuschen. »Al Gente hat angerufen und lässt fragen, ob du ihn und Heidi zu einem abendlichen Drink mit Baudrillard begleiten möchtest.« Jean Baudrillards »Der symbolische Tausch und der Tod«, in dem der Tod als der einzige Rettungsanker in der Schaumwelt des Konsums erschien, war eine Pflichtlektüre und einer von Roberts Raubdruckbestsellern gewesen. Ich konnte vor allem mit »Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen« etwas anfangen. Es ging darin um Graffiti, Kratzzeichen, Sprühsprüche, überzeichnete Plakate, in denen sich ein ganz anderes, vom blöden Sinn befreites Leben der Stadt zeigte. Wir trafen uns um zehn am Abend in der »Times Bar« des Hotels Savoy am Bahnhof Zoo. Dahin lud man eine Frau, die man wirklich beeindrucken wollte, zu einem Glas Champagner ein, der einen augenblicklich in einen lockeren Zustand versetzte. Er würde gleich runterkommen. Ich gab mich entspannt und merkte, dass Heidi und Peter keinen Wert darauf legten, besonders weltgewandt zu erscheinen. Als er nach einer halben Stunde schließlich im Eingang zu der leicht abgedunkelten Bar erschien, in der sonst noch ein paar Englisch sprechende Geschäftsleute den Abend abschlossen, sah ich einen schon etwas älter anmutenden, untersetzten Mann im grauen, ehrlicherweise gar nicht taillierten Tweed-Jackett mit undefinierbarer dunkler Hose. Der Denker des Simulacrums war müde. Die drei nahmen einen Whiskey, einen Bourbon on the Rocks, ich blieb trotz der vorgerückten Stunde bei meinem Gin Tonic. Ich erinnere mich an ein für mich nicht ganz einfaches Gespräch auf Englisch, Deutsch, Französisch, bei dem meine Bezüge auf Barthes’ Nullpunkt und auf die Theorie der sozialen Exklusion von Robert Castel überhaupt nicht verfingen. »Oui, le Zero«, das sei eine schwierige Sache, und »L’exclusion«, das sei etwas für die Sozialpolitik. Heidi und Peter warteten freundlich und geduldig ab. Ich weiß nicht mehr, wie ich von meinen vorbereiteten Themen abgekommen bin, nur dass Baudrillard aus einer Art von Mitleid die Sache schließlich in die Hand nahm. Er sei gerade in Finnland gewesen, dort würde wirklich viel getrunken. Das Gespräch kam auf den Unterschied zwischen dem Schnaps als einem nostalgischen Tranquilizer, der noch eine Illusion von Gemeinschaft aufrechterhielt, und den völlig illusionslosen Tranquilizern der billigen Schmerzmittel, die man in den USA im Drugstore kaufen konnte. Unser berühmter Gesprächspartner fühlte sich wohler und erschien mir weder als militanter Polemiker, der sich über eine »göttliche Linke« lustig gemacht, noch als kaltblütiger Realist, der die Illusion eines Endes entlarvt hatte. Er sei weder ein richtiger Soziologe noch ein richtiger Philosoph, lächelte mir Baudrillard entgegen, eher ein Metaphysiker und Reiseschriftsteller, ja, ein metaphysischer Reiseschriftsteller.
Robert war schwer enttäuscht, als ich ihm mitteilen musste, einen metaphysischen Reiseschriftsteller getroffen zu haben. Dafür hätte er nun wirklich nicht aufbleiben müssen. Ich war, obwohl ich statt eines zweiten Gin Tonic ein lecker kaltes Bier getrunken hatte, müde und wollte Robert nicht weiter erklären, dass ich die Formel gar nicht so schlecht fand und Heidi, Peter und ich noch eine U-Bahn nach Schöneberg gekriegt hatten.
An einem unserer letzten Nachmittage waren die beiden sich nicht grün. Heidi stichelte in schnoddrigem Zigarettenton, dass Peter eine kleine Freundin in Thailand habe, die ihn auf dem Moped durch die Gegend chauffieren würde. Worauf Peter mit einem halb ärgerlichen, halb glättenden »Jetzt hör mal auf, Heidi« reagierte. Natürlich hielt der Verlag die beiden zusammen. Aber mich beschlich der Gedanke, dass sie hier gemeinsam eher etwas zu Ende als in Gang bringen wollten. Hatte sich das Spiel mit der ästhetischen Differenz erledigt, das dem Leben die Kunst und der Kunst das Leben vorhielt? War das vom Familienmitglied Rainald Goetz so genannte »Franzosengemurmel« zum Milieucode geworden?
Sehr viel später habe ich erfahren, dass Heidi zu dieser Zeit schon das Gute in den Dingen suchte. Sie sagte solche Sätze wie »Es ist die Pflanze, die den Menschen über das Zyklische seines Schicksals ahnungsvoll ins Kenntnis setzt«. Und Peter legte zuletzt Listen über Unterscheidungen wie Rohes/Gekochtes, Land/Meer, Mars/Merkur, Stab/Mantel, Vorderbühne/Hinterbühne, ironisch/tragisch oder auch persönliche über Musiker: Robert Ashley; Cage; Ives; Feldman; Scelsi; Lou Reed; Bob Dylan; Leonard Cohen; Pompuang; Tenny oder Popmusik-Titel: Pérez Prado: »Cherry Pink and Appel Blossom White«; McCrae: »Rock Your Baby«; Amy Winehouse: »You Know I’m No Good«; Lou Reed: »Walk on the Wild Side«; Elton John: »Sacrifice«; Sha’aban Yahya: »Return to Jogja«; »In the Mood for Love« (Musik aus dem Film von Wong Kar-Wai); Nancy Sinatra: »Bang Bang«; Bobby McFerrin: »Don’t Worry, Be Happy«; Chaiya Mitchai (ohne Titel) an. Heidi überließ sich ihrem immer schon vorhandenen atmosphärischen Sinn, und Peter dachte, wie er es vorher auch schon gemacht hatte, über methodische Zugänge nach. War das ihre Art und Weise, sich aus dem Staub zu machen?
Merve hatte uns ein gefährliches, aber fröhliches Denken gelehrt: Es sagt, was es will, ohne zu verraten, was es weiß. Dabei steht einem alles offen. Man muss sich nicht bestimmten Traditionen oder Ansätzen unterwerfen, man kennt sie und arbeitet stattdessen mit ihnen. Das Wichtigste ist, einen Punkt zu setzen, damit man weiterkommt und nicht in der bloßen Ablehnung der Verhältnisse stecken bleibt. Zum Beispiel muss man manchmal kluges Nichtkönnen gegen sklavisches Können setzen. Aber nicht aus einem rebellischen Geist, so nach dem Motto »Wir können das nicht, machen es aber trotzdem«, sondern mit dem Ziel, eine Schneise zu schlagen und auf eine Lichtung zu gelangen. Daher die Beschäftigung mit dem Krieg und den Kriegstheorien (Sunzi, Clausewitz, Carl Schmitt). Wie führt man Stellungskriege, ohne seine Kräfte zu vergeuden, wie landet man einen Coup, ohne sich verrückt zu machen, wie unterläuft man Mauern, die man nicht zur Seite schieben kann? Das Problem war nur, wie man dem Dilemma entkommt, Entscheidungen nicht immer nur gegen andere, sondern für sich selbst zu treffen. Man sucht weder eine Zuflucht vor einer grausamen Wirklichkeit noch ein Mittel gegen deren kranke Selbsteinbildungen: Es geht einfach um einen Ort, an dem man jetzt sein kann und der es einem erlaubt, eine offene und ehrliche Aussage zu einem wichtigen Thema zu machen.
Das Komische war, meinte Robert, als ich ihm von meinem flauen Gefühl nach dem Besuch in der Crellestraße berichtete, dass wir das alles zuerst gemacht und dann durch bestimmte Bände mit der Raute verstanden haben, was wir da eigentlich gemacht hatten. Insofern waren wir zugleich vor und nach den Merves da.