Vertraue niemals, niemals, niemals einer dämlichen walküre, die du ein paar tage zuvor noch vergiften wolltest

Im Wageninneren ist ja schon kaum Platz für Tays unnatürlich großes Ego - mit meinen Ängsten und Zweifeln noch dazu habe ich das Gefühl, zu ersticken, kaum dass ich auf dem Beifahrersitz Platz genommen habe. Ohne ein Wort zu sagen greift Tay über seine Kopfstütze nach hinten zu seiner Jacke, um sie sich anschließend über sein weißes T-Shirt zu ziehen.

»Seit deiner Showeinlage ist mir irgendwie kalt«, erklärt er mit einem Zwinkern und zieht den Reißverschluss der schwarzen Fleecejacke bis unters Kinn. Jetzt sieht er aus wie ein Einbrecher - schwarze Jeans, schwarze Kapuzenjacke, dazu trägt er sogar schwarze Sneakers. Offenbar hat er die ganze Zeit über darauf spekuliert, dass wir heute noch zur Akademie fahren. Obwohl ich am liebsten schreien und fluchen will, wirkt Tay megaruhig. Und er hat offensichtlich keine Lust auf ein Gespräch.

Die erste Viertelstunde der Fahrt schweigen wir. Hin und wieder mustere ich Tay von der Seite. Er ist etwas bulliger als Marc gebaut. Am Hals spannt sich seine Haut über Muskeln und Adern. Ich kann seine Halsschlagader pulsieren sehen. Vielleicht ist er doch unruhiger, als er den Anschein erweckt. Sein Kiefer zuckt hin und wieder, weshalb ich mich ehrlich frage, worüber Tay gerade nachdenkt.

Ich rutsche ein Stück zum Fenster und lehne den Kopf gegen das kühle Glas. »Woher weißt du eigentlich, welchen Weg wir nehmen müssen?«

»Ich bin Dec neulich gefolgt«, erwidert Tay trocken.

»Du bist was?« Ich presse die Lippen aufeinander. »Wann?«

Tay unterdrückt ein Lächeln und sieht kurz zu mir. »Hast du vergessen, dass ich seit über einer Woche dein Wachhündchen spielen muss? Als du und Faey eure niedliche Übernachtungsparty veranstaltet habt und Marc sonst wo unterwegs gewesen ist, war Dec wiederum mit Tom weg. Danach habe ich mich an seine Fersen geheftet.« Mit einem Seufzen wendet er sich wieder dem Verkehr zu. »Doch nicht nur eure Zeit-Manipulier-Scheiße macht die Sache unnötig kompliziert.«

Ich starre in die dunkle Nacht hinaus. »Schon verstanden - aber würdest du bitte damit aufhören, ihn und mich ständig gleichzusetzen?«

»Tatsächlich habe ich mir ein paar Gedanken darüber gemacht, nachdem du mir von Decs Behauptungen erzählt hast.« Tay schüttelt langsam den Kopf und knirscht mit den Zähnen. »Weshalb sollte Dec deine Hilfe brauchen, wenn deine Fähigkeit seiner gleicht? Was macht ihn, den vermeintlich Schwächeren, dann so sicher, dass er dich trainieren kann, wenn die doch, sollte Dec die Wahrheit sagen, nicht denselben Ursprung kennt wie seine? Warum heftet sich nur Dec an Jansens Fersen? Wieso stellen die übrigen Akademie-Mitglieder keine Fragen? Was sollst du an der Akademie tun, damit die anderen dir vertrauen? Ein Tänzchen aufführen?«

Nervös trommele ich mit den Fingern auf die Oberschenkel. Auch ich habe mittlerweile begriffen, dass mich Decs Lage weitaus weniger zu Tränen rühren sollte, als es das noch während unseres Gesprächs getan hat. Zu viele Dinge, die er gesagt oder gemacht hat, sind vollkommen widersinnig. Doch egal, wie viele Dutzende Szenarien und Tausende Wenns und Abers ich gedanklich durchspiele, um einen Besuch der Akademie werde ich nicht wirklich herumkommen. Ganz egal, was und wer mich dort erwartet.

»Ich habe auf keine deiner Fragen eine Antwort«, gebe ich zu. »Vielleicht wurde Dec auch angelogen? Bis auf Jansen hat womöglich niemand eine Ahnung, was wirklich los ist.« Wieder blitzt die Vermutung auf, die mich schon eine ganze Zeit nicht loslässt. Was ist, wenn Jansen nicht das Problem war? Die Frage brauche ich Tay nicht zu stellen, denn er würde wissen wollen, wen ich denn als Strippenzieher sehe, und darauf habe ich schon wieder keine klare Antwort.

»Was ist Dec dann, wenn kein mieser Verräter? Der Rächer der Enterbten?«

»Lustigerweise hat Dec Jansen Batman genannt.«

Tay zieht eine Augenbraue nach oben. »Robin Hood, Emma. Batman ist der dunkle Ritter.«

»Wie auch immer. Wir haben eh keine andere Wahl - wir müssen zur Akademie fahren.«

Tay dreht den Kopf zu mir und unsere Blicke treffen sich. In seinen leuchtend gelben Augen toben die Gefühle. Seine Iriden färben sich dunkler, bis sie fast ein Karmesinrot annehmen, dann atmet er tief durch und schaut weg. »Glaub aber bloß nicht, dass du dort einfach so reinspazieren kannst.«

»Was meinst du damit?«, erkundige ich mich.

»Das Gebäude ist besser geschützt als Fort Knox. Zumindest ... vor Walküren.«

»Hm.« Unruhig ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und werfe einen Blick darauf. Zehn nach sechs. Keine Nachricht von Marc. »Wie lange fahren wir?«

»Es ist noch ein Stück.«

Tay tippt aufs Navi, damit ich den Streckenverlauf besser nachvollziehen kann. »In knapp zwanzig Meilen müssen wir auf eine unbefestigte Zufahrtsstraße abbiegen - das Navi kennt sie nicht mal.«

»Na wunderbar«, murre ich. »Ist die Schule zufällig auch noch unsichtbar?«

Tays Lachen hallt durchs Wageninnere. »Ich glaube nicht.«

»Glaube ...?«

»Schau es dir an, wenn du da bist.«

Ich verdrehe die Augen. »Das hat Dec auch ständig erzählt.«

»Setz mich nicht mit ihm gleich«, verlangt Tay nun empört und schaltet in einen niedrigeren Gang, weil unser Vordermann gerade sein Überholmanöver abbrechen musste und sich nun wieder vor uns in die Spur einfädelt. »Vollidiot«, schimpft Tay und zieht jetzt an dem grauen Pick-up vorbei.

Ich halte den Blick auf das Auto gerichtet und drehe mich sogar danach um, bis der Pick-up nicht mehr zu sehen ist. Obwohl Dad sich ständig irgendein Auto ausleihen kann - Dorfgemeinschaft sei Dank - vermisse ich unser uraltes Rostteil. Der Pick-up ist genauso mein Zuhause gewesen.

Tay bemerkt meine Unruhe. »Dec hat also euren Laden abgefackelt? Und das Auto gleich mit dazu?«

»Wenn er neben dem Zeit-Ding auch noch das Feuer beherrscht, war es wohl so.«

Tays Hände zittern leicht am Lenkrad. »Was seid ihr bloß für abgefahrene Wesen?«

Meine Miene verfinstert sich. »Ich weiß es nicht. Tut mir leid, dass ich nicht das richtige Monster für dich bin.« Es ist völlig absurd, dass gerade ich nun Marcs Worte vom Herbst wiederhole - auf mich bezogen. »Ich wäre auch lieber eine Walküre anstatt euer Feind.«

»Feind?«, hakt Tay mit gespielter Überraschung nach, obwohl er ganz genau weiß, was ich meine. Er ist derjenige, der mich ständig an meine Rolle erinnert. »Dann muss ich mich ja vor dir in Acht nehmen.«

Ich richte den Blick auf die Straße. Schattenhaft fliegen in der Dunkelheit die Bäume vorbei, die den Highway säumen. »Ja, pass bloß auf, dass mich nicht noch etwas zum Angriff verleitet.«

»Ich kann dir keine Befehle geben, das funktioniert wohl nur andersherum, schon vergessen?« Tays selbstgefälliger Blick sucht meinen. »Oder was meinst du?«

»Nichts.« Ich werde ihm ganz sicher nicht beichten, dass ich es letzten Sonntag geschafft habe, einen intimen Moment zwischen mir und Marc zu zerstören. Allerdings frage ich mich schon, weshalb die Macht in Tays Nähe nicht zu jener unkontrollierten Kraft auswächst, die mich in Marcs Nähe zum Angriff auffordert. Vielleicht hat es ja etwas damit zu tun, wie nah ich einer Walküre komme - wie auch immer, ich werde es ganz sicher nicht mit Tays Hilfe herausfinden »Wenn du meinst.« Plötzlich werden wir langsamer. Ich habe keine Ahnung, woher Tay weiß, dass er genau jetzt abbiegen muss, denn laut Navi sind es noch gut drei Meilen, doch kurz darauf tuckern wir über eine unbefestigte Straße ohne Markierungen. Sofort wird mir schlecht. Auch Tay wirkt ziemlich angespannt. Er klammert die Finger fester um das Lenkrad, doch ich kann spüren, wie heftig er bebt. Als stünde er kurz vor einer Verwandlung.

Das ist eine Falle. Verdammt. Wir müssen sofort umkehren!

Bei dem plötzlichen Gedanken bläht sich ganz kurz Macht in mir auf. Wieder, so kommt es mir vor, beginnt die Kühle an meinem Handgelenk. Ehe ich mich’s versehe, schwebt ein kleiner Zyklon aus Eiskristallen über meinem Kopf. Wow. Das ging schnell.

»Hey, Elsa, entspann dich. Ich hab keine Lust darauf, dass die Sitze gleich klitschnass sind.«

Ich hebe instinktiv meine Hand und der Eissturm ebbt augenblicklich ab - gut, vielleicht ahme ich auch nur eine Geste nach, wie ich sie aus meinen Fantasybüchern kenne, aber dass es funktioniert, ist trotzdem ziemlich abgefahren. Vielleicht ist Tay ja wirklich ... Okay, stopp! Was um alles in der Welt wollte ich da gerade denken?

»Hat Dec etwas darüber verraten, was genau du an der Akademie tun sollst? Außer Leben retten«, murmelt Tay, da fahren wir gerade an einer noch schmaleren Abzweigung vorbei - eine Art Feldweg. Die Scheinwerfer erhellen den Weg nur für einen Sekundenbruchteil, aber mir wird trotzdem aus irgendeinem Grund noch unbehaglicher zumute, als ich den Schotterweg im fahlen Mondlicht erkenne. Unkraut überwuchert den Kies und die Äste der riesigen Bäume werden vom aufgekommenden Wind bewegt. Ist das Nebel, da auf dem Boden? Um diese Uhrzeit? In mir baut sich ein unerklärlicher Druck auf.

»Wohin führt der Weg dort?«

Tay ist irritiert, weil ich ihn übergehe. »Keine Ahnung ...? Zu einem Jägerstand vielleicht, Wald, Pilze, eine kleine, niedliche Hütte ...«

»Möglich«, erwidere ich, obwohl ich mir sicher bin, dass es nicht so ist. Schräg. »Dec meinte, ich würde alles viel besser verstehen, wenn ich erstmal an der Akademie bin.«

»Klingt ja ... vielversprechend.«

Ich schlucke und schiebe die Ärmel meiner Jacke nach oben. »Du musst das nicht machen, Tay.«

»Marc ist nicht hier, Odin weiß warum, und ich bin in dieser Sache nun sein Stellvertreter.«

»Ich habe Marc vor zwei Stunden geschrieben«, gebe ich mit dünner Stimme zu und schaffe es kaum, einen Schluchzer zu unterdrücken. »E-Er weiß, dass Dec bei mir aufgetaucht ist, und trotzdem hat er sich nicht gemeldet. Weißt du, wie lange er im Bürgermeisterbüro war?«

»Nope, ich hab die Neuigkeiten nur per Handynachricht gekriegt und bin dann sofort zu dir gefahren.« Tay schnalzt mit der Zunge und seufzt laut, während er den Wagen parkt. Dann liegt seine Hand plötzlich auf meinem Oberschenkel. »Aber für Marcs Abwesenheit wird es einen Grund geben.«

»Ich habe Angst, dass ... Marc wegen mir nicht die Wahrheit sagt. W-Weil er mich beschützen will oder mir nichts zutraut oder ...« Meine Stimme bricht.

Darauf sagt Tay nichts. Er wirkt bedrückt. Wahrscheinlich wachsen die Zweifel in seinem Kopf gerade genauso an.

Ich atme tief ein und wieder aus, als Tay Motor und Licht ausschaltet. Ohne die Lichtquelle ist es um uns herum pechschwarz. Im Leben finde ich mich draußen nicht ohne Tays Hilfe zurecht. Wunderbar.

»Darüber können wir auf der Rückfahrt nachdenken«, sagt Tay nach einer Weile. »Bist du bereit, Hexe?«

»Wenn ich wirklich eine Hexe wäre, würde ich dann nicht vorhersagen können, wie das hier enden wird? Ehrlich gesagt wüsste ich nichts lieber als das.«

»O Mann, schon mal überlegt, dass es vielleicht ganz gut ist, dass du das Ende der Geschichte nicht kennst, weil du die Sache sonst nie und nimmer durchziehen würdest?«

»Ach du Scheiße, was? Solltest du mich nicht motivieren?«

»Ich sag ja nur.«

Es stimmt. Wir können nicht einschätzen, was heute Abend alles passieren wird und ob wir ... überleben werden. Oh verdammt, ich verbringe meine womöglich letzten Stunden an der Seite jener Walküre, die mich vor einer Woche noch mit Freude von einer Brücke geschubst hätte? Ich muss vollkommen verrückt geworden sein.

Ich schnalle mich ab. »Ziehen wir’s durch.« Dafür, dass mein Herz gerade kurz vorm Abheben ist, klinge ich ziemlich entschlossen.

»Hier.« Irgendetwas pikst mich an der Schulter. »Iss.«

Dankend greife ich nach dem Schokoriegel, breche ihn in der Mitte und stecke mir beide Hälften zusammen in den Mund.

Tay beobachtet mich grinsend. »Zugegeben, ich mag es bisher ganz gern, wenn nur du und ich Spion spielen.«

Beinahe hätte ich mich verschluckt. »War das ein Kompliment? Ich wusste es. Du warst neulich schon viel zu freundlich! Wir sind wirklich verloren.«

Als ich die Tür öffne, legt Tay eine Hand auf meinen Arm. »Ich lasse nicht zu, dass uns etwas zustößt, okay?«

Darauf kann ich nichts sagen, also nicke ich nur. Dann stehen wir draußen und atmen für ein Waldstück ungewöhnlich stickige Luft ein. Riecht irgendwie nach ... Smog und Ruß? Abgesehen von dem eigenartigen Geruch nehme ich nichts in meiner Umgebung wahr. Es ist zu dunkel. Vielleicht stehe ich ja direkt neben einer Fabrik, ohne es zu merken.

Tay geht um den Wagen herum und stellt sich neben mich. »Ich hab das eben nicht gesagt, weil ich denke, dass ich stärker bin als du. Das ist dir klar, oder?«

»Bist du ein Alien?«, frage ich überfordert.

Neben mir leuchtet Tays Handy auf, als er die Taschenlampe aktiviert. »Wär dir das lieber?«

»Nicht wirklich.« Ich starre auf den lichterhellten Boden. »Ich frage nur, weil du plötzlich so nett bist. Ich will nur sichergehen, dass du den echten Tay nicht entführt hast.«

»Sorry ...«, erwidert Tay mit einem leisen Lachen. »Dann zeig ich dir mal, wo genau hier unser Problem liegt.« Zu meiner Überraschung deaktiviert Tay die Taschenlampe wieder.

»In der Dunkelheit den Weg zu finden?«

»Er führt nur geradeaus«, verspricht Tay und entfernt sich zielstrebig ein paar Schritte von mir, bis ich seine Statur nur noch mit Mühe erkennen kann.

Nach fünf Sekunden bleibt er stehen. Urplötzlich flammen Lichter um ihn herum auf: Rot, Blau, Grün, Lila. Wie eine Welle rauschen die Funken über den Boden. So schnell kann ich gar nicht schauen, da haben sie Tay schon erreicht. Sein Körper wird von heftigen Schockwellen durchgeschüttelt. Er fällt auf die Knie.

Bis auf die Lichter hat niemand Tay berührt, aber sein Körper zuckt im bunten Schein wie wild. Er krümmt sich vor Schmerzen. Entsetzt haste ich zu ihm.

»Tay!«, kreische ich. Meine grelle Stimme hallt in der Stille des Waldes wider, als ich auf ihn zustürze, um ihn vor wasauch-immer zu schützen. Kein einziger Laut kommt Tay über die Lippen, während er sich auf der eiskalten Erde krümmt. Als ich ihn erreiche, denke ich nicht lange nach und packe den Stoff seiner Jacke, um ihn irgendwie von dem Licht wegzubringen, das, so kommt es mir vor, eine Art elektrische Impulse aussendet.

Ich ertrage es nicht, Tay so zu sehen, ganz und gar nicht. Die Lichter um uns herum blitzen noch immer. Dann ist die Umgebung mit einem Mal wieder pechschwarz.

Mein Starre dauert noch genau zwei Sekunden an - so lange braucht Tay nämlich, um neben mir auf die Beine zu kommen.

»Spannend«, sagt er und klopft sich den Dreck von den Knien. »Ich wusste nicht, dass du dich derart um mich sorgst, Hexe.«