Alex und Alice machten sich früh auf den Weg. Sie hatten die Reste der Mahlzeit dabei, die ihnen ihre Wirtin widerstrebend mitgegeben hatte.
»Sag bloß noch mal, dass Bauersfrauen Waisenkinder lieben«, sagte Alice. Sie streckte sich, um die Verspannung vom Obstpflücken aus den Armmuskeln zu bekommen, und reckte den Rücken, der von der unbequemen Nacht auf dem Boden der Scheune mit nur einem Kornsack als Kissen schmerzte.
»Sie war ja gar nicht die Frau eines Bauern«, sagte Alex spitz. »Sie war die Bäuerin selbst. Ich hab nicht gesagt, dass Bäuerinnen Waisenkinder mögen, oder?«
Nachdem sie einige Stunden marschiert waren, rasteten sie am Wegesrand und aßen jeder ein Stück Brot. Allerdings bestand Alice darauf, sparsam damit umzugehen, falls sie bis zum Abend nichts Essbares finden könnten.
Die Straße vor ihnen schlängelte sich nach Osten, während ein schmaler Feldweg in Richtung Norden abbog.
»Das muss wohl die Abkürzung über das Spitzfels-Massiv sein«, sagte Alice und deutete auf den schmalen Weg.
»Super, dann lass sie uns nehmen«, sagte ihr Bruder wie aus der Pistole geschossen.
Alice zögerte. »Aber hatten wir nicht beschlossen, dass es klüger ist, auf der Straße zu bleiben?«
»Klüger!«, sagte Alex abfällig. »Klugheit nützt uns gar nichts – wir müssen schnell vorankommen! Ich wette, die Entführer nehmen die Straße, meinst du nicht? Deshalb kürzen wir über den Berg ab und überholen sie.«
»Klingt nach einem guten Plan«, räumte Alice ein. »Aber nur, wenn du den Rucksack trägst.«
Sie bogen auf den schmalen Weg ein, der sich zwischen struppigen, zerzausten Büschen und krüppeligen Bäumen mit rissiger Borke dahinwand. Riesige Felsbrocken türmten sich wie überdimensionale Grabsteine in den Himmel. Ein paar widerstandsfähige Sträucher und dürre Gräser klammerten sich trotzig an die steilen Abhänge, während die höheren Regionen mit tiefen Spalten und senkrecht abfallenden Wänden kahl waren. Ein einsamer Berggipfel mit verschneiter Spitze überragte alles andere. Wie eine Klaue bohrte er sich in den Himmel: das Spitzfels-Massiv.
Über Stunden, fast ohne ein Wort zu reden, stapften sie dahin, hoch und höher und immer höher, bis die Sonne am Himmel unterging. Alice, deren Schritte langsamer und schleppender geworden waren, je steiler der Berg wurde, erklärte: »Ich bin kaputt. Ich finde, wir sollten eine Stelle zum Übernachten suchen.«
»Übernachten? Wir haben keine Zeit zum Übernachten«, erwiderte Alex, der allerdings auch etwas schwer atmete.
»Aber die Entführer müssen doch ebenfalls rasten«, hielt ihm Alice entgegen. »Und sie haben Alistair bei sich, vielleicht sogar gefesselt, das macht sie doch bestimmt langsamer.«
»Also von mir aus«, sagte Alex. »Sollen wir versuchen, bis zu der Höhle dort oben zu kommen?« Er deutete auf eine Öffnung in einer Felswand auf der nächsten Anhöhe. »Da sind wir geschützt und haben das Tal gut im Blick.«
»Wäre schön, wenn es dort ein Federbett gäbe«, murrte Alice. »Ich weiß nicht so recht ... was ist, wenn da etwas drin ist?«
»Was denn zum Beispiel?«
»Schlangen. Spinnen.« Sie fröstelte.
Alex verdrehte die Augen. »Oder Angsthasen-Mäuse«, sagte er. »Komm schon. Ich sehe mich vorher darin um.«
Sie gingen weiter, und auch wenn Alice sicher war, dass ihre Beine sie keinen einzigen Berg mehr hinauftragen könnten, trieb sie doch der Gedanke an, dass jeder Schritt vorwärts ein Schritt war, der sie Alistair näher brachte. Als sie endlich bei der Höhle ankamen, ging Alex wie versprochen als Erster hinein. Sie war zwar feucht und dunkel, aber auch ganz still. Spinnen oder Schlangen waren nicht zu sehen. Also setzten sie sich in den Höhleneingang, verspeisten ihr unzureichendes Abendessen aus trockenem Brot und blickten über das Tal. Dann legten sie sich hin.
»Glaubst du, dass wir Alistair morgen finden?«, murmelte Alice nach ein paar Minuten schläfrig. Sie rutschte hin und her und versuchte, auf dem steinigen Boden eine bequeme Lage zu finden.
Aber ihr Bruder schlief bereits.
Die beiden jungen Mäuse schlummerten ungestört, während die Dämmerung den Sonnenuntergang ablöste. Doch dann ging der Mond auf, und plötzlich war die Höhle erfüllt von Flattern und Flügelschlagen und von Hunderten schriller Schreie.
»Igitt!«, schrie Alice entsetzt und hielt sich schützend die Arme über den Kopf. »Fledermäuse! Alex, wach auf! Hilfe!«
»Ich bin wach«, kam Alex’ gedämpfte Stimme. Bei dem Gequieke der Fledermäuse war er kaum zu hören. »Lauf, Schwesterherz – ach du Schreck!« Er duckte sich, als Flügel seinen Hals streiften. »Bleib unten!«
Sie versuchten, den Unmengen dunkler Schatten, die in den Nachthimmel hinausfluteten, auszuweichen, indem sie auf dem Bauch vorankrochen. Als sie am Eingang der Höhle ankamen, stürzte Alice los, wurde jedoch aufgehalten, weil Alex ihren Schwanz packte. Sie drehte sich um. »Alex, lass mich los«, schimpfte sie. Doch im dämmerigen Licht sah sie, dass er den Finger auf die Lippen gelegt hatte. Dann ließ er sie los und deutete den Weg entlang, den sie zuvor heraufgeklettert waren. Dort, im Schein des Mondes, gingen zwei Mäuse – eine war silbrig-grau, die andere pechschwarz.
Alice und Alex zogen sich in den Schatten der Höhlenwände zurück. Das Paar kam näher.
»Wenn wir in der letzten Stadt nicht zum Essen Pause gemacht hätten, müssten wir nicht diese lächerliche Abkürzung nehmen«, sagte der schwarze Mäuserich. Seine Stimme war in der stillen Nachtluft deutlich zu hören.
»Ich habe eben Hunger gehabt«, hielt ihm die andere Maus vor. »Man kann doch nicht erwarten, dass ich mit leerem Magen Dienst tue.«
»Mach das mal dem Boss klar«, erwiderte der Schwarze mürrisch.
»Ach Horatius, sei doch nicht so ein Jammerbart«, sagte die silbergraue Maus und lachte schallend. »Außerdem musst du zugeben, dass das Omelett mit Ziegenkäse – einem besonders kräftigen Ziegenkäse – köstlich war.«
Bei der Erwähnung von Ziegenkäse musste Alex ein Stöhnen unterdrücken.
»Na ja, es war wirklich ganz gut«, sagte der Mäuserich namens Horatius. »Aber jetzt sind sie uns entwischt.«
»Beruhige dich, lieber Horatius«, sagte die graue Maus. »Wir verfolgen zwei Kinder, Himmel noch mal – die werden ja wohl kaum schneller sein als wir, oder? Außerdem haben sie sich bestimmt für den Umweg über die Straße entschieden. Da wir die Abkürzung über das Gebirge nehmen, überholen wir sie. Wart’s nur ab – bestimmt müssen wir eine Ewigkeit rumsitzen und warten, bis sie kommen.«
»Wir werden ja sehen«, sagte der düstere Horatius, der eindeutig nicht überzeugt war. »Wie dem auch sei, Sophia, ich bin mir nicht sicher, dass die Strecke über den Pass eine kluge Entscheidung ist.«
Alice stieß ihren Bruder mit dem Ellbogen an. »Siehste?«
»Sei doch nicht ständig so nervös, Horatius«, beruhigte ihn Sophia. »Das bekommt deinem Magen nicht. So, lass uns nach einem Platz suchen, wo wir bis zum Sonnenaufgang übernachten können, damit wir den Weg auch gut finden. Na bitte – klingt das nicht nach einer klugen Entscheidung?« Sie ließ den Blick über die mondbeschienene Landschaft gleiten. »Ich glaube, dort oben ist eine Höhle.«
Alice musste einen Schrei unterdrücken. Die graue Maus deutete direkt in ihre Richtung!
Alex packte seine Schwester am Arm. Beide zogen sich leise und vorsichtig zurück, tiefer hinein in die Höhle.
Jetzt konnten sie die beiden Mäuse zwar nicht mehr sehen, aber ihre Stimmen kamen näher.
»Kommt nicht infrage«, sagte Horatius. »Sieh dir nur die Fledermäuse an, die da rumschwärmen.«
»Die tun dir schon nichts«, beruhigte ihn Sophia.
»Nein«, wiederholte Horatius bestimmt. »Nicht in die Höhle.«
»Na gut, von mir aus ... Und wie steht’s mit dem überhängenden Felsen ein Stück weiter? Sieht so aus, als ob er mit weichem Gras überzogen ist, auf das wir uns legen können.«
»Schon besser«, sagte Horatius. Seine Stimme war jetzt so nahe, dass die beiden direkt vor der Höhle stehen mussten.
Alex und Alice lagen still da, drückten sich an die feuchte, kalte Höhlenwand und trauten sich kaum zu atmen.
»Bist du sicher, dass du nicht in die Höhle willst?«, fragte Sophia, und plötzlich sahen die beiden junge Mäuse, wie sich ihre Figur im Höhleneingang abzeichnete.
Alice drückte ihr Gesicht auf den Höhlenboden, um ein erschrockenes Quieken zu unterdrücken.
»Sophia!«
»Ich mach ja nur Spaß«, sagte die Maus unbeschwert, und sie gingen weiter.
Alex und Alice blieben zitternd auf dem Höhlenboden liegen, bis die Stimmen schließlich verhallten.
Alex setzte sich auf. »Das war knapp«, sagte er mit zittriger Stimme. »Jetzt wären wir fast noch selbst entführt worden.«
Alice schüttelte den Kopf. »Ich versteh das nicht«, sagte sie. »Wer folgt eigentlich wem? Das hat ja so geklungen, als würden sie uns verfolgen. Und wenn sie die Entführer sind, warum haben sie dann Alistair nicht bei sich?«
»Du hast recht.« Alex dachte einen Augenblick nach. »Vielleicht sind es gar keine Entführer«, sagte er schließlich. »Vielleicht ... vielleicht sind sie auf unserer Seite. Um ehrlich zu sein, ich fand, dass diese Sophia ganz nett klang.«
»Das sagst du doch nur wegen des Omeletts mit Ziegenkäse. Du kannst die Leute doch nicht nach deinem Essensgeschmack beurteilen.« Alice seufzte. »Sie können Freunde sein, sie können Entführer sein, sie können auch ...« Ihr Magen zog sich vor Furcht zusammen, und sie merkte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. »Sie könnten auch ...«, sie schluckte, »... sie könnten auch Mörder sein. Was ist, wenn sie Alistair umgebracht haben und jetzt hinter uns her sind?«
Alex lachte höhnisch. »Du hast zu viele von Alistairs Abenteuergeschichten gelesen, Schwesterherz. Mörder halten sich nicht mit Ziegenkäse-Omeletts auf.«
Alice musste zugeben, dass das unwahrscheinlich klang, obwohl sie annahm, dass auch Mörder essen mussten. »Ich weiß nicht, wer sie sind und was sie von uns wollen«, sagte sie. »Aber ich würde es gerne herausfinden. Komm, wir gehen ihnen nach und versuchen, noch ein bisschen mitzuhören.«
»Muss das sein? Ich bin müde«, grummelte Alex. Dann erhellte sich seine Miene. »Aber wenn sie tatsächlich auf unserer Seite sind, dann essen wir bald Ziegenkäse-Omeletts statt altem Brot. Du hast recht, Schwesterherz. Los, ihnen nach.«
Alex ging voraus, und erneut begaben sie sich auf den Bergweg. Der helle Mond spendete das äußerst notwendige Licht, doch die aufgetürmten Felsen warfen unheimliche Schatten, die sie manchmal unerwartet in Dunkelheit tauchten. Der Weg, auf dem sie dem abweisenden Spitzfels-Massiv entgegenkletterten, fiel neben ihnen steil ab. Alice konnte nicht sehen, wie tief, aber sie hatte das sichere Gefühl, dass es mehr war, um als Maus überleben zu können, wenn man hinunterfiel. Warum hatte sie nur auf Alex gehört, als er vorgeschlagen hatte, die Abkürzung zu nehmen? Tief im Inneren hatte sie gewusst, dass es eine falsche Entscheidung war. Vor ihr war der Rücken ihres Bruders. Unbeirrt erklomm er den Hang, nie schien er zu zögern oder zu stolpern. Unwillen stieg in ihr auf. Er hatte gut reden – er war kräftig genug, um ewig weiterzugehen. Aber sie war müde ... so müde ... Autsch! Alice stieß vor Schmerz ein Quieken aus, denn sie war auf einen spitzen Stein getreten.
Es war ja wirklich unklug, die Abkürzung über das Spitzfels-Massiv zu nehmen, aber nur halb so unklug wie der Plan, den gefährlichsten Teil auch noch in der Dunkelheit zu durchwandern. Und dieser besonders unkluge Vorschlag war von ihr gekommen, wie sie zugeben musste. Aber welche Wahl blieb ihnen denn? Wenn Horatius und Sophia die Entführer waren – doch wie konnte das sein? Alistair war ja nicht bei ihnen. Autsch! Als sich schon wieder ein Stein in den weichen Teil ihres Fußes bohrte, beschloss Alice, sich besser darauf zu konzentrieren, wohin sie trat. Ein Fehltritt, und sie konnte sich zu Tode stürzen, sagte sie sich schaudernd. Und ein geräuschvoll wegschlitternder Stein konnte die beiden Mäuse auf sie aufmerksam machen – waren es Freunde oder Feinde? –, die irgendwo in der Nähe schliefen.
Als sie sich dem Felsblock näherten, den Sophia gemeint hatte, verlangsamte Alex sein Tempo und sah Alice mit dem Finger auf den Lippen an. Er musste sie jedoch nicht auf die gefährliche Situation aufmerksam machen. Ihr Herz klopfte so wild in ihren Ohren, aus Angst und vor Erschöpfung, dass sie fürchtete, das laute Pochen könnte sie vielleicht verraten.
Langsam schlichen sie weiter. Langsam, ganz langsam. Schließlich konnten sie den Atem der schlafenden Mäuse hören, sehen konnten sie die beiden in der Dunkelheit jedoch nicht. Alice hatte eine Hand auf der Felswand, die sich neben ihnen erhob, und rückte langsam an ihren Bruder heran. Sie achtete darauf, kein Geräusch zu machen. Doch da fuhr Alex plötzlich zurück und stieß mit Alice zusammen, die das Gleichgewicht verlor. Verzweifelt versuchte sie, sich am Boden festzukrallen, während sie auf die Felskante zurutschte, doch ihr Schwung war zu groß. Ihr Schrei durchschnitt die Stille und sie stürzte in den Abgrund.