Liebe ist ein selbstsüchtiges ding

Am Wochenende gebe ich Dad gegenüber vor, krank zu sein, bleibe im Bett und versinke in einem besonders weltfremden Fantasyroman. So kann ich wenigstens so tun, als wäre der vergangene Freitag nur in einem meiner Bücher passiert - und nicht in meinem eigenen Leben.

Immer wieder sehe ich Leah vor mir. Es stimmt also. Die blaue Flüssigkeit, die Leah und den anderen an der Akademie gegen ihren Willen eingeflößt wird, stärkt ihr Immunsystem auf eine Weise, die mehr als beängstigend ist. Leahs Körper hat den für Menschen tödlichen Nebel dadurch einfach ... weggeblasen.

Im Gegenzug wirkt dieselbe Flüssigkeit wiederum auf Walküren schädigend. Ich bin mir sicher, dass es sich mit dem Armband ähnlich verhält, zumindest dann, wenn es in die Flüssigkeit getränkt wird. Auch die Lichtschranke vor der Akademie scheint nach diesem Prinzip zu funktionieren. Immer wieder wiederhole ich die Informationen, die wir bis hierher haben, in meinem Kopf, um irgendetwas aus ihnen zu filtern, das wir übersehen. Irgendeine Verbindung, einen Hinweis ...

Die Akademie gehörte einst Jansens Familie, wo Walküren ihre menschliche Gestalt erhielten und ihnen passende Fates vermittelt wurden. Jedoch wurde sie an die Stuarts verkauft, die die Labore dort nutzen, um Experimente an Menschen und Walküren durchzuführen. Die meisten Menschen halten diesen nicht stand, das Schicksal der Test-Walküren kennen wir nicht. Jansen jedenfalls drehte völlig durch, die Mitglieder der LFoD sterben, obwohl ihre Körper vom Nebel immunisiert werden und sie durch diesen womöglich sogar übernatürliche Fähigkeiten entwickeln können. Bei Dec und mir hat Mariano ja große Hoffnung auf Erfolg. Stimmt es, dass uns Freyas und Odins Fähigkeit eingesetzt wurde? Wie? Wie zur Hölle haben sie uns deren Gabe zugefügt? Trug ich auch eines dieser Geräte? Auf gar keinen Fall, das hätten meine Eltern doch sicher bemerkt? Außer meine Mutter ... Schwachsinn! Mum hat nichts mit der Sache zu tun. Aber welche Methoden gibt es sonst noch? Haben sie uns die Fähigkeit im Ganzen eingesetzt? Bei Leah hörte es sich so an, als würde Mariano hoffen, dass er aus dem Nebel der Walküren neue Fähigkeiten und damit ja womöglich auch Myx ... züchten kann. Igitt. Eis- und Feuermagie waren jedoch bereits vorhanden und mussten nicht erst ... erschaffen werden. Freya und Odin spendeten die Gaben, welche daraufhin irgendwo gespeichert wurden. Unversehrt oder neu erschaffen, macht das einen Unterschied? Mein Kopf dröhnt.

Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr weine ich. Ich komme einfach nicht dahinter, was Marianos Ziel ist. Bei den Walküren liegt es auf der Hand: Wenn es auch nur eine winzige Hoffnung auf eine Rückkehr nach Walhalla gibt, so würden sie nicht zögern und ihre Hilfe anbieten. Aber Mariano ...? Mir will nichts einfallen, außer blinde Machtgier. Vielleicht reicht das bereits.

Mit zitternden Händen lege ich den Fantasyroman zurück auf meinen Nachttisch - vermutlich ist dessen Handlung noch immer zu nah an meiner Realität dran.

Nachdem Dad kurz darauf nach mir gerufen hat, rapple ich mich auf und gehe die Treppe nach unten. Mein Vater hat sich die Zeit genommen, Suppe warm zu machen und ein Notizzettel verrät mir, dass er zum Supermarkt gefahren ist, um Tee und Erkältungssaft für mich zu kaufen. Dad kann nicht ahnen, wie dringend ich ihn im Moment bei mir brauche und wie sehr ich mir wünsche, dass heute ein stinknormaler Sonntag wäre, an dem wir gemeinsam in den Laden fahren und arbeiten - ganz ohne übernatürliches Chaos.

Nachdem ich mir Suppe in eine Schüssel gegossen und einen Löffel aus der Schublade geholt habe, klopft Marc an der Tür. Ich habe ihm gesagt, dass ich das Wochenende über allein sein will - hauptsächlich um mich in Ruhe selbst zu bemitleiden.

Als Marc mein fahles Gesicht und die tränenverquollenen Augen sieht, nimmt er meine Hand und zieht mich ins Wohnzimmer.

»Emma, du siehst kein bisschen so aus, als wäre bei dir alles okay.«

Ich ignoriere seine Sorge. »Wie geht’s Tay? Konntet ihr ihn gestern beruhigen?«

Nachdem Leah am Freitag die Wache verlassen hatte, brach zwischen den Walküren regelrecht Chaos aus. Alle redeten wild durcheinander und Caulder versuchte zu schlichten. Doch das war unmöglich. Viel zu groß war die Ratlosigkeit und die Wut auf Harold, der uns nun wohl noch eine Horde Walküren auf den Hals hetzen wird. Erst als der Morgen bereits am Himmel dämmerte, kehrte allmählich Ruhe ein und Tay blickte dem Ergebnis des Freitagabends ins Auge.

Weiß Gott, wie viele Walküren nach Lincoln kommen werden, womit meine Freunde und Familie in schlimmere Gefahr geraten als je zuvor. Immerhin steht der Großteil der LFoD auf unserer Seite, und wenn es stimmt, dann haben wir mit Jansens Notizbuch eine ungeahnte Macht in unseren Händen, um uns gegen Mariano, Dec und ihre hörigen Walküren zu wehren. Doch was ist, wenn das nicht ausreicht? Außerdem ist da noch eine andere Sache ...

Pearl kann an der Akademie und somit noch am Leben, aber eben auch in den Fängen der Stuarts sein. Niemand wäre in der Lage, gegen sie zu kämpfen. Vor allem Tay belastet diese Möglichkeit sehr - auch wenn er es mit keinem Wort zugeben würde. Ein paarmal habe ich ihn in der Nacht von Freitag auf Samstag wissend angesehen, doch er zuckte jedes Mal mit der Schulter, während seine Lippen ein stummes Bei mir ist alles okay formten.

»Tay hat sich heute Morgen Decs Rucksack geschnappt und ist abgehauen.«

Ich sehe Marc erschrocken an. Natürlich war es abzusehen, dass Tay irgendetwas tun wird, um herauszufinden, ob Pearl noch am Leben ist. Trotzdem überrascht mich der Zeitpunkt.

»Hat Tay gesagt, was er vorhat?« Ich hocke mich aufs Sofa, lege die Beine auf den Tisch und löffle meine Suppe.

Marc setzt sich zu mir und zieht mich vorsichtig an sich. »Ich könnte mir vorstellen, dass er mit der blauen Flüssigkeit herumexperimentiert. Sie ist neben Jansens Notizbuch alles, was wir haben.«

»Was?!« Klirrend fällt der Löffel auf den Boden und Suppe spritzt mir ins Gesicht und aufs Sofapolster. »Wieso um alles in der Welt hältst du ihn nicht auf?«

Marc hebt den Löffel auf, nimmt mir die Schüssel ab und stellt sie zwischen meine Füße und meinem Handy auf den Küchentisch. Dann legt er mir seinen schweren Arm auf die Schulter. »Faey ist ihm direkt hinterhergelaufen. Wir versuchen, Tay von irgendwelchen Dummheiten abzubringen, aber letztendlich gibt es gerade so viele andere ... Probleme, dass wir es uns nicht leisten können, auch noch Tays Babysitter zu spielen.«

Ich drehe mich in Marcs Arm und schaue ihn an. »Es ist alles zu viel, oder? Wir können das Spiel nie im Leben gewinnen.«

Marc streicht mir eine Strähne aus der Stirn und lehnt meinen Kopf dann behutsam gegen seine Brust. So hält er mich wortlos fest, bis mein Körper sich nach und nach entkrampft.

»Wir müssen uns eine Sache nach der anderen vornehmen«, flüstert Marc irgendwann. »Mehr als mit klarem Kopf an die Sache ranzugehen, können wir nicht machen.«

Am liebsten will ich ihm sofort widersprechen, doch Marc hat recht. Deshalb stupse ich meine Nase gegen seine, woraufhin er meinen Mundwinkel küsst. Ich muss lächeln.

»Ich zerbreche mir seit Freitag den Kopf darüber, wie um alles in der Welt Freyas Fähigkeit in meinen Körper gelangt sein soll.«

Marc legt seine Hände auf meine Schultern. »Hast du eine Theorie?«

Ich schüttle den Kopf und versuche das Bild zu vertreiben, das mich seit zwei Tagen nicht mehr loslässt. Mir wird kotzübel, wenn ich nur darüber nachdenke, wie sich dieser Mariano an meine Mutter ranmacht, wie er sie zu seinen Zwecken ausnutzt - und Mum nichts von dem Ganzen ahnt.

»Ich muss mit meiner Mutter reden und sie über Mariano ausfragen.« Panik färbt meine Stimme. »S-Sie haben sich kurz vor meiner Geburt kennengelernt ...«

»Was willst du damit sagen?« Marc legt mir seine Wange auf den Kopf. »Denkst du, dass Mariano schon seit ...« Er hält inne und zeichnet mit den Lippen kleine Kreise auf mein Haar. »Erklär es mir.«

»Ich kann mir vorstellen, dass er die Verliebtheit meiner Mutter ausgenutzt hat, um ihr oder mir irgendetwas zu verabreichen, das die letzten achtzehn Jahre in mir herangewachsen ist. Freya und Odin spendeten ihre Fähigkeiten im Ganzen, oder nicht? Hat Leah nicht gesagt, dass die Gaben irgendwo abgespeichert wurden? Wie? Was ich damit sagen will, ist: Vielleicht sind Dec und ich deshalb so besonders ... weil wir nicht, wie die anderen an der Akademie, Fähigkeiten mithilfe von Walküre-Nebel entwickeln sollen, sondern sie unversehrt in uns haben.«

Ich spüre, wie Marc den Kopf schüttelt. »Hast du das aus einem deiner Bücher?«

»Ehrlich gesagt, ja.« Die Tatsache, dass ich mir Hilfe aus Fantasybüchern hole, beruhigt mich genauso wenig wie Marc. »Es ist absurd, ich weiß, aber seit Herbst habe ich das Gefühl, mitten in genau solch einem Buch gelandet zu sein, weshalb ich es auch nicht völlig abwegig finde, ein paar gängige Erzählmuster durchzuspielen.«

Marc hebt den Kopf und nimmt meinen in seine Hände. »Das bedeutet, du willst deine Mutter auf Mariano ansprechen?«

Nickend atme ich tief ein und wieder aus. »Ich versuche, etwas über ihre Beziehung zu ihm herauszufinden. Es kann ja nicht schaden, so zu tun, als würde ich mich für Marianos College-Angebot interessieren. Wenn ich in drei Wochen bei ihr in London bin, zeige ich ein klein wenig Interesse und schaue, wie Mum reagiert.«

»Mir wäre es lieber, wenn du beides sein lassen würdest.« Seufzend lässt Marc von mir ab und lehnt sich zurück. »Wir sollten deine Mutter nicht unnötig in Gefahr bringen und allein die Vorstellung, in der jetzigen Situation nicht bei dir sein zu können, macht mich wahnsinnig.«

Ich schließe die Augen und massiere meine Schläfen. »Ich weiß, aber sieh es einfach als Chance.«

»Als Chance?«, hakt Marc irritiert nach.

»Vielleicht können wir die ein oder andere falsche Fährte streuen und Mariano damit verwirren.« Ich versuche überzeugt zu klingen, aber ich glaube ja selbst nicht daran, dass sich jemand wie Mariano - sollten die Gerüchte über ihn wahr sein - von irgendwem hinters Licht führen lässt. Am allerwenigsten von einem Teenager. »Wir müssen es probieren.«

Das Klingeln meines Handys unterbricht uns. Beim Blick auf das Display spanne ich mich an. Während ich den Anruf annehme, zieht mich Marc zu sich auf seinen Schoß. Beschützend schlingt er seinen Arm um meine Taille.

»Mum?«

An der anderen Leitung höre ich Tassen klirren. »Emma, Schatz - es tut mir so leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Mein Handy hat den Geist aufgegeben und ich hatte erst heute Morgen die Möglichkeit, in die Stadt zu einem Laden zu fahren - die Straßen sind noch immer voller Schnee.«

Marc massiert mir sanft die weiche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger meiner freien Hand. Seine Anwesenheit entspannt mich, und so ignoriere ich das mulmige Gefühl, das Mums Erklärung in mir auslöst.

»Ach Mum ... geht es dir gut?«

Sie atmet angestrengt ein und wieder aus. »Ja, natürlich, alles gut.«

»Bist du dir sicher?«

Mum lacht. »Ich räume nur die Spülmaschine aus und ein Löffel hat sich zwischen den Gabeln verhakt. Steve lädt sie immer viel zu voll.«

»Ist mit Steve alles okay?«, nutze ich Mums Steilvorlage und lehne mich gegen Marcs Schulter. »Wie geht’s ihm?«

Im Hintergrund rumpelt es laut. »Seit wann interessierst du dich für Steve?«

Ich erstarre und sofort streichelt Marc entlang meiner Arme, um mich zu beruhigen. »Na ja, wenn ich euch im Februar besuchen komme, sollte es mich schon -«

»Wegen Februar ...« Mum räuspert sich leise. »Steve hat vorgeschlagen, dass wir genauso gut an Ostern zu euch nach Lincoln fliegen könnten. Wir würden ein paar Tage Urlaub nehmen und Oliver müsste dich nicht von der Schule befreien. Wir hätten mehr Zeit füreinander und -«

Fassungslos halte ich die Luft an.

»Zugegeben, hat es mir viel besser in Lincoln gefallen als angenommen«, fährt Mum lachend fort. »All die alten Schulkollegen wiederzusehen - ja, selbst deinen Vater habe ich ein wenig vermisst.«

Wegen Mariano, hätte ich am liebsten gebrüllt, es ist wegen Mariano. Was hat er meiner Mutter angetan?

Marc spürt meine Anspannung. »Eins nach dem anderen.« Er flüstert bewusst leise. »Keine voreiligen Handlungen.«

»Mum?« Mein Herz setzt einen Schlag aus und für den Bruchteil einer Sekunde liegt mir die Warnung vor Mariano auf der Zunge. Aber Marc hat recht. »Ich rede mal mit Dad darüber. Ich denke, es kommt ein wenig darauf an, ob wir zu diesem Zeitpunkt schon im Wiederaufbaustress sind und ... euer Besuch fällt außerdem in die Zeit meiner Abschlussprüfungen.«

Marc beugt sich vor und gibt mir einen Kuss auf die Wange.

»Wir könnten uns gemeinsam den Campus in Boston ansehen gehen.« Würde ich gerade nicht sitzen und von Marc festgehalten werden, vermutlich wäre ich vor Schreck umgefallen.

»M-mit deinem Professor?«, presse ich mit dünner Stimme hervor.

Darauf sagt Mum erst mal nichts. Mariano hat sie erneut kontaktiert, davon bin ich überzeugt.

»Es war ja nur ein Vorschlag.« Wieder scheppern Teller und Tassen. »Mariano ist daran interessiert, dir das College zu zeigen. Er würde sich natürlich freuen, wenn ich auch dabei bin. So etwas Ähnliches hat er gesagt.«

Natürlich. »Ja ... ich ... ich denke darüber nach.«

»Schön, aber ich drücke euch trotzdem die Daumen, dass der Laden schnell wieder steht. Allerdings sollte man sich ja immer ein paar mehr Optionen offenhalten.«

Viel zu laut ziehe ich die Luft ein. »Wenn du meinst ...«

»Ach, Emma ...« Mum lacht. »Das war nur eine Floskel.«

Am Montag fahren Marc und ich gemeinsam zur Schule. Dad und ich haben noch immer kein passendes Auto gefunden, das fährt und das gleichzeitig bezahlbar ist, und nicht immer kann uns jemand einen Wagen leihen. Weil ich mir im Winter auf meinem Roller jedes Mal eine Blasenentzündung hole, ist ein warmes Auto definitiv die bessere Alternative.

Seit dem Gespräch mit Mum gestern haben wir uns nur noch über belanglose Dinge unterhalten - alltägliche Themen wie die Frage, wie ich das Büchercafé einrichten würde.

Marc hat mir aufmerksam zugehört und eigene Vorschläge eingebracht - ich liebe seine Vorstellung einer flaschengrünen Wand mit zig verschiedenen Blumen davor -, bis sich irgendwann Faey gemeldet hat, die meinte, dass sie Tay davon abhalten konnte, die blaue Flüssigkeit im Selbstexperiment zu schlucken. Ewig wird das nicht so weitergehen, aber ich befürchte, dass uns sowieso nicht mehr viel Zeit bleibt.

Ich frage mich ernsthaft, ob die Fantasyneuerscheinung, die ich vor ein paar Tagen bestellt habe, noch vor oder erst nach meinem Tod im Briefkasten liegen wird. Was für tolle Aussichten ...

Als wir aussteigen, haben wir noch ein paar Minuten Zeit, die wir uns, mit dem Rücken gegen den Wagen gelehnt, weiter über die Inneneinrichtung des Büchercafés unterhalten.

»Ich würde eine Tapete gut finden«, überlege ich laut. »Eine mit Blättern und Dschungel-Optik, vielleicht. Oder lieber Planeten? An die grüne Wand hängen wir dann Bilder von meinem Opa und natürlich auch Aufnahmen berühmter Autoren - Brontë und Shakespeare.«

Marc nimmt meine Hand und lächelt. »Hast du dir schon Gedanken über die Regale gemacht?«

Ich stöhne absichtlich laut. »Ob ich ... Marc?! Ich denke über kaum etwas anderes nach.«

»Das ist schön.« Er drückt meine Hand fest und beugt sich vor, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben. »Welche hättest du gern?«

»Am allerliebsten Spezialanfertigungen - mein Pinterest ist voll mit Ideen und passenden Bildern. Aber vermutlich tun es am Ende auch die billigen aus dem Möbelhaus - mehr können wir uns nicht leisten, was vollkommen okay ist. Letztendlich geht es darum, dass ich vom Duft neuer Bücher umgeben bin, der sich mit dem Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee und Süßigkeiten mischt.«

»Das klingt verlockend«, stimmt Marc mir zu und küsst mich erneut.

Als wir kurz darauf einen Umweg über die Cafeteria machen, sehe ich Zeno an einem der Automaten stehen. Außer uns ist um diese Uhrzeit niemand in der Mensa. Er hat uns den Rücken zugewandt, doch sobald wir auf seiner Höhe sind, dreht er sich ruckartig um.

»Können wir kurz reden?«

»Nein.« Marc geht einfach an Zeno vorbei. »Wir haben gleich Englisch und wollen nicht zu spät kommen.«

»Ich bin euer Lehrer.« Zeno rauft sich das Haar, woraufhin Marc den Kopf dreht und über seine Schulter zurück zu Zeno blickt.

»Dann würde ich dir ehrlich gesagt auch raten, keine langwierigen Gespräche vor Unterrichtsbeginn anzufangen - als gutes Beispiel sozusagen.«

Kurz hält Zeno inne, dann schaut er zu mir. »Es geht um Mariano.«

»Ich kann dich hören, Zeno«, antwortet Marc für mich und kommt zu uns zurück. »Was möchte dein liebenswerter Onkel?«

»E-Er will Jansens Notizbuch.« Zeno schiebt die Hände in die Taschen seiner schwarzen Stoffhose. Das überrascht mich nach Leahs Besuch wenig. Zeno bemüht sich, leise zu sprechen, falls sich doch noch irgendwer vor Schulbeginn in die Mensa verirrt. »Und er weiß, dass ihr außerdem noch im Besitz von etwas anderem seid.«

Zeno spricht von der Flüssigkeit, die Tay und ich aus Decs Wagen gestohlen haben. Ich gebe mich naiv.

»Ich wüsste nicht, dass wir etwas von Mariano haben. Wir kennen ihn ja noch nicht einmal.«

Zeno atmet langsam aus. »Ich misch mich da nur ungern ein, aber ich sage euch, wie es ist: Mariano wird sich alles zurückholen, was ihm gehört. Er macht keine halben Sachen.«

»Dann scheint er es bei Besitzansprüchen nicht allzu ernst zu meinen«, hält Marc wütend dagegen. »Immerhin fragst du uns ja gerade nach Jansens Notizbuch.«

»Was auch immer er damit anfangen will«, füge ich hinzu und beginne, bei dem Gedanken, Mariano könnte aus dem Nichts in meinem Zimmer auftauchen, um auch bei mir keine halben Sachen zu machen, zu frösteln.

»Jansens Familie besaß viel Wissen über euresgleichen ...« Zenos Blick huscht zu Marc. »Mariano konnte ihm aber nicht alle Infos entlocken, zumindest glaubt er das.«

Deshalb hofft er auf das Notizbuch, in dem allerdings, soviel wir bisher rausgefunden haben, nichts überragend Neues steht, auch wenn Leah das wohl anders sieht. Ich befürchte, wir müssen es uns noch mal genauer ansehen. »Entlocken ...«, wüte ich und verlagere mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »So nennt ihr das also?«

»Gebt mir einfach das Buch, seid so freundlich.«

»Wie wäre es, wenn du uns dafür ein paar Infos erzählst?«

Marcs Stimme bleibt im Gegensatz zu meiner ganz ruhig. Jetzt muss ich wieder an Mr & Mrs Smith denken - oder guter Cop, böser Cop. Marc und ich sind ein richtig gutes Team, wenn es darum geht, andere unter Druck zu setzen. Wahrscheinlich sollte mir dieser Gedanke irgendetwas ausmachen, tut er aber nicht.

Zeno schaut sich um und senkt dann den Kopf. »Mariano und ich wissen beide seit Ewigkeiten über Walküren Bescheid. Wo mich diese Spezies ängstigte, war mein Onkel von Anfang an fasziniert. Dass Pearl mich beinahe tötete, interessierte Mariano nicht, ganz im Gegenteil, die Neugierde wuchs nur. Seine Nachforschungen brachten ihn in zig Dörfer entlang der Ostküste, die alle ihre eigene Legende zu eben jenen Wesen erzählten, das mich angegriffen hatte. Er sammelte jede noch so winzige Information, verglich sie mit anderen und wertete sie aus. Schlussendlich landete Mariano bei Jansens Familie und kaufte ihnen die Akademie ab. Sie waren froh, ihre finanziellen Schwierigkeiten so in den Griff zu kriegen. Mariano begann mit Vorhandenem zu experimentieren.«

»Vorhandenes?«, hakt Marc nach.

Zeno lacht bitter. »Elyas, mein Vater, war Marianos Bruder. Es liegt auf der Hand, dass die beiden ein enges Verhältnis zueinander hatten. Mein Vater vertraute Mariano, er wusste über dessen intensive Nachforschungen Bescheid, und deshalb suchte er irgendwann seine Hilfe. Er berichtete ihm von der heftigen Verbindung zu Pearl, die allein mit Worten nicht zu beschreiben wäre.« Elyas war also doch Pearls Fate. Als Zeno mein leises Keuchen hört, hält er inne und holt tief Luft. »Mariano gab vor, Elyas und Pearl helfen zu wollen, doch was er eigentlich erkannte, war die Chance, einer Walküre näher zu kommen, als jemals zuvor. Ich glaube, er sehnte sich nach Pearls übernatürlicher Macht. Wenn er sie nur irgendwie auf sich übertragen könnte ... Pearl jedenfalls stellte sich Mariano bereitwillig als Versuchskaninchen zur Verfügung, in der Hoffnung, dem Drang, Elyas zu verletzen, entgegenzuwirken. Ich weiß nicht, was Mariano mit ihr tat und ob sie noch lebt.«

»Wenn du behauptest, dass Mariano alles weiß, willst du uns was genau damit sagen?«, fragt Marc mit funkelnden Augen.

Zeno klingt erschöpft, als er fortfährt. »Es gibt zig Legenden, die vom bösen Übernatürlichen und von Märtyrern berichten, auf die großer Ruhm wartet, wenn sie das Böse von der Erde vertreiben. Mariano nimmt sie alle ernst, und er schreckt vor keinem Mittel zurück, das ihn in eine Machtposition bringt.«

Schwindel breitet sich in meinem Kopf aus.

»Was meinst du damit?«, ist es abermals Marc, der tief ein- und ausatmend die Kontrolle über die Situation wahrt.

Wieder lässt sich Zeno Zeit, bevor er in Marcs starr gewordenes Gesicht schaut. »Er schlug mich k.o und pflanzte mir diese tickende Zeitbombe ein.« Zeno tippt auf das Gerät an seiner Hüfte. »Und damit war ich ihm ausgeliefert.«

»Was ist Marianos Plan?«

Auf meine Frage hin blickt sich Zeno im menschenleeren Raum um. »Im vergangenen Herbst zeigte sich Decs Macht das erste Mal, woraufhin der panisch zu mir gelaufen kam. Ich beruhigte den Jungen und schickte ihn zu seinem Vater. Dessen Reaktion fiel unerwartet aus. Er freute sich darüber, dass sein Sohn kurz davor war, an der übermächtigen Energie in ihm zugrunde zu gehen und setzte Dec einigen Stresstests aus, die ihn in Windeseile trainierten. Es dauerte nicht lange, bis Dec das Feuer und die Zeit kontrollierte. Kurz darauf regte sich auch die Macht in dir, Emma. Das Erwachen eurer Kräfte wusste Mariano sofort einzuordnen.«

»A-Aber«, stammle ich, doch Zeno ist noch nicht fertig.

»Ich habe euch gesagt, dass Mariano alles weiß, und deshalb ist er auch über das Magische Gesetz im Bilde. Nachdem eure Kräfte aktiviert waren, strömten immer mehr Walküren an die Akademie, was Mariano zuversichtlich stimmte. Ja, das Magische Gesetz existiert und Mariano ist es gelungen, es in Form der Eis- und Feuergabe in seinem Sohn und dir, Emma, einzupflanzen. Warum sonst zog die Akademie nach dem Erwachen eurer Gaben Walküren an wie ein Magnet? Sie eilten zu Mariano, weil es an der Zeit war, die Erde zu verlassen. Mariano versprach den Walküren natürlich seine Hilfe, woraufhin auch diese sich ihm bereitwillig als Versuchskaninchen zur Verfügung stellten.«

Mein Herzschlag setzt aus. »Das heißt, Mariano will ...« »Das Portal öffnen, richtig.« Zeno nickt.

Mariano wird Dec und mich für seine Ziele opfern.

»Dec ist sein Sohn«, beginne ich aus dem Gedanken heraus.

Zeno verzieht seinen Mund zu einem traurigen Lächeln. »Ja, und er will ganz sicher nicht für die wahnwitzigen Vorstellungen seines Vaters sterben. Ihn könnt ihr auf eure Seite holen.« Zenos Lächeln verschwindet und sein Blick verschleiert sich. »Aber seid abermals gewarnt: Mariano weiß alles, er sieht alles, er hört alles. Ihr beide seid ihm ein Dorn im Auge, denn eure Verbindung enttäuschte Mariano sehr. Er ging zu Beginn eurer Liebelei davon aus, dass er es ungeplant geschafft hatte, eine Walküre in eine zweite Fate-Verbindung zu treiben. Doch was euch verbindet, entspringt keiner übernatürlichen Magie. Doch wie ist es dir, Emma, dann möglich, Marc zu widerstehen, und wieso war Marc im Herbst gegen deine Eismagie immun? Was ist das zwischen euch? Mariano weiß es nicht, niemand tut das. Irgendwie gewann er auch aus euer beider Verbindung Erkenntni-«

»Liebe, Zeno«, unterbricht Marc ihn forsch. »Simple, aber mächtige Liebe.« Ihm ist anzuhören, dass er gleich die Geduld verliert. »Das kannst du ihm gerne ausrichten.« Ich merke, wie mir das Atmen schwerer fällt, als ich Zenos Gesicht mustere, während Marc leise knurrt. Der Schmerz darin ist unerträglich.

»Liebe wird euch nichts bringen. Mariano findet immer einen Weg, meistens ist es der grausamste, den man sich vorstellen kann. Nur einmal wagte ich es, ihm zu widersprechen, Jansen betreffend. Ich bat Mariano, ihn nicht unnötig zu quälen, nichts zu versuchen, was offensichtlich zum Scheitern verurteilt ist. Daraufhin schloss Mariano mich aus allem Weiteren aus. Es wunderte mich, dass er mich bezüglich des Notizbuchs um Hilfe bat.«

Einen Moment lang ist mein Kopf wie leer gefegt. Angst hindert meinen Verstand am Denken. Auch Marc verliert neben mir nun die Fassung. In ihm muss es toben, denn er drückt meine Hand ein wenig zu fest.

»Sind Pearl und Elyas am Leben?«, flüstert Marc heiser.

»Mein Vater ist schon lange tot u-und Pearl ist ...« Zenos Kiefer zuckt. »Ich kann es euch nicht mit Gewissheit sagen. Bitte gebt mir einfach dieses Notizbuch ...«

Er stößt einen schmerzhaften Laut aus und starrt an uns vorbei auf die Fensterreihe, als die Schulglocke läutet. Die Angst vor dem Ungewissen steht Zeno ins Gesicht geschrieben. Und das ...

kann ich sehr gut nachvollziehen.

»Zeno?«, frage ich eindringlich und mir wird ganz schwer ums Herz. »Es gibt immer eine Wahl. Du hast dich schon einmal gegen Mariano aufgelehnt, vielleicht kannst du es wieder -«

Zeno lacht fast höhnisch. »Verdammt, ich würde es versuchen. Doch wie sicher kann ich sein, dass Dec seinen Vater wirklich fürchtet? Außerdem bist du untrainiert und ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass mir Walküren vertrauen würden - andersherum ist es genauso.«

»Wir können es versuchen.« Unsere Blicke treffen sich. Zenos ist leer und ausdruckslos. »Wir können mit den Walküren und Dec reden, ehrlich sein ...«

Zeno macht wortlos auf dem Absatz kehrt, doch bevor er die Cafeteria verlässt, dreht er sich noch einmal zu uns um. »Dec hat es geschafft, seine Fähigkeit zu kontrollieren und anzuwenden, das musst du auch, Emma.« Er lächelt bitterböse. »Wenn ich es mir überlege, könnt ihr das Notizbuch auch behalten. Ich habe mittlerweile mehr Angst vor dem, was Mariano plant, als vor dem Tod.«

Damit lässt er Marc und mich allein zurück. Wir schauen uns an, und nach kurzem Zögern nimmt mich Marc in den Arm.

»Ich befürchte, du denkst jetzt, dass alles nur noch schlimmer wird und wir keine Chance haben«, sagt er mit entschlossener Stimme in mein Haar. »Aber jetzt weiß ich ganz sicher, dass das Loch neben meinem Herzen, von dem ich immer ausging, dass es meine fehlende Seele verursacht hat, von meiner Liebe zu dir gefüllt wurde. Deswegen habe ich dich bei unserer ersten Begegnung nicht getötet. Weil ich dich liebe. Ich will annehmen, dass ich mich nur aufgrund meiner Gefühle unter deiner Eismagie frei bewegen kann und du meiner Manipulation widerstehst, weil unsere Verbindung zueinander aus unserem eigenen Willen heraus entstand. Wenn nur ein einziges Mal einer von uns beiden schwach werden würde, so wüssten wir, dass Zeno recht hat und uns nichts außer Liebe verbindet. Es ist eine wundervolle Vorstellung, finde ich, und so viel besser als ein Magisches Gesetz. An diese Wahrheit, ob es nun eine ist oder nicht, halte ich mich von nun an. Diese Liebe soll mich leiten, sodass ich immer für dich da bin. Jede Sekunde, jeden Tag und jedes Jahr, bis du mich irgendwann nicht mehr brauchst.«

Mir kommen die Tränen und ich atme mit Mühe ein. »Der Tag wird aber niemals kommen.«

»Das, Emma«, flüstert Marc zwischen zwei Küssen, »ist meine selbstsüchtigste Hoffnung.«