Thomas hatte am Tag danach angerufen. Ob ich mitbekommen habe, was passiert sei. Er habe allein vor dem Fernseher gesessen und alles mitverfolgt. Schabowski, und er tat so, als ob ich den kennen müsste, habe Zettel hin und her gewendet und es offenbar selbst nicht glauben können. Auf die Frage eines Journalisten aus Italien auf der eher vor sich hin plätschernden Pressekonferenz nach einer Tagung des Politbüros habe der erklärt, die neue Regelung über Reisen nach dem Ausland ohne Vorliegen von Voraussetzungen gelte seiner Kenntnis nach sofort, unverzüglich. »Unverzüglich« sei das rätselhafte Wort gewesen. Er, Thomas, habe die Tragweite dessen, was Schabowski da gebrummelt hatte, in diesem Moment nicht begriffen. Er habe dann noch was zu Abend gegessen in dem Gefühl, dass sich am nächsten Tag herausstellen würde, was »unverzüglich« konkret heißen solle. Den Fernseher habe er laufen lassen, und mit einem Mal seien da Bilder von Menschen zu sehen gewesen, die von der Hauptstadt der DDR durch die Grenzanlagen in unser Westberlin drängten.
Er, Thomas, habe den Bildern nicht getraut und im Haus an der Mauer angerufen, denn dort müsste man es doch am besten wissen, ob die Mauer noch stand. Nach langem Klingeln habe sich schließlich Marianne gemeldet. Ohne große Umschweife habe er sie gefragt, ob die Mauer noch stehen würde. Ein lautes »Häh?« sei die Antwort gewesen, und er habe Marianne förmlich vor sich gesehen, wie sie die Augen verdreht habe. Er, Thomas, habe dann gehört, wie sie zum Fenster ging, das sie aufmachte und wieder schloss. »Die steht. Sonst noch Fragen?« Mit diesen Worten habe sie aufgelegt.
Wir wissen doch, wie Marianne tickt, sagte er in einem ungewöhnlich gütigen Ton zu mir. Jedenfalls sei er, Thomas, gegen zehn Uhr losgezogen, um herauszufinden, ob die Fernsehbilder echt seien. Unter den Yorckbrücken sei es wie immer stockdunkel und menschenleer gewesen, und der 19er-Bus sei wie immer in Richtung Ku’damm gefahren. Doch dieses Mal nur bis zum Nollendorfplatz. Da habe man aussteigen müssen. Das »Swing« sei seltsam leer gewesen. Auf der Kleiststraße sei noch nichts zu bemerken gewesen. Aber vom KaDeWe bis zum Kranzlereck schoben sich die Massen. Vorbei an hell erleuchteten Geschäften rechts und links und vorbei an der konservierten Nachkriegsruine der Gedächtniskirche. Es habe nicht Begeisterung und Trubel geherrscht, sondern es sei erstaunlich still und gesammelt gewesen. Die aus dem Osten staunten und die aus dem Westen auch. Ganz vorsichtig, fast zärtlich, sei die Begegnung der Ostberliner und der Westberliner in dieser ersten Nacht gewesen. »Wahnsinn« habe es erst am nächsten Tag geheißen. Wie fühlen Sie sich? Was ist Ihr Eindruck? »Wahnsinn«, vor hingestreckten Mikrophonen, immerzu »Wahnsinn«.
Thomas konnte sich nicht des hohen Tons enthalten. Ich hörte ihn sagen, jetzt geht eine Epoche zu Ende. Die Mauer, an die wir uns wie an einen Naturzustand gewöhnt hatten, sei zum Einsturz gebracht worden. Wer absolut gegenwärtig sein will, muss jetzt in Berlin sein. Das zielte auf mich und die Kunst ab.
Er sagte noch, ein historisches Versehen habe alles geändert. Alles? Bei Thomas wusste man eigentlich nie genau, woran man war. Seine Art zu denken ließ immer noch eine andere Möglichkeit zu. Nur dieses Mal schien der Zweifel keine Ausrede für ihn zu sein. Ich war mir sicher, dass »alles« nicht das Ende des Kalten Krieges und die Aufteilung der Welt meinte, sondern damit war das ganze Leben gemeint. Sein ganzes Leben. Alles werde sich ändern und alles sollte sich ändern. »Vergiss New York, Luise, komm nach Berlin!« Mit dieser Aufforderung hatte er das Gespräch beendet.
Ich hatte noch einwenden wollen, dass das jeder aus seiner Perspektive anders sehe. In New York hatte sich nämlich nichts verändert. Hier galt die breite Gegenwart, die sich alle Vergangenheit und alle Zukunft einverleibte. Aus New York hörte sich das, was in Deutschland jetzt vor sich ging, eher nach Therapie denn nach Politik an. Runder Tisch, Dritter Weg, Sozialismus mit menschlichem Antlitz, Visionen einer Alternative — all diese Schlagworte hatten nicht das Zeug zu einer packenden Geschichte, wie die Amerikaner sie mögen. Die Deutschen müssen erst herausfinden, ob sie eins oder zwei sind, dachte ich fast schon angewidert, aber diese Gedanken hatte ich für mich behalten, da ich mich jetzt mit Thomas nicht hatte streiten wollen. Für ihn war der Fall der Mauer ein »niederfahrendes Ereignis«, wie er sich damals am Telefon ausdrückte, das für ihn die Rettung bedeutete. Thomas hatte es aufgegeben gehabt, Ansprüche an sein Leben zu stellen. Das Ich sei ein Effekt, kein Ausdruck, wie er mir in typischer Thomas-Manier bei seinem Besuch in New York gesagt hatte. Geschichte sei ewige Wiederkehr oder zufällige Katastrophe. Und jetzt das. Es hatte sich etwas ereignet, was niemand für möglich gehalten hatte. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand, den ich kannte, im November 1989 so sehr an das Ende von etwas Bekanntem und an den Beginn von etwas Unbekanntem glaubte wie der eigentlich ungläubige Thomas.
Ich hatte das Schicksal herausgefordert, mich noch einmal um ein Stipendium in New York beworben und es diesmal auch bekommen. Nach Jahren des Wohlverhaltens hatte sich das mit dem Einreiseverbot erledigt, aber in meinem Pass war ein Waiver eingetragen. Ich galt nach wie vor als eine verdächtige Person, und bei jeder Einreise saß ich stundenlang als einzige Weiße in einem fensterlosen Raum und wurde abgecheckt, was jedoch meiner Begeisterung für New York keinen Abbruch tat. Ich hatte mich entschieden. Wie Berlin zuvor hatte ich mir New York zum Leben ausgesucht. Ich mochte die leichte Hysterie der New Yorker, ihren Überlebensmut, ihren Rhythmus, ihre Attitüde und ihre Fähigkeit, das Seltsamste um sie herum als das Selbstverständlichste anzunehmen. Man braucht hier Schuhe mit Sohlen wie Goodyear-Winterreifen, aber oben aus feinem Leder. Wenn einem der Wind um die Ohren pfeift, muss man mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen. Nachdem das Stipendium am PS1 ausgelaufen war, war der Geldfluss versiegt. Ich hatte nichts angespart und lernte das Jonglieren mit mehreren Kreditkarten, um über die Runden zu kommen. Meinen Lebensunterhalt verdiente ich mit den lausigen Jobs, in denen man die skurrilsten Figuren versammelt fand, all die Betrogenen, Gescheiterten, Hoffenden, Verlassenen, Verrückten, Einsamen und Gestrandeten, die zur unbekümmerten frühkapitalistischen Ausbeutung frei gegeben waren. Die eiserne Regel lautet, so viel Energie aufzusparen, dass du nicht den Glauben an dich verlierst. Wenn du Zweifel zeigst und dein Künstler-Ich Risse bekommt, kannst du einpacken und nach Hause fahren. Egal, wie wenig ich mit den lausigen Jobs verdient hatte, ob es stürmte oder schneite, donnerstagsabends biss ich die Zähne zusammen und brach zu meiner langen Weekend-Opening-Night-Tour auf. Sorgen, Klagen, leiden, schlechte Laune oder Verzagtheit verbieten sich, wenn man es in New York als Künstlerin zu etwas bringen will. Keiner dort will dein Gejammere hören, schon gar nicht, wenn du eine Frau bist, denn Frauen sind bekanntermaßen immer unzufrieden.
Wenn ich vor dem Spiegel stand und mich für den Abend schminkte, fiel mir manchmal Vroni ein, und ich verstand, warum sie auf alles, nur nicht auf Lippenstift hatte verzichten können. Ich malte mir einen roten Mund ins blasse Gesicht, umrandete die Augen schwarz, wählte einen Hut aus, steckte ein paar Dollars und Zigarillos in meine Clutch und war bereit für meinen Auftritt als Künstlerin.
Es waren harte Zeiten. Die Stadt wurde mit billigen Drogen geflutet, Crack und Heroin allerorten, die Arbeitslosigkeit hoch, und gefühlt alle zwei Stunden wurde jemand umgebracht. Ich vertraute weiterhin auf meinen Schutzengel, fuhr zu jeder Tages- und Nachtzeit mit der Subway und wagte mich auf Goodyear-Sohlen auch in finstere Ecken.
Jetzt saß ich auf dem flachen, mit hellgrauer Teerpappe ausgelegten Dach meines Hauses und genoss die späte Wärme und das unvergleichliche Licht der tief stehenden Sonne. Der Himmel war von einem kalten Stahlblau, die Herbstluft kroch den East River herauf, sie schmeckte nach Meer. Aus dem hohen Backsteinschornstein der Zuckerfabrik von gegenüber schlängelte sich feiner, weißer, süßer Rauch. Hier lebte ich in einem ehemaligen Lagerhaus, das von der mächtigen Williamsburg Bridge nur durch eine schmale, vermüllte No-go-Area getrennt war. Hoch oben rauschte gleichmütig laut ununterbrochen der Verkehr nach Manhattan. Ich hatte mir für meine Kunst ein großes Studio gewünscht und konnte mir Manhattan nicht leisten. So war ich wieder im Abseits gelandet und fühlte mich mittendrin. Das Wohnen in Provisorien war ich gewohnt. Mit meinem Hausbesetzerwissen hatte ich den zweiten Stock des Lagerhauses in ein Loft verwandelt. In dem riesigen Raum, in dem vormals Tabak gelagert worden war, setzte ich Fenster ein, zog Rigipswände, legte Stromleitungen, baute eine Küche, ein Bad, eine Schlafkoje und ein Studio. Von meinem Esstisch aus konnte ich unter der Williamsburg, der Manhattan und der Brooklyn Bridge hindurch den Sockel der Freiheitsstatue schimmern sehen. Dahinter beginnt der Atlantik. Ich höre Brigitte Fassbaender die »Sieben Todsünden« singen und fühle Heimat. Dann lege ich Charlie Parker auf und spüre Amerika.
Auf dem East River kreuzen Lastkähne, Schleppschiffe und Fährboote. Bewegung und Sehnsucht.
Mein Landlord war ein chassidischer Jude im orthodoxen Rock, mit Schläfenlocken, heller, durchscheinender Haut und steifem schwarzen Samthut. Er gab mir als Frau nie die Hand. Dennoch pflegten wir ein entspannt unproblematisches Verhältnis miteinander. Mit mir Schickse sprach er über Kinder, das Wetter und Hochzeiten. Ich lebte zwischen Hispanics, Immigranten aus Puerto Rico und Chassidim, Satmar aus dem ungarischen Königreich. Zwischen den Feuern, in die die bärtigen, betenden Männer Sauerteigbrot und Hefebrot warfen, und den farbenprächtigen Prozessionen, bei denen der Gekreuzigte mit Gesängen und Weihrauchschwaden durch die Straßen getragen wurde. Zwischen den hispanischen Frauen, die so wunderbar schrill aussehen mit ihren großen Ohrringen, gefärbten Haaren, falschen Wimpern, dem vielen Make-up, und den chassidischen Frauen in ihrer strengen Lange-Rock-Kluft mit den starren Perücken über den weißen Gesichtern. Die Frage, wer ich eigentlich war, stellte sich mir lange Zeit nicht. Ich ging durch diese zwei Welten als eine Fremde, und das genügte mir.
Kinder wollte ich noch immer nicht. Die Kunst ist es. Mein Platz war an diesem verlorenen, schäbigen Ort bei der Brücke. Ich zeichnete eine großformatige biographische Serie. A woman with a past. A modern artist. Mit dem L-Train ist es nur eine Station bis Manhattan. Drüben in den gusseisernen Galerien triumphiert die Kunst der All American Boys: Sex and Size. Ohne europäische Bildung und Vornehmtuerei. Und ohne Frauen.
Ein Galerist aus Deutschland mit einer Galerie am Broadway nahm mich manchmal mit zu den begehrten Black-Tie-Eröffnungen, auf denen die Celebrities sich blicken lassen, denen er mich vorstellte und deren Namen ich direkt danach wieder vergaß. Stars und ihre Dealer geben sich ein Stelldichein, eifersüchtig bewacht von Frauen, die von hinten wie junge Mädchen aussehen, aber die immerglatten Gesichter der alten, reichen Amerikanerinnen haben. Das sind die einflussreichen Members, ohne deren Spenden der Museumsbetrieb nicht aufrechterhalten werden könnte. Hinterher schnupften wir Kokain in der Upper Westside und führten bis in den Morgen Gespräche über Kunst und die Umstände, die zur Kunst führen. Dieser Galerist gab mir den Rat, dass ich unbedingt bei einer amerikanischen Galerie ausstellen sollte. Wenn ein deutscher Galerist deutsche Künstler ausstellt, dann kommt das hier ganz schlecht, meinte er. Das erinnert die an Emigrantenkunst, fügte er fast schon abfällig hinzu.
Auf New Yorks Dächern wehten keine schwarzen Anarcho-Fahnen, und doch fühlte ich mich fast schon rührselig an unsere Sommer auf dem Dach des Hauses an den Gleisen erinnert, wenn ich bei den Art-Roof-Partys das Geschehen beobachtete. Versammelt war gewöhnlich eine fein ausgewogene Mischung der Schönen, Klugen, Einflussreichen und Starken. Jeder, mit dem ich ins Gespräch kam, konnte mich weiterbringen. Ich lernte die Kunst des Smalltalks: Präzis gesetzte Pointen und geistreiche Gedanken müssen in forciertem Tempo abgeschossen werden. Langatmige Erörtungen wie damals am Küchentisch in Berlin machten einsam. Da kannten die New Yorker kein Pardon: Kaum hatte man zu dozieren angehoben, stand man allein da.
American Fine Arts in SoHo war abgeschabt und lässig. Keiner der üblichen White Cubes und doch so, wie alle anderen gerne wären. Augenblicklich fühlte ich mich wie in einer Art »home bar«. Und auch der Galerist von American Fine Arts, Colin de Land, war ein anderes Kaliber als die Galeristen, die ich bislang kennengelernt hatte. Schwarzhaarig, schlaksig und mit immermüden Augen, wirkte er wie eine verlorene Seele. Mit seinen billigen Jacketts, dünnen Krawatten, coolen Sonnenbrillen, dem Canal-Street-Talmi am Handgelenk und nie ohne eine brennende Zigarette im Mundwinkel, war er eine Mischung aus Humphrey Bogart und John Lurie. De Land, stets von einer großen Entourage umgeben, war melancholisch, freundlich und distanziert. Als ich ihn besser kennenlernte, wollte ich fast glauben, dass er damals beim »Laden für Nichts« mitgemischt hatte und ein Kreuzberger Wiedergänger war. Seine Galerie stand für das Experiment. New ways of understanding artists work. Profit und Gewinn beachtete er nicht. Die Preise hatte er im Kopf und nicht auf Listen notiert. Pressemitteilungen gab es grundsätzlich nicht. Colin de Land war ein Kämpfertyp und American Fine Arts eine der raren rebellischen, antikommerziellen Galerien in New York, der Hauptstadt des Kapitalismus. Colin war eigentlich immer pleite, und damit gab es keinen Unterschied zwischen seinen Künstlern und ihm. Er interessierte sich für die Positionen, die ganz für sich standen. Colin stellte mich aus. Für die verkauften Kunstwerke habe ich keinen Cent erhalten. Das war der Preis der Rebellion.
Im Winter, wenn die Milch vom Vortag über Nacht im Topf gefroren ist, kommt die Erinnerung. Dann liege ich neben dem Gasofen und höre John Coltranes »Naima« in einer wilden Version. Ein Schreien und Keuchen. Ein Orgasmussound, und ich friere. Während ich der Musik zuhöre, abwechselnd Rotwein und Hühnerbrühe trinke, falle ich in Gedanken zurück auf die tief verschneiten Straßen, die nach Prag führen. Ich denke an die bittergrauen Berliner Winter, die Nächte in der »home bar«, an Sorayas Geste, ganz langsam, das Kinn wegzudrehen, an Aaron Rosenblatts glänzende Schuhe, an den Blick meines Vaters, nachdem er das erste Mal durch »Hamburg—Spanien« gegangen war, und an Elenas irres Lachen, als sie mir die Geschichte mit den Bananen erzählte. Die Nachtwachen fallen mir ein, die Kreuzung hinter Theresienstadt, unser silbergrauer Mercedes, meine verloren gegangenen Skulpturen im traurigen Hinterhof, Dr. Malys honigfarbene Augen und Claudius, the gambler, in Knastkleidung. Ich sehe auf das Leben, für das ich überlebt habe. Was ist von unserer großen Revolte geblieben? Manche der Freunde habe ich ganz aus den Augen verloren. Soraya bleibt. Sie wird da sein, auch wenn alle anderen weg sein werden. Die Gedanken kommen und die Gedanken gehen. Eine Meditation über den Schmerz.
Thomas’ Anruf hat mich aufgeschreckt. Was ist das wohl für ein Gefühl, die Adalbertstraße einfach weiter geradeaus zu gehen, frage ich mich. Unser Leben im geteilten Berlin hat etwas Vorläufiges gehabt, so als ob das richtige Leben noch nicht angebrochen sei. Ist das jetzt nach dem Fall der Mauer und mit fast dreißig anders?
Es wird kühl auf dem Dach. Bevor ich nach unten gehe, lese ich noch einmal den Brief, der eine Woche nach unserem Telefongespräch angekommen ist. Für ihn stehe in Berlin jetzt wieder alles auf dem Spiel, schreibt Thomas mir darin. Diese Gelegenheit werde er sich nicht entgehen lassen. Und als PS steht da, er, Thomas, warte auf mich.