Jammern bringt uns auch nicht weiter, ist aber manchmal leider auch notwendig

Kaum sind wir vom Schulparkplatz gerollt, bitte ich Marc darum, mein Handy an den Bordcomputer anzuschließen. Eine halbe Stunde lang hören wir abwechselnd Taylor Swift und Harry Styles. Zu unserer Entspannung trägt die Musik allerdings nicht wirklich bei.

»Du und Tay«, flüstert Marc irgendwann, und ehrlich gesagt wundert es mich, dass er noch mal darauf zu sprechen kommt.

Meine Hände umfassen das Lenkrad fester. »Ja, ich bin gemeinsam mit Tay zur Akademie gefahren und wieder zurück. Mehr nicht.«

Marc dreht sich zu mir. »Ich hatte vor knapp zwei Wochen einen Traum, in dem ich dich mit Tays Hilfe aus dieser Akademie befreien musste. Damals war die Chance, dass gerade er mit uns zusammenarbeiten wird, eher ... gering. Mittlerweile hat sich das wohl geändert.«

»Was nicht an mir liegt, falls du das denkst. Tay hat mir gestern geholfen. Er war einfach da ...« Ich bin so überfordert damit, mir ein »Als du es nicht warst« zu verkneifen, dass ich kurz nicht über das nachdenke, was ich hinterherschiebe: »Aber seine Gefühle für ...« Ich beiße mir auf die Zunge und merke, wie ich rot werde. Die Kombination aus Hilfe-ich-schwänze-Schule und Schlafmangel treibt mein Gehirn nicht gerade zu Höchstleistungen an.

»Tays Gefühle für wen

Meine Überforderung sammelt sich zu einem Knoten in meinem Magen. »Ich glaube, Tay will nicht, dass irgendjemand davon weiß.«

»Was weiß?«, fragt Marc ungewohnt provokant. »Was? Dass er sich in meiner Abwesenheit an meine Freundin ranmacht, weil die in der Lage ist, seinen Befehlen standzuhalten?«

»Marc? Würdest du bitte aufhören, so einen Mist zu reden?« Jetzt macht sich auch noch ein schlechtes Gewissen breit. »Es ist ganz anders -«

»Nimm ihn bloß nicht auch noch in Schutz.«

Ich schaue kurz zu Marc. Er hat den Kopf gegen das Seitenfenster gelehnt und die Augen halb geschlossen. »Du bist ja wirklich eifersüchtig!«

»Möglich.«

»Sollten wir nicht viel lieber darüber reden, was Zeno vorhin über seine Familie behauptet hat und was uns gleich an der Akademie erwarten wird? Meinst du, dass sie die Strippenzieher hinter allem sind? Wir sollten einen Plan schmieden. Oder nicht doch lieber zu Caulder auf die Polizeiwache fahren, damit er nachprüft, ob Zeno überhaupt die Wahrheit sagt und wir nicht drauf und dran sind, uns auszuliefern?«

Marc blinzelt. »Selbe Antwort wie eben: möglich.«

Daraufhin schweigt er. Als wir die holprige Schotterpiste erreichen, halte ich es nicht mehr aus. Immerhin habe ich Marc Aufrichtigkeit versprochen.

»Tay hatte Gefühle für Pearl.« Ich kupple runter und versuche trotz meiner zittrigen Finger, den Wagen in der Spur zu halten. »Ich glaube, deshalb ist er gestern in Dads Küche auch so ausgerastet. W-Wir müssen ein Auge auf ihn haben, damit er sich nicht in Gefahr bringt.«

Marc überlegt einen Moment. »So wie wir gerade?« Als ich zerknirscht nicke, atmet Marc tief durch und zieht die Augenbrauen zusammen. »Pearl, hm? Na ja, wenn du glaubst, Tay von irgendetwas abhalten zu können, dann muss ich dich enttäuschen. Er ist starrköpfiger als du. Niemand kann Tay kontrollieren. Du kannst dir nie sicher sein, was er vorhat und wohin er geht.«

Ich hole tief Luft. Es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu diskutieren, Marc ist weniger überrascht von meiner Enthüllung als erwartet. Ich konzentriere mich auf den Weg, werfe einen kurzen Blick links in den Feldweg und stelle fest, dass dort heute kein seltsamer Nebel über den Boden wabert. Zweifel überkommen mich, ob ich letztes Mal überhaupt richtig geschaut habe.

»Hier soll es sein?«, fragt Marc da, und auf mein Nicken hin, schaut er mich verständnislos an. »Sicher?«

»Hm, ich zeig es dir.«

Ich parke den Sportwagen am Straßenrand und bin dankbar, dass wir anscheinend die einzigen Gäste sind.

Doch Marc macht keine Anstalten, sich abzuschnallen. »Hast du das Armband dabei?«

»Was«?, frage ich überrascht. »Natürlich nicht! Hast du vergessen, dass ich dich damit gestern beinahe getötet hätte? Ich trag dieses Teil auf keinen Fall mehr!«

»Nein. Ich dachte nur - anscheinend hilft es dabei, die Kraft schneller abzurufen.«

Ich stöhne und schnalle mich ab. »Damit ich dich nochmal ausknocke? Ich hatte gestern Todesängste! Das kommt nicht infrage, und außerdem ist es jetzt eh zu spät. Nun sind wir schon hier.« Völlig schutzlos, planlos, hilflos. O Gott - das ist, wenn ich so darüber nachdenke, mit Abstand die dümmste Idee, auf die wir nach der Auseinandersetzung mit Zeno kommen konnten. Weshalb hat Marc mich nicht aufgehalten. Er ist doch sonst auch immer der Vernünftige von uns beiden. Schon allein die Vorstellung, dass die Schuldirektorin sich in diesem Augenblick bei Dad meldet, der dann wiederum verzweifelt nach mir sucht und sich in Gefahr bringt, ängstigt mich. »Kannst du wenigstens Caulder schreiben, dass er in der Schule anruft und uns irgendein Alibi gibt?«

Mit einem Nicken zieht Marc sein Handy aus der Hosentasche und tippt kurz aufs Display. »Erledigt.«

Ich wickle mir eine Haarlocke um den Finger und schaue geradeaus durch die Windschutzscheibe auf den vermeintlichen Eingang zur Akademie. Einerseits will ich Marc am liebsten bitten, sofort umzukehren und zurückzufahren, damit ich mich tagelang unter meiner Bettdecke verstecken kann. Andererseits ist die Neugierde, was Dec von mir will, und vor allem die Hoffnung, Leah und den übrigen Mitgliedern helfen zu können, mittlerweile so groß, dass ich unmöglich widerstehen kann. Was ist, wenn wir bereits viel zu viel Zeit verschwendet haben? Ist es wirklich möglich, dass ich schon deutlich früher Teil der ganzen Sache wurde, ohne es bemerkt zu haben? Hat meine Mutter etwas damit -

»Du fragst dich, was deine Mutter mit dem Ganzen tun hat, oder?«, murmelt Marc wie aufs Stichwort.

»Auch«, gebe ich zu und senke den Kopf. »Aber vor allem will ich mehr über meine eigene Rolle herausfinden. Wie lange spiele ich sie schon unbemerkt? Hast du mal darüber nachgedacht, dass unsere Begegnung vielleicht gar nichts geändert hat, weil mein Schicksal schon viel früher fremdbestimmt wurde? Womöglich bist auch du nur ein winziges Zahnrad im großen Ganzen, genauso wie Dec, Jansen und meine Mum.«

»Ich weiß es nicht.« Sanft greift Marc nach meinem Kinn und dreht meinen Kopf behutsam zu sich. Als ich ihn anschaue, setzt mein Herz einen Augenblick lang aus. »Aber um ehrlich zu sein will ich so nicht denken«, fährt er fort. »Denn wenn es so wäre, dann können wir absolut nichts ausrichten. Wir können keine Wege verändern und ich hasse es - ich hasse die Vorstellung, dich an irgendetwas zu verlieren und es nicht aufhalten zu können.«

Mit Tränen in den Augen greife ich nach Marcs Handgelenk und halte mich daran fest. »Aber ich musste herkommen, du verstehst das doch, oder? Wenn nur die winzige Chance besteht, irgendwem da drin zu helfen, möchte ich nichts unversucht lassen. Vielleicht bin ich jetzt schon zu spät.«

Marc zieht seine Hand langsam von meinem Kinn und lehnt sich wieder zurück in seinen Sitz. »Deshalb habe ich dich auch nicht aufgehalten. Manche Risiken muss man eingehen.«

»Gestern habe ich eine riesige Angsthasen-Panik bekommen, kaum war ich bloß über die Schwelle getreten. Ständig spucke ich große Töne, wie dringend ich herkommen muss. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, möchte ich gerade einfach nur nach Hause. Mittlerweile begreife ich, weshalb du mich bisher immer aufgehalten hast. Ich kneife dort vorne ganz bestimmt, untrainiert und ohne Plan, und dann gerätst du in Gefahr und -«

»Ich bin froh, dass du mir deine Sorgen anvertraust, Emma, wirklich. Aber ...« Marc hält inne und räuspert sich. »Für einen Rückzug ist es jetzt zu spät, befürchte ich.«

»Was?« Mein Herzschlag vervierfacht sich, als Marc seine Hand fest auf meine legt. »Was kannst du sehen?«

»Ich höre, dass jemand über die Schwelle getreten ist. Das Licht knistert leise. Sie warten auf uns.« Er drückt meine Hand und sieht mich mit glänzenden Augen an. »Vielleicht habe ich es im Herbst ganz passend getroffen und du bist wirklich mein Schicksal. Ich habe dir heute Nacht nicht umsonst versprochen, dich am Leben zu halten, ganz gleich, welchen Preis ich dafür zahlen muss. Meine Existenz auf der Erde dauert schon sehr lange und vielleicht bist du mein Happy End. Manchmal will ich es so sehen ...«

Ich möchte Marc sofort unterbrechen, doch im selben Moment zieht er mich über die Mittelkonsole auf seinen Schoß.

»Bevor wir dort reingehen, habe ich noch eine Bitte ...«

»Ich werde dich da drin nicht allein zurücklassen«, fauche ich. »Das kannst du vergessen. Ende, aus, Schluss.«

Marc lächelt. »Versprichst du mir, wann immer du an mich denkst, das in mir zu sehen, was du als erster und einziger Mensch von Anfang an erkannt hast? Ich spreche nicht von dem übernatürlichen Wesen mit Flügeln, das Walhalla aus mir formte, und auch nicht von meiner menschlichen Hülle auf der Erde. Was ich meine, ist mein innerstes, ehrliches Ich - mein Charakter, mein freier Wille, nenn es, wie du möchtest. Odin und Freya bestanden einst nur aus Nebel, ich will glauben, dass auch irgendetwas von meinen Eltern in mir gespeichert ist. Aber versprich mir, diesen winzigen Teil von mir niemals zu vergessen, mich nicht zu vergessen.« Marc schluckt. »Vergiss niemals, wie sehr ich dich liebe.«

Auf seine Worte hin bildet sich ein dicker Kloß in meinem Hals, deshalb nicke ich nur und wir steigen gemeinsam aus.

Ein paar Minuten später stehen wir vor der Lichtschranke und einem blassen Mädchen gegenüber. Ihr Haar ist unordentlich aus dem herzförmigen Gesicht gekämmt. Ihre dunklen Augen wirken verschlossen und alles andere als glücklich, als sie zuerst mich und dann Marc mustert.

»Guten Tag«, sagt sie. Ihre Stimme ist völlig emotionslos. »Ihr seid eingeladen worden von: Declan Stuart. Eure Besuchszeit beträgt vierundzwanzig Minuten. Räumlichkeiten, die ihr betreten dürft: Innenhof.«

»Was zur Hölle«, sprudelt es aus mir heraus. Ich werfe einen kurzen Blick zu Marc, der aussieht, als hätte er gerade einen Geist gesehen. Und ich glaube, das haben wir auch.

Das eigenartige Mädchen lässt sich jedenfalls nicht beirren. »Habt ihr Fragen?«

Marc runzelt die Stirn. »Wer bist du?«

»Eure Besuchszeit beginnt ab jetzt. Herzlich willkommen an der ehemaligen Sammelstelle der Ehrwürdigen, die sich heutzutage im Besitz der Familie Stuart befindet. Bitte fasst nichts an.«

»Sammelstelle für ... was?« Meine Hände ballen sich hilflos. »Wovon redest du?« Es fühlt sich falsch an, das arme Mädchen auszufragen. Es ist offensichtlich, dass sie unter einer Art Bann steht.

Sie lächelt schwach. »Ihr habt noch zweiundzwanzig Minuten.«

Ohne Vorwarnung vibriert der Köper des Mädchens. Erschrocken reißt sie die Augen auf und ihren Lippen entweicht ein stummer Schrei, als aus dem Nichts dichter Nebel überall aus ihrem Körper dringt und sie innerhalb weniger Sekunden vollständig umhüllt.

Augenblicklich zieht mich Marc in seine Arme und so sehe ich nicht, wie das Mädchen lautlos in der Luft verpufft.