Luhn_Band_5_Druck.pdf

14

Geisterstunde

„Um Mitternacht hinterm Schloss“, flüsterte Nick ihr zu, als Nella mit Dafne und Effi an den Wasserjungen vorbei Richtung Muschelschloss schwamm.

Die Jungen paddelten in einem engen Halbkreis um Floris herum und hörten ihm aufmerksam zu.

Dafne äugte misstrauisch zu ihnen hinüber. „Was hat der Fischkopf zu dir gesagt?“, fragte sie. „Macht er sich lustig über die Sache mit Herkules? Ich verprügele ihn gerne, du musst nur einen Pieps sagen.“

Nella schüttelte den Kopf. „Jetzt hör endlich damit auf. Die Jungs können nichts dafür. Vor allem Floris und Nick haben sich prima verhalten. Sie sind nicht für Professor Patros verantwortlich. Die Meermädchen können doch auch nichts dafür, dass Frau Pataria eine Tierquälerin ist.“

Dafne guckte nicht besonders überzeugt. „Was meinst du denn mit prima?“

Bevor Nella antworten konnte, kreuzte Señor Nigri ihren Weg. „Ich bin untröstlich, Nella“, rief er verzweifelt und ließ die Schwerter, die er in seinem Maul verstaut hatte, zu Boden fallen. „Ich habe nicht gewusst, dass das Rennen so ein schlimmes Ende nimmt. Ich werde sofort mit el Profesor reden.“

Nella lächelte ihn an. „Sie können ja nichts dafür, Señor“, sagte sie tröstend. „Alles wird gut.“

Señor Nigri klapperte aufgebracht mit seinen Seitenflossen. „Du bist wirklich ein gutes Kind“, sagte er gerührt. „Aber Frau Pataria hat Recht. Der Oberste wird böse sein. Sehr, sehr böse auf uns … Malo, malo.“

Effi mischte sich verwundert ein. „Wer ist denn dieser Oberste, Señor Nigri?“

Señor Nigri bleckte seine kleinen scharfen Zähne. „Oh, oh. Das ist alles streng geheim. Secreto. Verstehst du?“

Effi schüttelte den Kopf. „Kein Wort.“

Señor Nigri nickte zerstreut. „Das ist gut, sehr gut!“ Er schnappte sich die Schwerter und eilte tief in Gedanken versunken davon.

„Was ist denn in den gefahren?“, rief Effi ungeduldig. „Haben heute alle giftige Schneckensuppe gegessen, oder was?“ Sie wandte sich Nella zu. „Und dich verstehe ich erst recht nicht. Warum bleibst du die ganze Zeit so gelassen? Ich an deiner Stelle hätte mir Herkules schon geschnappt und wäre mit ihm abgehauen. Am besten nach oben zu deinen Großeltern, bevor dein Gaul im Felseninternat versauert.“ Sie verjagte mit ihrer Flosse wütend eine Kolonne Putzerfische, die bereits mit Saubermachen beschäftigt waren.

Nella guckte betreten. In diesem Moment strampelte Mari herbei und fiel ihr strahlend um den Hals. „Huhu, Nella! Floris hat mich grade in euren Plan eingeweiht, ich bin ja so froh! Ich bin auf jeden Fall dabei.“ Sie verdrückte ein paar Tränen vor Freude. „Jetzt wird alles gut. Die Seewalze fällt bestimmt darauf herein.“

Dafnes Gesicht wurde so finster, dass sogar ein Tigerhai die Flucht vor ihr ergriffen hätte. „Nella!!! Wenn du nicht sofort aufhörst, mir zu verheimlichen, was hier los ist, bin ich keinen Tag länger deine Freundin!“

Nella kriegte vor Schreck einen ganz roten Kopf. „Das mach ich doch gar nicht“, stammelte sie. „Ich bin nur noch nicht dazu gekommen.“ Sie legte mit Floris’ Plan los.

„… der Einzige, der nicht mitmacht, ist Kastor!“, vollendete Mari Nellas Bericht. „Aber Nick will mal mit ihm reden, ob er es sich nicht doch noch überlegt.“ Sie kicherte.

Auf den letzten Drücker fiel Nella ein, dass sie ja noch dem Vampirtintenfisch Thomas Bescheid geben musste. Schließlich sollte er für Herkules ein sicheres Plätzchen suchen, bis die Luft wieder rein war.

Sie fand ihn in seiner neuen Muschel ganz in der Nähe der Seepferdchenställe. Seit er zum ersten Verkehrspolizisten ernannt worden war, durfte er in einem eigenen Zimmer wohnen. Einmal am Tag machte sogar ein Putzerfisch bei ihm sauber. Als Nella den Vampy in ihren Plan einweihte, fiel er ihr um den Hals und verdrückte erst einmal ein Dutzend knallrosa Tränen vor Freude.

„Ich kenne da hinter dem großen Korallenfelsen ein ganz schönes Wasserrosenfeld“, sagte er eifrig. „Dort kommt so gut wie nie jemand vorbei, weil es keine Fischstraße in der Nähe gibt. Herkules wird sich an diesem Platz bestimmt wohlfühlen. Und zum Schlafen kann er es sich unter den Korallenbäumen gemütlich machen. Die blühen lila.“

Bereits eine halbe Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt stahl sich Nella aus dem Zimmer und hinter das Muschelschloss. Sie hielt es einfach nicht mehr länger in ihrem Zimmer aus.

Die Wasserjungen hatten sich gleich nach dem Zubettgehen wieder aus dem Zimmer geschlichen und waren auf ihren Delfinen zum Piratenschiff geschwommen. Die Meermädchen hatten sie dabei gleich mitgenommen.

Mari hatte unbedingt auf Puk sitzen wollen und war mit Floris jubelnd als Erste losgesaust. Dafne hatte sich überraschend dazu herabgelassen, mit Nick zu schwimmen, weil Peng sie mit einem so fröhlichen Maulschnattern begrüßt hatte.

Bis auf Nick waren alle dort geblieben und warteten nun gespannt, ob Pataria tatsächlich im Piratenschiff auftauchen würde.

Gerade kehrten Nick und Peng zum Muschelschloss zurück.

„Hast du Flabella gesehen?“, fragte Nella den Wasserjungen bang.

„Ist in der kurzen Zeit doppelt so dick geworden“, berichtete Nick grinsend. „Dein süßer Dino ist eine richtige Futtermaschine. Und erst seine Zähne! Die sind so scharf wie das Maul eines Tigerhais. Ich glaube nicht, dass Frau Pataria noch große Freude an ihm haben wird. Die Mädchen haben an Bord seltsame Kleidung gefunden, wie man sie oben trägt … Lass dich überraschen!“

Das Warten kam Nella vor wie eine halbe Ewigkeit. Sobald die Schulleiterin auftauchte, wollten sie ihr folgen. Im Piratenschiff, so stand es in der Perlmuschel geschrieben, sollte sie zuerst den Seepferdchenring unter den Dreispitz auf den Küchentisch legen. Anschließend würde sie den kleinen Gorgonia Flabellum in einer leeren Schatztruhe in der Offiziersmesse, dem Piratenwohnzimmer, antreffen. Die Wegbeschreibung stand schlauerweise auch noch dabei. Schließlich konnten sich die Jungen ja nicht sicher sein, dass Pataria das versunkene Piratenschiff kannte.

„Da ist sie!“ Nella konnte ein belustigtes Quieken nur schwer unterdrücken.

Frau Pataria galoppierte – ganz ungewohnt – auf einem Seepferdchen über den Schlosshof. Es war ausgerechnet der harmlose Onno, den sie sich für ihren heimlichen Ausritt ausgesucht hatte. Sie klammerte sich am Hals des Seepferdchens fest wie an den Mast eines sinkenden Schiffes.

„Wenn sie mit Onno unterwegs ist, ist sie nie vor dem Morgengrauen am Piratenschiff“, flüsterte Nella in Nicks Ohr. „Der braucht bestimmt ewig.“

Unbemerkt hängten sie sich an die Flosse des merkwürdigen Duos.

Aber anscheinend hatte nicht einmal Onno Lust auf einen langen Spazierritt mit der Schulleiterin. So flott wie nie erreichte er ohne Umwege, und ohne ein einziges Mal an einer leckeren Wasserpflanze zu schnuppern, sein Ziel. Frau Pataria sprang erleichtert ab, während sich das Seepferdchen entzückt wiehernd über ein Büschel Seegras hermachte.

„Jetzt geht es um die goldene Auster!“, sagte Nick. Seine Stimme war vor lauter Aufregung ganz heiser.

Gemeinsam mit Nella beobachtete er, wie sich Pataria keuchend durch den mit Tang und Schlingpflanzen überwucherten Eingang zwängte. Eilig schwammen sie an das Bullauge, durch das man in die Kombüse schauen konnte. Als Frau Pataria den Ring vom Finger streifte, um ihn unter den Dreispitz zu legen, brach Nella in verhaltenen Jubel aus.

Die Schulleiterin schwamm schnurstracks weiter. Anscheinend kannte sie sich auf Schiffen aus. Jedenfalls gelangte sie ohne großes Suchen in die Offiziersmesse. Auf dem Fußboden stand einladend die eisenbeschlagene Schatzkiste. Gierig paddelte die Schulleiterin darauf zu und öffnete den Deckel.

„Ahhh!“ Frau Pataria schrie vor Schreck lauthals auf. Flabella, der sich tatsächlich in der Kiste befand, freute sich anscheinend gar nicht, seine frühere Besitzerin wiederzusehen. Er sprang ihr, ohne lang zu fackeln, ins Gesicht und kletterte in ihre hoch aufgetürmte Haarpracht. Dort zog und zerrte er an ihrer kunstvollen Frisur, bis der Direktorin Hören und Sehen verging.

Im gleichen Moment stürmten die Wasserjungen und Meermädchen, als wilde Piratengespenster verkleidet, aus ihren Verstecken. Sie umkreisten die verstörte Schulleiterin, zupften sie an der Flosse und bewarfen sie mit verrosteten Münzen und Muscheln. Dabei stießen sie ohne Unterlass kehlige Schreie aus.

Luhn_Band_5_Druck.pdf

Plötzlich setzte Grammofonmusik ein. Ein riesiges, weißes Gespenst, eingeschnürt wie ein Paket, packte Pataria und nötigte ihr ein munteres Tänzchen ab.

„Kastor!“, rief Nella begeistert. „Das muss Kastor sein.“ Sie kriegte sich vor Lachen gar nicht mehr ein.

Plötzlich stand Floris hinter ihnen. Nella schrie erschrocken auf. Sie hatte den Wasserjungen gar nicht sofort erkannt. Mit dem Dreispitz auf seinem Kopf und dem bemalten Gesicht sah er richtig grässlich aus.

„Hier, das Seepferdchen“, keuchte Floris außer Atem. „Viel Glück!“

Obwohl sich Nella vom Anblick der kreischenden Schulleiterin, die gerade von Flabella in die Kombüse gejagt wurde, gar nicht trennen wollte, mussten sie los.

Auf dem Rücken von Peng jagten sie durch das dunkle Wasser bis zu den Seepferdchenställen.

Thomas wartete bereits ungeduldig auf sie. „Herkules ist in Sicherheit“, rief er ihnen erleichtert entgegen.

Schnell löste Nella das Seepferdchen aus der Ringfassung und legte es behutsam auf einen großen Tanghaufen.

In Sekundenschnelle wuchs aus dem Schmuckstein ein ausgewachsenes Reittier. Es sprang wie ein übermütiger Seehase auf Nella zu und rieb seine Schnauze an ihrer Schulter.

Nella umarmte es gerührt und streichelte seine feuchte Nase. „Thomas gibt dir was Leckeres zu fressen!“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Und bei den Jungs im Felseninternat wirst du es sicher gut haben.“

„Heiliger Flohsack!“, rief Nick, als Nella mit der Flosse voran auf Pengs Rücken sprang. „Bis zuletzt habe ich ja nicht geglaubt, dass es wirklich ein Reitpferdchen ist! Auf ins Geisterschiff!“