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Die geheimnisvolle Prinzessin
Nella schwamm wütend wie ein Tigerhai in die Muschelhalle und verdrückte sich in die hinterste Ecke. Sie hatte überhaupt keine Lust auf das langweilige Untiefengeschwätz von Professor Patros, diesem hinterhältigen Wassermann. In ihrem Kopf brummte es, als würde ein ganzer Schwarm Hummelgarnelen darin herumschwirren. Sie zweifelte nicht, dass Dafne den richtigen Riecher hatte. Der Professor war scharf auf Herkules. Nur deshalb hatte er diesen albernen Wettstreit eingefädelt.
Sie brauchte dringend einen guten Plan, um das Schlimmste zu verhindern. Nachdem sie auf dem pfeilschnellen Delfin Peng mitgeritten war, war sie sich nämlich hundertprozentig sicher, dass die Meermädchen verlieren würden. Schließlich waren ihre Reittiere keine Rennpferde, sondern elegante Spring- und Turnierrösser.
Dafne war die beste Reiterin im Muschelschloss, aber sie besaß mit Onno ein verträumtes Seepferdchen, das lieber ein Büschel frischer Wasserrosen hinter dem Korallenriff schmauste, als anderen Pferden nachzuhetzen. Die zweitbeste Reiterin, Mari, konnte zwar schon supergut reiten, hatte aber als Allerjüngste in der Riege noch kein eigenes Pferdchen. Nella selbst war absolute Anfängerin, auch wenn sie mit Herkules das tollste Tier im Stall hatte. Mit ihren Reitkünsten konnte sie keine Perle gewinnen.
Die Muschelhalle füllte sich in Windeseile. Bald waren keine Plätze mehr frei, sodass sich die Wasserjungen kurzerhand auf ihre Delfine setzten. Nellas und Nicks Blicke kreuzten sich. Er lächelte sie schüchtern an. Schnell drehte sie den Kopf weg. Von den Felsenjungen hatte sie die Nase gestrichen voll.
Professor Patros hatte nur hastig einen schwarzen Umhang über seine Badekluft geworfen und sah darin aus wie eine Mischung aus Zauberer und hässlichem Stachelaal. Er legte sofort los.
Nick hatte noch untertrieben. Ein Riesenschildkrötenrennen war im Vergleich zu Professor Patros das reinste Abenteuer. Sein Vortrag über verborgene Untiefen und sonstigen Kram perlte an Nellas Ohren ab wie Wassertropfen auf Patarias kostbaren Korallengläsern. Und das, was sie trotzdem mitbekam, hörte sich nach totalem Quatsch an. War der Schulleiter wirklich der Meinung, dass es eine Felsenspalte im Meer gab, durch die man in eine geheime Stadt gelangte? So ein Quatsch! Wer sollte denn in so einer Stadt wohnen? Nella hatte keine Lust, weiter darüber nachzudenken. Sie hatte andere Sorgen.
Plötzlich kam Nella eine Idee, die Lösung für all ihre Probleme! Sie musste einfach das Pferdchen an Frau Patarias Ring gegen Herkules austauschen. Bis auf die Größe sah es Herkules ja total ähnlich. Und wenn es erst einmal wieder auf Reitpferdchen-Größe gewachsen war, würde keiner aus dem Felseninternat den Betrug bemerken. Die Meermädchen würden selbstverständlich dichthalten. Gelang ihr Plan, schlug sie zwei Wasserflöhe mit einer Klappe: Herkules war gerettet und das arme Mini-Pferdchen aus seiner Gefangenschaft befreit. Im Felseninternat war es bestimmt besser aufgehoben.
Unbemerkt huschte sie aus der Muschelhalle. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte, den Ring in ihren Besitz zu bringen, aber sie wollte keine überflüssige Minute vertrödeln.
Das Büro der Schulleiterin befand sich in einem abgelegenen Turm des Muschelschlosses, direkt neben der Bibliothek, in der Bücher von oben aufbewahrt wurden. In diesem Teil des Internats hatten die Schüler eigentlich nichts verloren. Hier von der Schulleiterin oder einem Quallenagenten erwischt zu werden, bedeutete jede Menge Ärger.
Nella kannte den Weg trotzdem. Schließlich war sie schon einmal heimlich dort gewesen. Damals hatte sie im Schreibtisch von Frau Pataria den magischen Korallenring gefunden, mit dem sie aus dem gefährlichen Labyrinth entkommen war.
Jetzt war sie wieder auf der Suche nach einem Ring – ziemlich verrückt! Daran war nur Frau Patarias grässliche Vorliebe für gefangene Tiere schuld.
„He, Nella! Warte mal! Wo schwimmst du denn hin?“
Nella stoppte erschreckt. Ausgerechnet Nick! Jetzt schnitt er ihr mit seinem Delfin den Weg ab. Anscheinend war er ihr gefolgt. Zu dumm, dass sie nicht besser aufgepasst hatte. Sie hatte wirklich Pech heute.
„Das geht dich überhaupt nichts an!“, zischte Nella unfreundlich. Sie versuchte, an ihm vorbeizuschlüpfen.
Nick ergriff ihren Arm. „Hör mal, mit dem blöden Wettstreit haben wir nichts zu tun.“ Er lächelte entschuldigend. „Das hat ganz allein der Professor ausgebrütet.“ Er tätschelte Pengs Hals. „Aber ich kann verstehen, dass du total sauer bist.“
Nella hatte das Gefühl, dass sie gleich platzte. „Ach ja?“, rief sie aufgebracht. „Dein Mitleid kannst du dir sparen. Du kannst ja absichtlich verlieren, wenn es dir so leidtut!“
Nick sah sie entrüstet an. „Und einen von unseren Delfinen hergeben? Niemals!“, konterte er.
Als ob er Nick verstanden hätte, klapperte Peng zustimmend mit dem Maul.
„Lass mich in Ruhe und verschwinde!“, fauchte Nella feindselig.
Sie schubste Peng entschlossen zur Seite, sodass Nick kopfüber von seinem glatten Rücken herunterpurzelte, und ergriff die Flucht.
Bereits von Weitem entdeckte Nella, dass die Tür zur Bibliothek sperrangelweit geöffnet war. Es drangen laute Stimmen heraus. Wachsam schwamm sie weiter und lauschte neugierig. Frau Patarias schriller Tonfall war nicht zu überhören. Die zweite Stimme gehörte Señor Nigri.
Nella war total überrascht. Sie hatte den netten Fechtlehrer noch nie zuvor so außer sich erlebt.
„Wenn el Profesor Recht hat und das Mädchen wirklich eine Princesa ist, dürfen wir das Samu nicht länger verschweigen, Señora“, rief der Fechtlehrer aufgebracht. „Wir müssen handeln rapido, rapido! Schnell!“
Er holte Luft. „Der Kundschafter des Obersten ist von weit her zum Felseninternat gereist, um el Profesor diese Nachricht zu überbringen und ihn um Hilfe zu bitten. El Profesor kennt das Meer so gut wie eine Schnecke ihr Haus. Er muss den Grauen König finden, bevor er uns noch mehr schadet. Die Explosion war sicher kein Unfall. Die Meerprinzessin in unserem Muschelschloss kann für uns alle sehr gefährlich werden.“ Aufgeregt klapperte er mit den Flossen.
„Sie sehen diese Angelegenheit wie immer zu schwarz, mein Lieber“, erwiderte die Schulleiterin trocken. „Das sind doch alles bloß Vermutungen. Meiner Meinung nach handelt es sich um eine Verwechslung. Dieses schreckliche Mädchen kann doch nicht die Nachfolgerin des Obersten sein. Pfui Wasserspinne! Ich werde die Riesenrochen an den Grenzen verstärken, ein paar Nautilusmuscheln als Horcher auslegen und auch eine Truppe Vampirtintenfische als Späher aussenden. Dafür müssen Sie mir versprechen, Stillschweigen zu bewahren, bis meine Geheimagenten ernsthafte Beweise vorlegen, dass sie die Auserwählte ist. Panik ist das Allerletzte, was wir jetzt gebrauchen können. Denken Sie an Ihre anderen Schützlinge. Verhalten Sie sich normal!
Sollten die Gerüchte wirklich wahr sein und der Oberste will wirklich dieses Mädchen, müssen wir uns eben mit dem missratenen Ding gutstellen. Sie wird später unvorstellbar mächtig sein.“ Sie lachte hämisch. „Und unser altes Schloss könnte dringend einen neuen Muschelanstrich gebrauchen.“
Nellas Kehle fühlte sich an, als hätte sie eine karibische Nadelschnecke verschluckt. Vorsichtig bewegte sie sich von der Tür weg. Die Schulleiterin und Señor Nigri konnten sie jede Sekunde auf dem Flur überraschen.
„Eine Meerprinzessin im Muschelschloss“, ertönte eine leise Stimme an ihrem Ohr. „Das ist ja verrückt.“
Nella drehte sich erschrocken um. Direkt hinter ihr war Nick mit seinem Delfin. Offensichtlich hatte er wie sie gelauscht.
In diesem Moment ertönte die Fanfare der Flötenfische zur großen Pause. Gleich würden die Gänge von tobenden Schülern überschwemmt sein.
„Wir sollten dringend vom Hof reiten, bevor wir erwischt werden“, sagte Nick und bot Nella großzügig einen Platz auf Pengs Rücken an. „Hast du eine Ahnung, von welchem Mädchen gerade die Rede war?“