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Ein Dino im Netz

Gerade hatten die Flötenfische im Muschelschloss zur ersten Unterrichtsstunde geblasen.

Pimpinella Ozeana Filomena Petersilie Seestern schwamm eilig zu Dafne und Effi in die erste Reihe des Klassenzimmers und quetschte sich zwischen ihren beiden Freundinnen auf die Korallenbank. Sie holte einen Schwertfischstachel und eine Plattmuschel aus ihrer Flossentasche hervor, legte die Schreibwerkzeuge ordentlich vor sich auf den Muscheltisch und wartete darauf, dass die Lehrerin auftauchte.

Eigentlich war Nella eine fleißige Schülerin, aber das Fach Korallenkunde, das heute Früh auf dem Stundenplan stand, gehörte überhaupt nicht zu ihren Lieblingsfächern. Noch weniger konnte sie die Lehrerin leiden, die es unterrichtete. Korallenkunde war nämlich das Steckenpferd der Schuldirektorin Frau Pataria. Sie war die Einzige im ganzen Muschelschloss, mit der Nella nicht auskam.

Frau Pataria rief sie immer bei ihrem zweiten Namen Ozeana, was Nella ganz und gar nicht gefiel. Darüber hinaus spottete die Schulleiterin, wann immer sich ihr die Gelegenheit bot, über Nellas Eltern. Vor allem über Nellas Mutter Lorelai, die auch schon Schülerin im Unterwasser-Internat gewesen war. Nella hatte gehört, dass der weise Riesenkrake Samu, der die Meermädchen im Muschelschloss beschützte, ihre Mutter besonders gerngehabt hatte. Vielleicht war Pataria ja deshalb so gemein zu ihr, vermutete Nella. In den Augen der Schuldirektorin war Nella einfach keine echte Meerjungfrau.

Pünktlich zu Unterrichtsbeginn schoss Frau Pataria ins Klassenzimmer. Sie trug einen mit Algenblättern umwickelten Gegenstand in den Händen. Vorsichtig, als ob es sich dabei um ein besonders kostbares Stück handelte, stellte sie es auf dem Lehrerpult ab. Dann warf sie einen prüfenden Blick über die Köpfe der Meermädchen, die mucksmäuschenstill auf ihren Flossen saßen.

Nella betrachtete die kalkweißen Hände der Direktorin und schauderte. An allen zehn Fingern der Schulleiterin steckten dicke Ringe, die mit Meerestieren verziert waren. Eine lila gepunktete Wasserschnecke mit ausgestreckten Fühlern zum Beispiel, ein winziges Seepferdchen mit stecknadelgroßen grünen Augen, und an ihrem linken kleinen Finger prangten gleich zwei knallrote Seesterne auf einmal. Die Tierchen klammerten sich aneinander, als würden sie sich vor etwas fürchten.

Die Ringe sehen eigentlich gar nicht wie normale Schmuckstücke aus, dachte Nella. Die Tiere daran guckten eher wie unglückliche Gefangene. Bei Frau Pataria konnte man sich nie sicher sein, welches grausame Spiel sie trieb.

Nella wagte einen zweiten Blick und erschrak. Hatte das Seepferdchen soeben seinen Hals in ihre Richtung gedreht? Tatsächlich, es schaute Nella direkt an und bewegte traurig seinen Kopf auf und ab.

Nellas Herz begann vor Mitgefühl ganz heftig zu schlagen. Sie liebte Seepferdchen über alles. Schließlich besaß sie sogar ein eigenes namens Herkules. Das Pferdchen an Frau Patarias Hand sah aus wie sein Zwillingsbruder. Ihre Mutter hatte Herkules als Anhänger an einem Armband an Land gebracht und in einem eigenartigen Schmuckkästchen aufbewahrt. Seit Nellas zehntem Geburtstag gehörte es ihr. Wenn man mit dem Armband in tiefes Wasser sprang, verwandelte sich der Anhänger in ein fröhliches kleines Seepferdchen, auf dem man pfeilschnell durch das Meer reiten konnte.

„Der heutige Morgen beginnt wieder einmal mit einem spannenden Ausflug in die Welt der Korallenkunde“, drängelte sich die messerscharfe Stimme der Schulleiterin in Nellas Gedanken.

Bereits bei ihrem ersten Satz konnte Nella ein Gähnen nicht unterdrücken. Eine Unterrichtsstunde bei Frau Pataria war öder als einen ganzen Nachmittag lang Muscheln sortieren. Da war es völlig egal, ob es um Meeresbiologie, Korallen oder Schneckenkuchenbacken ging.

„Besonders unsere liebe Ozeana sollte besser gut zuhören. Stattdessen schläft sie wie so häufig“, fuhr die Lehrerin schneidend fort. Sie streckte eine Hand aus und packte Nella unsanft an der Schulter, als ob sie diese tatsächlich wachrütteln müsste.

Um das Handgelenk der Schulleiterin ringelte sich eine dünne orange Wasserschlange, die Nella bis zu diesem Moment für einen harmlosen Armreif gehalten hatte. Erst jetzt erkannte sie, dass die Schlange lebte. Das aufgeschreckte Tier züngelte erbost nach Nellas Hals und drohte ihr mit ihrem gefährlichen Giftzahn. Nella schrie vor Angst laut auf und kippte hintenüber von der Korallenbank.

Frau Pataria lachte verächtlich. „Guten Morgen! Zu meiner großen Freude ist nun auch meine fleißigste Schülerin wach. Du erinnerst mich wirklich jeden Tag mehr an deine Mutter.“

Einige Mädchen kicherten schadenfroh. Dafne drehte sich um und funkelte sie böse an.

Die meisten Mädchen im Muschelinternat konnten Nella gut leiden, aber es gab auch ein paar, die schlecht über sie redeten, weil sie bei Lehrern und Schülern so beliebt war. Beim Anblick von Dafnes finsterem Gesichtsausdruck verstummten sie sofort. Mit Dafne war nicht gut Schnecken essen, wenn man auf ihrer Verräterinnen-Liste stand.

„Haben Sie uns eine Überraschung mitgebracht, Frau Pataria?“, rief Effi scheinbar eifrig, um die Lehrerin abzulenken, während sich Nella wieder zurück auf die Korallenbank hangelte. Sie zeigte auf die Algenblätter.

Nella war vor Scham knallrot im Gesicht angelaufen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie vor Wut gleich platzen. Schon mehrmals war sie mit der Schuldirektorin heftig aneinandergeraten. Dabei hatte Nella fast immer den Kürzeren gezogen und sich schließlich sogar im gefährlichen Korallenlabyrinth verlaufen.

Frau Pataria lächelte erfreut. „Sehr gut, Effi“, lobte sie das Meermädchen. „Unter diesen Blättern befindet sich tatsächlich eine besonders seltene und höchst empfindliche … Also, ihr könnt mir glauben, ich habe sehr viele Jahre nach ihr gesucht … Durch einen Zufall habe ich sie kürzlich an einem fernen Ort gefunden – Gorgonia Flabellum!“, sagte sie mit vor Stolz zitternder Stimme. Sie zupfte die Blätter ab. „Noch nie zuvor ist es mir gelungen, eine Koralle dieser Art einzufangen.“

„Ahh!“, riefen ein paar vorwitzige Meermädchen begeistert und bildeten neugierig einen Halbkreis um das Lehrerpult. Die anderen starrten stumm und ehrfürchtig auf das kugelförmige Wasserspinnennetz, das nun zum Vorschein kam. Es war so durchsichtig wie Glas. In seinem Inneren kauerte ein höchst merkwürdiges Tier, das ängstlich herausguckte.

Bereits nach einem flüchtigen Blick war sich Nella sicher, dass sich Frau Pataria irren musste. Sie wurde ganz aufgeregt. Dieses Tier war nie und nimmer eine normale Koralle! Schließlich sah es haargenau aus wie der kleine bemalte Glas-Dino, den ihr ihr Vater von einer seiner Schiffsreisen mitgebracht hatte. Er war in einem fernen Hafen einem Mann begegnet, der sich mit Dinosauriern ganz genau auskannte, und hatte ihm das Glastier für Nella abgekauft.

Frau Patarias Koralle mit dem seltsamen Namen war in Wirklichkeit bestimmt ein höchst lebendiger Zwergkorallen-Dinosaurier. Auch wenn er viel, viel kleiner war, hatte er den gleichen Körperbau wie ein waschechter Flugsaurier. Mit den Zweigen, die wie gespannte Flügel und ein lang gestreckter Kopf aussahen, wirkte der Korallen-Dino zerbrechlich wie ein Schmetterling und war nicht größer als eine Libelle. Am besten gefiel Nella seine Farbe. Die Oberfläche schillerte zartlila und golden zugleich. Total süß, fand Nella.

Wie schrecklich, dass der arme Zwergkorallen-Dinosaurier in die Fänge der Schulleiterin geraten war. Und wieso hatte die Direktorin ihn in so ein ungemütliches Spinnengefängnis gestopft? So unglücklich, wie das Tierchen darin hockte, erinnerte es Nella an einen eingesperrten Wetterfrosch.

Sie beugte sich vor. „Hallo, Flabella!“ Nella schnalzte mit der Zunge, wie sie es manchmal bei fremden Tieren machte, um sie anzulocken. „Alles klar?“ Sie zwinkerte dem Dino aufmunternd zu.

Ohne Vorwarnung stieß der Minidino einen kreischenden Schrei aus, stieß mit seinem langen Kopf gegen die Wasserspinnenkugel und riss sein Maul sperrangelweit auf.

„Iiihhhh!“, quiekten die Meermädchen erschrocken los. Schlagartig entstand ein ziemliches Gedrängel. Die Mutigen in der vordersten Reihe flüchteten sich sicherheitshalber ein paar Flossenschläge nach hinten. Nella hätte schwören können, dass der Minidino zufrieden grinste.

Im selben Augenblick tönte eine empörte Mädchenstimme von draußen auf dem Flur in das Klassenzimmer. „He, gib ihn mir zurück, das ist mein Brief! Wenn du ihn nicht sofort hergibst, kannst du was erleben.“

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Nella spitzte alarmiert die Ohren. Sie erkannte die Stimme des Mädchens, das so hartnäckig seinen Besitz zurückforderte. Sie gehörte Mari, einem jüngeren Meermädchen aus einer der unteren Klassen. Vielleicht weil sie ein Drilling war und sich gleich gegen zwei gleich alte Schwestern durchsetzen musste, konnte sie sehr stur sein.

Es folgten lautes Wasserplätschern und hysterisches Geheule. Die Tür zum Klassenzimmer flog mit Karacho auf und Mari stürzte jubelnd hinein. Sie fegte mit ihrem Fischschwanz in einem Haifischzahn über Tische und Bänke, dicht gefolgt von einem pausbäckigen Meermädchen mit knallgrünen Korkenzieherlocken, das versuchte, die kleine Mari an ihrer Flosse zu packen.

Nella kannte das andere Mädchen nur vom Sehen. Es hieß Sirene und war überall als streitsüchtig und vor allem schrecklich neugierig bekannt. Beide Mädchen waren so in ihren Zweikampf vertieft, dass ihnen gar nicht auffiel, dass im Klassenzimmer gerade Unterricht bei Frau Pataria stattfand.

Schließlich johlte Sirene „Hab dich!“ und hechtete mit einem gewagten Sprung auf Maris Rücken. Dabei versuchte sie ihr ein zerknülltes Palmenblatt zu entreißen, das Mari mit der rechten Hand fest umklammert hielt. Sogleich griff Mari tatkräftig in Sirenes Locken und zog daran. Sirene machte ihrem Namen alle Ehre und heulte in einem ansteigenden Schmerzenslaut los. Gleichzeitig schlug sie wild mit ihrer Flosse um sich und traf dabei das Wasserspinnennetz auf dem Lehrerpult.

Ein lauter Knall – und die Kugel zerplatzte wie feines Glas. Die Meermädchen schrien auf und hielten sich erschrocken die Flossen vor ihre Gesichter.

Der Minidino stieß einen entzückten Schrei aus und spreizte seine Flügel. Elegant flog er auf Maris Kopf und klammerte sich an ihrem Haarschopf fest. Er klappte sein Maul auf wie ein Krokodil, beugte sich hinunter und verschlang das Palmenblatt in Maris Hand mit einem gierigen Happs. Anschließend segelte er auf Nellas Schulter und rieb seinen Kopf liebevoll an ihrer Wange, bevor er schwimmend und fliegend aus dem Klassenzimmer verschwand.

„Nein!“, schrie die Schulleiterin Frau Pataria entsetzt. „Haltet sie! Haltet meine Gorgonia Flabellum!“ Sie hetzte aufgebracht hinter dem Zwergkorallen-Dinosaurier her.