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Das Wettrennen
Es war auf den Flötenfisch-Pfiff drei Uhr nachmittags. Die Vampirtintenfische hatten die Sitzbänke aus dem Speisesaal auf den Sportplatz vor dem Muschelschloss geschleppt. Jetzt stellten sie sie sorgfältig wie auf einer richtigen Rennbahn auf, während ein Schwarm Putzerfische die Strecke noch einmal gründlich sauber fraß und die Meersalatreste von der Bahn putzte. Für die Schulleiter Frau Pataria und Professor Patros gab es sogar eine Ehrenloge, die mit dunkelroten Korallenzweigen geschmückt war und sehr hübsch aussah.
Aus den Schalen verlassener Riesenmuscheln waren mit Schneckenschleim noch schnell richtige Startboxen für die Reiter zusammengeklebt worden. Die Idee dazu hatte Professor Patros gehabt, der die Planung des Rennens sichtlich genoss. Überall steckte er seine große Nase hinein und hielt die Vampirtintenfische mit seinen schlauen Ratschlägen von der Arbeit ab. Besonders Thomas war von ihm genervt. Hinter dem Rücken des Professors ballte er mehrmals seine Tentakel.
Im Nu füllten sich die Reihen mit aufgeregt schwatzenden Meermädchen, die es sich auf den Rängen gemütlich machten. Einige hatten sich sogar Spinneneier-Chips und frisch gepressten Tangsaft mitgebracht.
Die Wasserjungen, die nicht selbst antraten, saßen zusammen in der ersten Reihe, direkt an den Startboxen. Nick, Floris und Kastor machten sich bereits mit ihren Delfinen für den Wettkampf fertig.
Als erster Wasserjunge sollte der große Kastor mit Zorro antreten. Er glitt unter stürmischem Beifall seiner Mitschüler auf seinem Delfin an den Start. Sein Gesichtsausdruck war siegesgewiss, als er lässig in die Richtung von Professor Patros grüßte, der soeben Frau Pataria galant in ihre Loge führte.
„Juchhu!!! Ich reite doch, ich reite doch!“ Mari stürzte glücklich auf Firlefanz zu und umarmte ihn stürmisch. Señor Nigri hatte ihn netterweise bereits an die Startlinie gebracht. Das Seepferdchen wieherte freudig, als sich Mari auf seinen Rücken schwang. Die beiden waren bereits alte Bekannte, denn Mari hatte auf ihm ihre ersten Reiterfahrungen gemacht.
Effi saß auf der Tribüne neben Maris Drillingsschwestern Tilly und Lilly und strahlte vor Erleichterung über alle Schuppen. Seit Señor Nigri verkündet hatte, dass sie nicht starten müsse, waren ihre quälenden Bauchschmerzen wie weggespült. „Viel Glück!“, rief sie jetzt Mari zu und hopste munter wie ein Wasserfloh auf ihrem Platz auf und ab.
Mari zog aus ihrem Flossentäschchen einen kleinen Strauß frisches Seegras hervor und fütterte Firlefanz damit. Mit stolzem Blick führte sie ihr Seepferdchen in die Startmuschel mit der Nummer eins.
Direkt daneben wartete schon ungeduldig der Wasserjunge Kastor auf seinem Delfin. Er hatte dem Tier ein enges Halfter um den Hals geschlungen, mit dem er es lenken wollte. Nervös schlug Zorro sein Maul hin und her und versuchte, das störende Ding auf diese Weise loszuwerden. Schließlich warf er sogar seine Startbox um. Erst als Kastor ihm einen Klaps auf die Schwanzflosse gab, hielt er endlich still.
Mari musterte den Wasserjungen mit gerunzelter Stirn.
Kastor bemerkte ihren Blick. „Was guckst du denn so dumm, Nixenwinzling?“
Aber Mari ließ sich von seiner schroffen Art nicht die Wasserbohne einschüchtern. „Ich wundere mich ehrlich, dass dich dein Delfin noch nicht abgeworfen hat, so fies, wie du ihn behandelst“, plapperte sie aufgebracht los. „Hast du Angst runterzufallen oder warum klammerst du dich nicht einfach wie alle anderen mit der Flosse fest? Na, wird dir trotzdem nichts nützen, du Angeber.“ Sie tätschelte liebevoll den Hals von Firlefanz. Dabei äugte sie verstohlen zu Floris hinüber, der nur zwei Delfinlängen von ihr entfernt alles mit angehört hatte und sich ein Grinsen kaum verkneifen konnte.
„He, Floris!“, rief sie munter. „Habt ihr noch mehr solche Clownfische bei euch im Felseninternat?“
Kastor guckte sauer. Man sah ihm an, dass er sich am liebsten auf Mari gestürzt hätte, um ihr eine Abreibung zu verpassen.
In diesem Augenblick stand Frau Pataria auf und hob die Hand. Es war die Hand mit dem Seepferdchenring am Finger. Das Pferdchen bewegte kurz seinen Kopf. Nella hatte es ganz genau gesehen.
Sie warf einen raschen Blick zu Nick und Floris hinüber, die bei ihren Delfinen standen. Auch die beiden hatten den Ring entdeckt, das konnte Nella an ihren erschrockenen Gesichtern ablesen. Nellas Augen wanderten hinunter zu Floris’ Fischschwanz. Halb verdeckt von der Wasserjungenflosse lag da eine Schreibmuschel auf dem Meeresboden. Lief also alles nach Plan.
Frau Pataria gab dem dienstältesten Flötenfisch das Startzeichen und rief: „Der Wettstreit kann beginnen! Möge der oder die Beste gewinnen!“
Der Startpfiff ertönte. Die Meerjungfrauen feuerten Mari voller Inbrunst an. Die Wasserjungen hielten johlend dagegen. Nach kürzester Zeit lag Zorro um zweieinhalb Delfinlängen vorne.
Mari legte sich flach wie ein Plattfisch auf Firlefanz’ Rücken. „Du bist so schnell wie ein Delfin“, flüsterte sie beschwörend in sein Ohr. „Du bist so schnell wie ein Delfin.“
Wie von Zauberhand getragen, legte Firlefanz an Geschwindigkeit zu. Schon hatte er Zorros Rückenflosse erreicht.
„Zieh deine Flosse ein, du Clownfisch!“, brüllte Mari und jagte wie ein Torpedobarsch an Kastor vorbei.
„Mari!“, schrie Effi aufgeregt. „Pass auf!“
Effis Warnung kam keine Sekunde zu früh. Kastor lenkte Zorro gegen die Flanke des Seepferdchens und rammte es rücksichtslos. Firlefanz bäumte sich vor Schreck auf, Mari verlor das Gleichgewicht und rutschte hintenüber vom Pferderücken.
Die Zuschauer schrien entsetzt auf.
Im vollen Seepferdchengalopp klammerte sich Mari wie ein Hummer mit seinen Scheren an Firlefanz’ Flossen und krabbelte wieder nach vorne.
Zorro führte wieder mit einer halben Länge. Noch wenige Meter bis zum Ziel. Mari kam noch einmal heran.
Kastor richtete sich auf und zog grob am Halfter, um seinen Delfin noch mehr anzutreiben. Plötzlich riss Zorro wütend sein Maul nach hinten und verpasste seinem Reiter einen kräftigen Stoß mit der Schwanzflosse. Vor Überraschung ließ Kastor die Zügel fallen und segelte in hohem Bogen in ein frisches Meersalatbeet. Der Delfin schwamm einen eleganten Bogen um ihn herum und schüttelte sein Maul, als ob er lachen würde.
Mari überquerte mit Firlefanz als Siegerin die Ziellinie. Sie warf glücklich die Arme hoch und kreischte vor Begeisterung wie am Spieß, bis ihr die Luft ausging.
Das Publikum tobte und auch die Wasserjungen klatschten Beifall. Sogar Frau Pataria hatte ein stolzes Lächeln im Gesicht. Nur Professor Patros guckte sauer.
„Eins zu null für das Muschelschloss“, sagte Frau Pataria würdevoll und stieß den Professor freundschaftlich in die Seite. „Ein Delfin in meiner Sammlung wäre gar nicht schlecht.“
Wütend rappelte Kastor sich auf und verzog sich ohne Zorro ins Schloss.
„Spielverderber“, sagte Dafne abfällig. „Typisch Wasserjunge.“ Sie sah Floris herausfordernd an. „Jetzt bin ich mal gespannt, um wie viele Pferdelängen ich dich abhänge.“
Leider hatte Dafne die Rechnung ohne Onno gemacht. Als ihr Seepferdchen das leckere Meersalatbeet am Streckenrand entdeckte, war es völlig um ihn geschehen. Mit einem Jubelwiehern stürzte er sich gleich nach dem Startpfiff in die grünen Blätter und mähte genüsslich die ersten zwei Reihen bis auf die Wurzeln ab. Schließlich musste Dafne sogar absteigen und ihn nebenherschwimmend ins Ziel schleppen. Glücklich rülpsend legte sich Onno in eine Ecke und schlief vollgefressen ein.
„Unentschieden!“, rief Professor Patros zufrieden. „Ich glaube, Ihren Tieren mangelt es etwas an Disziplin, meine Allerbeste.“ Er schwamm zu Floris und Puk hinüber, um den Siegern persönlich zu gratulieren.
Pataria tat, als hätte sie die Spitze des Direktors nicht gehört und drehte sich schnell weg. Sie war wirklich keine besonders gute Verliererin. „Zu dumm, dass die Entscheidung jetzt ganz alleine an Ozeana hängt“, sagte sie vorwurfsvoll zu Señor Nigri gewandt. „Konnten Sie denn keine bessere Reiterin auftreiben? Es geht schließlich um die Ehre unserer Schule.“ Sie schwieg einen Moment missmutig. „Außerdem hätte ich wirklich gerne so einen Delfin.“ Sie verzog ihre korallenroten Lippen zu einem Schmollen.
Der Fächerfisch zuckte mit den Achseln und sagte entschuldigend: „Señora, Sie wissen doch, Herkules reitet nur mit ihr.“
Er gab Nella und Nick einen Wink, sich in den Startlöchern bereit zu machen. Für das entscheidende, letzte Rennen gab Señor Nigri höchstpersönlich das Startzeichen, indem er zwei Flossen knallend aufeinanderschlug.
Nella hielt sich wacker und versuchte vor allem, nicht hinunterzupurzeln. Den Rest musste sie Herkules überlassen. Aber gegen den pfeilschnellen Peng hatte er nicht die geringste Chance. Der Delfin flog wie eine Springforelle über die Ziellinie.
„Jaaaa!“, jubelte Professor Patros und reckte die Faust in die Luft. „Ich hab ein Seepferdchen, ich hab ein Seepferdchen, ich hab jetzt ein eigenes Seepferdchen!“
Frau Pataria sah den Professor befremdet an. „Nun, mein Lieber. Ohne Zweifel haben die Schüler des Felseninternats den Wettstreit für sich entschieden. Natürlich stehe ich zu meinem Wort. Ich schlage vor, Sie nehmen dieses ganz reizende und gutmütige Tier unter Ihre Fittiche. Es wird Sie sicher nicht enttäuschen.“ Sie zeigte mit ihren rot lackierten Nägeln auf den schlafenden Onno.
Professor Patros schüttelte den Kopf.
„Firlefanz?“
Professor Patros verneinte noch heftiger.
Frau Pataria schnippte mit dem Finger nach Señor Nigri. „Nigri, schwimmen Sie mit dem Professor in den Stall. Dort kann er ganz in Ruhe ein Seepferdchen auswählen.“
Professor Patros streckte die Hand aus und sagte bestimmt: „Herkules. Ich will Herkules. Und sonst keines. Das beste Pferd im Stall, so war es ausgemacht und dabei bleibe ich.“ Er paddelte entschlossen zu Nellas Seepferdchen hinüber und legte besitzergreifend seine Hand auf dessen Rücken.