»He!« Jemand rüttelt sanft an meinem Arm. »Emma?«
Ich blinzle und bin irritiert, weil sich das Backsteingebäude vor mir in Luft aufgelöst hat. Die neue Umgebung ist unerwartet hell. Ich versuche mich zu orientieren. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass die düsteren Gestalten verschwunden sind - sie nie da waren und dass Marc nicht in Gefahr ist. Es war nur ein Traum.
»Hast du schlecht geschlafen?«
»Mmm.«
Ich drehe den Kopf zur Seite und sehe, dass mich Marc, das Kinn auf seinen Ellbogen gestützt, mustert. Es ist seltsam, wie er mich seit dem Kampf mit Kara hin und wieder betrachtet. Als wäre ich das übernatürlich starke Wesen mit schier unbegreiflichen Kräften, und nicht er.
Derzeit können wir uns beide nicht sicher sein, wieso ich vor zwei Monaten urplötzlich in der Lage war, wie einst Freya, die mächtigste aller Walküren, die Zeit anzuhalten. Natürlich sind wir sehr dankbar für diesen Anflug übernatürlicher Energie, der Marc, Tay und mein Leben rettete. Seither wurde der magische Schalter - bis auf eine Ausnahme - allerdings nicht mehr wieder betätigt. Darüber bin ich ganz froh. Denn angeblich nutzte Freya meine Fähigkeit vor ihrem Tod und dem Zusammenbruch Walhallas dazu, um eine Art Portal zu öffnen, das die Heimat der Walküren mit der Erde verband. Auf diese Weise rettete sie ihren Kindern das Leben. Man muss kein Experte in fantastischer Literatur sein, um nun eins und eins zusammenzuzählen. Wenn das Portal nach Walhalla schon einmal mithilfe von Freyas Eisgabe geöffnet wurde, so könnte ich nun wiederum in der Lage sein, diese Fähigkeit zu nutzen und jenes Portal erneut zu öffnen, welches die Walküren zurück in ihr Zuhause Walhalla bringt. Es gibt nichts auf der Welt, das sie mehr ersehnen, ich hingegen fürchte es. Es würde bedeuten, dass ich Marc und die anderen Walküren verliere.
Marc zieht mein Gesicht zu sich heran.
»Oder ist es die Aufregung vor deinem großen Tag heute?« »Ganz sicher nicht.«
Was ist ein dämlicher vorgezogener Abschluss schon im Vergleich zu der Erkenntnis, dass übernatürliche Wesen nicht nur in meinen geliebten Fantasyromanen existieren? Auch wenn Walküren irgendwie anders sind als Aliens, Vampire oder Werwölfe. Selbst Magier funktionieren in meiner persönlichen Paranormal-Romance nicht so, wie sie sollten ...
»Du machst dir wieder Sorgen wegen Jansen.«
Während Marc das sagt, streicheln seine Hände sanft meine Wangen. Gleichzeitig fasse ich fest in sein schwarzes Haar und lasse meine rechte Hand in seinen warmen Nacken gleiten. Ich will ihm gerade als Antwort einen Kuss auf die Schulter geben, als mir der Fantasyroman auffällt, der aufgeschlagen auf dem Boden liegt. Vielleicht kann ich es Marc auf diese Weise erklären.
»Müsste ich die Geschehnisse vor acht Wochen in einer Rezension bewerten, ich würde dem Ganzen maximal zwei Sterne geben«, sage ich. Marc will mich unterbrechen, doch ich fahre schnell fort und verschlinge meinen in eine dicke Decke eingemummelten Körper so gut es geht mit seinem. »Einen Punkt Abzug gibt’s für Jansens aberwitzigen Plot Twist zum Ende der Geschichte. Auch zwei Monate später geben uns seine irren Behauptungen noch Rätsel auf. »Ein weiterer Stern geht dafür weg, dass ihr Walküren zu weit von der ursprünglichen nordischen Mythologie entfernt seid. Wer kann denn erahnen, dass Magier und Walküren existieren, und sich obendrein noch wegen irgendwelcher schrägen Sci-Fi-Machtansprüche über ihre zerstörte Heimat nun auf der Erde bekämpfen wollen?«
»Entschuldige«, sagt Marc, fasst meine Schulter und zieht mich eng an sich. »Wofür entziehst du unserer Geschichte weitere Sterne?«
»Meine eigene Rolle ist nicht schlüssig ausgearbeitet. Bin ich nun eine der letzten beiden Myx auf der Erde und somit ausgerechnet dein erbitterter Todfeind, oder euer Rückfahrticket nach Walhalla ...? Womöglich wächst in mir ja auch etwas heran, das wir noch gar nicht in Betracht gezogen haben.«
»Emma ...«, flüstert Marc.
»Sag es nicht! Du hast dich im Griff. Selbst, als du dich in eine Walküre verwandelt hast, war dein einziges Ziel Karas Tod, nicht meiner ... schon vergessen?«
»Emma ...«
»Es reicht.« Ich drücke meine Lippen auf seine, vor allem, um meine eigenen Sorgen zu ersticken. Beinahe jeden Abend unterhalten wir uns über Jansens Theorien und meine Rolle dabei. Ich weiß, wie wenig Marc mein lockerer Umgang mit dem Thema gefällt. Doch ohne Sarkasmus und Ironie überlebe ich das Ganze nicht.
Marc erwidert meinen Kuss, doch ich merke, dass er in Gedanken woanders ist. Immer macht er sich Sorgen. Aber derzeit bin ich mir relativ sicher, dass Jansens Schilderungen nicht wahr sein können. Wenn Marc und mich tatsächlich etwas verbindet, bei dem ausgerechnet ich mächtiger sein soll als er, dann würde sich die Kraft in mir doch häufiger zeigen, oder nicht? Häufiger als das eine Mal am vergangenen Samstag ... Himmel, nicht daran denken!
»Noch mehr Sternabzug?«, fragt Marc in diesem Moment.
Ich denke kurz nach. »Definitiv. Meine Rolle ist nicht nur mies ausgearbeitet, hin und wieder verhalte ich mich auch völlig unschlüssig ... und ich hasse es, wenn ich die Handlungen der Protagonistin nicht nachvollziehen kann.«
»Wirklich? Dann sind wir zumindest in dieser Sache einig. Es ist irrsinnig, sich das Bett mit einer Walküre zu teilen.«
»Für einen Menschen vielleicht.« Ich strecke ihm die Zunge heraus. »Aber wenn ich wirklich eine Myx bin und meine Fähigkeiten trainieren würde, dann hätte ich sie vielleicht irgendwann so gut unter Kontrolle wie du deinen Drang zur Verwandlung. Dann müsstest du dir nicht mehr ständig Sorgen machen.«
»Was fang ich dann bloß mit meiner ganzen Zeit an?«
»Mir fällt da einiges ein ...«
Ich schmiege mich fest an ihn. Als ich umständlich ein Bein aus der Decke befreie, um es um Marcs Taille zu schlingen, spannt er sich an.
»Wenn du sagst, du möchtest die Fähigkeit trainieren«, murmelt er. »Willst du mir damit klarmachen, dass du zu dieser Akademie fahren wirst, von der Jansen erzählt hat?«
»Nein ...« Ich hasse es, wenn er die Stimmung runterzieht. »Ich werde fürs Erste nicht dorthin gehen, das habe ich dir versprochen. Aber selbst wenn ... mir passiert schon nichts.«
»Ich weiß nicht, Emma. Wenn es stimmt, was Jansen über das Magische Gesetz behauptet hat, wenn du wirklich Freyas Gabe in dir trägst und ich die meines Vaters Odin, so übersteigt deine Macht vermutlich schon jetzt meine um Längen. Ich muss dich fürchten, nicht andersherum. Odin opferte sich, damit Freya das Portal öffnen konnte, er starb, nicht sie. Das Eis siegt über das Feuer. Du könntest mir wehtun. Mich tö-«
»Sei schon still.« Sonst kriege ich die Erinnerung an Samstag ganz sicher nicht verdrängt.
Das Eis siegt über das Feuer. Todfeinde. Zur Liebe gezwungen und zu Größerem bestimmt - die Öffnung des Portals nach Walhalla -, nur durch irgendeine Form von übernatürlichem Gesetz, das Jansen als das Magische Gesetz bezeichnete. Nein, das kann ich einfach nicht glauben, doch wenn ich mir da sicher sein möchte, muss ich zu dieser Akademie fahren, von der Jansen im Herbst gesprochen hat.
Marc lacht leise, bevor er nach dem Fantasyroman greift und ihn geschlossen auf meinen Nachttisch legt.
»He! Da ist kein Lesezeichen drin.«
»Entschuldige.« Er legt zwei Finger auf meine Lippen, streicht vorsichtig darüber, bevor sein Mund meinen findet. Behutsam stößt er mit der Zungenspitze dagegen, ich seufze und er dringt in mich ein. Heiß strömt sein Atem über mein Gesicht. Wir küssen uns, bis ich mich kurz von ihm lösen muss, um keuchend nach Luft zu ringen. Nein, ganz sicher entspringt unsere Liebe keinem Zwang.
Marc schmunzelt. »Vielleicht bist du doch kein so gefährliches Monster.«
»Wir werden noch sehen.« Das sollte ein Scherz sein, aber Marc erschaudert kurz und ich möchte die gespielte Drohung am liebsten zurücknehmen. Doch dann lächelt er schon wieder.
»Du solltest nicht noch mehr Zeit vertrödeln. Deine Mutter schlägt sicher gleich hier auf, und deinen Vater kann ich unten auf und ab marschieren hören. Er wird bald die Treppe hochkommen, um dich zu wecken. Wir sehen uns an der ...« Mitten im Satz unterbricht ihn das Vibrieren meines Handys. »Siehst du.«
Ohne Marc loszulassen taste ich nach dem Smartphone, und als ich es neben dem Buch auf dem Nachttisch finde, linse ich so kurz wie möglich aufs Display.
TOM: Miss Salvatore? Sind Sie bereit für den großen Tag? TOM: Hätte ich Miss Wesley schreiben sollen? Bist du jetzt sauer?
Vielleicht ist es doch besser, wenn ich Marc bis zur Zeremonie in wenigen Stunden wegschicke. Allein die Vorstellung, was meine Mutter alles vor ihm über mich ausplaudern könnte, ist zu peinlich. Andererseits ...
»Ich dachte, es wäre Tradition, dass wir gemeinsam zum Abschlussball fahren?«
Marc zieht mich noch einmal fest an sich, dann gibt er mich frei. »Ich hatte gehofft, dass du das fragst.« Mit einer einzigen Bewegung kommt er auf die Füße. Er beugt sich zu mir herab und gibt mir einen Kuss auf den Scheitel. »Bis gleich.«
»Sei pünktlich!«
Marc lächelt und eine Sekunde später ist es vollkommen still in meinem Zimmer. Ich widme mich wieder meinem Handy.
Die erste Nachricht von meinem besten Freund kam vor einer Stunde, als ich noch geschlafen habe. Die zweite hat mein Handy eben zum Vibrieren gebracht. Anscheinend schreibt Tom gerade die nächste, denn kaum hab ich mich zurück aufs Kopfkissen fallen lassen, leuchtet der Bildschirm erneut auf. Ich achte nicht darauf. Bei dem ganzen übernatürlichen Drama kann ich mich auf den heutigen Tag nicht konzentrieren.
Meine symbolische Abschlusszeremonie.
Ständig rechne ich damit, dass bedrohliche Walküren vor meiner Haustür auftauchen, die mich, wie Kara und ihre Begleitung im Herbst, aufgespürt haben, und in meinem Tod die Möglichkeit sehen, nach Walhalla zurückzukehren. Bislang ist das nicht passiert, weil Marc und seine Familie über alle Maßen wachsam sind. Der Walküren-Masterplan sieht nämlich vor, keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen.
Dass die übrigen Walküren nichts von Jansens Aufklärungsstunde zum Thema »Walküren und andere übernatürliche Wesen« wissen, ordne ich allerdings als Risiko ein. Sie ahnen nicht, dass der innere Drang, der sie zur Verwandlung zwingt, womöglich einen anderen Auslöser kennt als ihr Heimweh nach Walhalla.
Jansen bezeichnete die Erschaffer der Walküren, Freya und Odin, als Geisterkrieger, da sie ursprünglich lediglich aus einer Art Nebel bestanden, als sie vor zig Jahrhunderten nach Walhalla kamen. Doch ihre neue Heimat war nicht leer. Der Ort gehörte zu jenem Zeitpunkt den Myx, die, wenn es stimmt, meine und auch Jansens magische Vorfahren sind. Freya und Odin töteten ihre Anführer und zwangen die übrigen Myx zur Flucht auf die Erde, um ihrerseits Walhalla zu besiedeln und Nachkommen zu schaffen, die Walküren. Doch sie waren nicht überlebensfähig, weshalb Freya und Odin sie auf die Erde schickten, damit sie dort abermals die Myx aufspüren und diesen das rauben, was ihnen ein Überleben in Walhalla sichert. Marc bezeichnet dieses Etwas als Seele, Jansen sprach von einer magischen Fähigkeit, wie er sie im Übermaß besitzt und ich wiederum in Form der Eismagie, die Freya bis vor ihrem Tod beherrschte. Letztendlich steigerte dieser Raub den Zorn der Myx ins Endlose. Allerdings kümmerte dies die Walküren wenig, denn sie kehrten nach Walhalla zurück und lebten dort so lange in Frieden weiter, bis ihre fremdangeeignete Heimat sie verstieß und nun die Walküren zur Flucht auf die Erde zwang. Dort warteten die Myx bereits auf sie ... na ja, zumindest die eine Familie, die dem Raub der Walküren entwischt ist. Deren einziger Nachkomme ist angeblich Jansen, der vor acht Wochen sehr überzeugt schien, dass es in Walhalla eine Art Ursprungsquelle gibt, aus der die magischen Fähigkeiten der Myx geformt wurden. Da die Walküren sich diese unerlaubterweise angeeignet haben und die Quelle in Walhalla damit geschwächt wurde, geriet der Ort aus dem Gleichgewicht und brach irgendwann zusammen. Wenn Jansen die Wahrheit sagt, dann wird der Verwandlungsdrang der Walküren auf der Erde eben durch jene Ursprungsquelle ausgelöst, die versucht, ihnen die Machtsplitter zu entreißen, um sie schließlich zusammenzufügen, damit das zerstörte Walhalla sich erholt und ... eine neue Myx-Generation hervorbringt? Dazu hat Jansen nichts gesagt, aber in den vergangenen Wochen entstand in den Köpfen der Walküren diese Theorie.
Das klingt, zusammengefasst, noch verrückter als Jansens Behauptung, dass ausgerechnet ich nun diejenige sein soll, in der aus dem Nichts Freyas Eisgabe heranwächst. Weshalb gerade ich? Wieso werde ich damit automatisch zu einer Myx? Warum wächst dann Odins Feuergabe angeblich in Marc heran - einer Walküre? Und nicht auch in einem Menschen? Vielleicht fehlen mir wichtige Infos oder, und das ist weitaus realistischer, Jansen war vollkommen verrückt.
Blöd nur, dass er uns keine Möglichkeit gibt, das herauszufinden. Seit acht Wochen hat sich weder er noch ein Mitglied seiner LFoD in Lincoln blicken lassen. Die LFoD - Jansens magische Aufbewahrungsgefäße, igitt, und seine Zeugen. Angeblich spaltete Jansens Familie, um einem Raub durch die letzte Walküre ohne Fähigkeit, Pearl, zu entkommen, ihre Gabe seit Jahrzehnten auf zig unschuldige Menschen auf. Wenn man es so nimmt, wiederholte Jansens Familie durch diese Magiespaltung mithilfe ihrer Gabe das, was sie wohl von der Quelle aus Walhalla gelernt hatten. So sicherten sie ihr Überleben, und somit auch das der Myx.
Jedoch gibt es dabei ein Problem: Nicht jeder Mensch überlebt diesen Gabentransfer, und jene, die es tun, leiden, da bin ich mir sicher. Leah, die Schwester meines besten Freundes Tom, wurde von Jansen im vergangenen Herbst als eines dieser Speichergefäße ausgewählt. Sie wirkte alles andere als glücklich mit ihrer Rolle innerhalb Jansens LFoD-Armee. Doch auch sie ist seit dem Vorfall abermals spurlos verschwunden.
Der Handybildschirm wird erneut hell; und diesmal ignoriere ich die neue Nachricht nicht.
ASH: Blau oder Rot? Emma, sag schon! Blau ODER Rot?! FAEY: Tay zieht mich die ganze Zeit auf, dass ich den Theaterraum sprengen werde, wenn ich zu deinem vorgezogenen Abschluss komme. Wahrscheinlich hat er nicht unrecht. Ich pack so viele Menschen auf einmal einfach nicht. Tut mir leid. Wir sehen uns danach!
Schnell tippe ich eine Antwort an meine beste Freundin Ash; es ist vollkommen egal, welche Farbe sie auswählen wird, ihr stehen Kleider in jeder Größe und Farbe ausgezeichnet. Dann schreibe ich eine kurze Nachricht an Marcs Schwester Faey: Mach dir keine Sorgen und lass dich nicht vom Mistkerl ärgern.
Tay ist die nervigste Walküre unter der Sonne. Seit dem winzigen Moment Zweisamkeit vor acht Wochen, in dem ich dem Idioten die Existenz gerettet habe, hasst er mich nur noch mehr. Bitte, gern geschehen.
Allerdings ist Tay der Einzige in Marcs Familie, der nicht wie besessen davon ist, die Angelegenheit herunterzuspielen. Dass bisher keine Walküre mein Haus gestürmt hat und Jansen oder die LFoD sich nicht wieder in Lincoln haben blicken lassen, verstehen Marc, Faey und Caulder nämlich als gutes Omen. Wenn es nach ihnen geht, soll ich mich voll und ganz auf die Planung meines Büchercafés und damit mein menschliches Leben konzentrieren dürfen. Immerhin läuft ja alles seit zwei Monaten glatt. Marc liest eindeutig keine Fantasyromane, sonst wüsste er, dass das meistens nichts Gutes bedeutet.
Tay rührt ziemlich sicher auch keine Bücher an, trotzdem bereitet er sich auf einen Kampf vor. Dank seiner Gabe könnte er den übrigen Walküren befehlen, die Dinge genauso zu sehen wie er. Dass er das bisher nicht getan hat, ist fast schon ein Grund, ihm dankbar zu sein ... Haha.
Ich starre an die Wand, während ich darauf warte, dass sich meine zermürbenden Gedanken in Luft auflösen. Tun sie nicht. Stattdessen driften sie zu dem einzigen Gespräch, das Tay und ich in den vergangenen acht Wochen geführt haben ...
»Hast du dich mittlerweile entschieden, ob du Marc liebst?« Tays wissender Blick suchte herausfordernd meinen. Er hatte meine Worte im Auto nicht vergessen.
»Ja.«
»Ich will es für dich hoffen.« Er senkte den Kopf und sein länger gewordenes blondes Haar fiel ihm in die Stirn. »Du bist schuld, wenn er draufgeht, Hexe.«
Seit Tay das gesagt hatte, versuchte ich, es zu vergessen. Es hätte mich nicht weiter kümmern sollen, denn ... für Marc ist die Sache mit uns glasklar, und das ist doch das Einzige, was mich interessieren sollte.
Aber ich habe Marc noch immer nicht gesagt, dass ich ihn liebe. Weder als ich nicht wusste, ob wir uns je wiedersehen, noch an einem anderen Tag seitdem.
Ich beiße die Zähne zusammen und schlage die Decke zur Seite. So leicht lässt sich mein Gehirn also nicht überlisten, verdammt! Das kann -
»Klopf, klopf«, sagt Dad draußen vom Flur und ich höre sein verlegenes Grinsen. »Schläfst du noch? Hast du vergessen, welcher Tag heute ist?«
Natürlich nicht. Allein schon wegen der ganzen Plakate, der üppigen Deko, die das ganze Schulgebäude pflastert und im Theaterraum eine grelle, völlig überladene Krönung findet, vor allem aber wegen Ash, die mir seit Tagen mit der bevorstehenden Abschlusszeremonie in den Ohren liegt.
Die Tür wird einen Spaltbreit geöffnet und keine Sekunde später lugt Dad ins Zimmer. Ein geschäftsmäßiger Ausdruck liegt auf seinen angespannten Gesichtszügen. In den Augen spiegelt sich die selbe Aufregung, die in meinem Magen heftig rumort.
»Die Zeremonie beginnt doch erst in ein paar Stunden«, fange ich hoffnungsvoll an, doch ich kenne Dads Antwort bereits.
»Nichts da. Obwohl ich zugegeben nichts anderes zu tun habe, als euch später zur Schule zu chauffieren.« Also bleibt der Laden heute geschlossen, weshalb wir nun beide wohl nicht so genau wissen, was wir mit uns anfangen sollen. Normalerweise stehe ich an einem Samstagmorgen um diese Uhrzeit schon im Outdoor-Laden, verkaufe Zelte, Bärenabwehrspray und Rucksäcke.
Unschlüssig schauen wir umher, bis sich unsere Blicke treffen und Dad brummig sein vibrierendes Handy aus der Tasche zieht. »Und Anna beruhigen. Das muss ich auch tun. Silas hat sich die Haare gefärbt und jetzt ...« Er stockt und schweigt eine Weile. »Wie auch immer. Mach dich mal fertig.« Dad klingt heiser, dann schluckt er kurz. Seit er mit Silas’ Mum zusammen ist, hab ich das Gefühl, ist er noch aufmerksamer geworden, als er es eh schon gewesen ist. Einen schlechteren Zeitpunkt dafür könnte es nicht geben, denn noch nie hatte ich so viele Geheimnisse vor ihm wie im Moment. Früher oder später werde ich ihn einweihen, das habe ich mir fest vorgenommen. Aber es ist ehrlich gesagt nicht so leicht, das Ganze zu erklären:
Marc kommt gar nicht aus Wales, sondern aus Walhalla. Er ist eine Walküre und Walhalla so eine Art Unterwelt, welche Marcs Erschaffer, Freya und Odin, vor zig Jahrhunderten den Myx geklaut haben. Der Weg dorthin zurück, der über ein Portal führt, wurde allerdings vor einhundert Jahren verschlossen, was immerhin bedeutet, dass uns peinliche Schwiegerelternbesuche erspart bleiben.
Allerdings könnte sich dies bald ändern. Denn Marcs Schwester,
Faey, entdeckte jene Gabe in mir, die das Portal öffnen könnte. Aus diesem Grund hätte Marc mich letzten Sommer erst fast getötet, dann hat er sich aber doch in mich verliebt. Du kannst dir sicher denken, dass unsere Beziehung dadurch eh schon recht kompliziert war, aber der Ex-Bürgermeister von Lincoln, Jansen, hat alles erst so richtig anstrengend gemacht. Er behauptet, dass deine Tochter kein Mensch ist, sondern genau eine dieser Myx, denen Marcs Artgenossen einst das Zuhause stahlen. Um es kurz zu machen: Der Verbindung zwischen Marc und mir könnte ein uraltes magisches Gesetz zugrunde liegen, das wiederum eine Legende in Kraft setzen könnte, über die uns Jansen nichts verraten hat. Wir gehen aber einfach mal davon aus, dass sich dann ein Portal öffnet, das Marc zurück nach Walhalla bringt. So ganz sicher bin ich mir nicht, ob er sich gegen eine Rückkehr entscheiden kann, wenn das Portal erst einmal geöffnet wurde, weshalb ich ständig davon träume, Marc zu verlieren. Und was meine Liebe für ihn anbetrifft: nun, ich bin mir nicht sicher. Aber mach dir deshalb keine Sorgen; das wird schon.
Ich schätze mal, unsere liebevolle Vater-Tochter-Beziehung fände mit diesem Gespräch ein jähes Ende.
Unten klopft jemand entschlossen an die Haustür.