Luhn_Band_5_Druck.pdf

3

Hoher Besuch

„Was stand denn so Geheimes in deinem Brief drin?“, fragte Nella neugierig, als sich das Chaos etwas gelegt hatte. Sie war als Einzige mit der kleinen Mari im Klassenzimmer geblieben, während die anderen Meermädchen zusammen mit Frau Pataria ausgeschwärmt waren, um die ausgerissene Flabella zurückzuholen. Selbst Dafne und Effi hatten sich auf die Suche nach dem Minidino gemacht.

Im Grunde ihres Herzens war Nella froh, dass der kleine Dino es geschafft hatte davonzufliegen. Ein Leben als Teil von Patarias Korallensammlung war bestimmt nicht besonders vergnüglich. Deshalb hatte sie auch gar keine Lust mitzuhelfen, ihn wiederzufinden. Vielleicht hatte der Kleine ja Glück und es gelang ihm, ganz aus dem Muschelschloss zu fliehen.

„Sirene ist doch bloß neidisch, weil ihr keiner so schöne Briefe schreibt“, schimpfte Mari und haute mit ihrer Flosse zornig ins Wasser. „Dabei hatte ich ihn noch gar nicht zu Ende gelesen. Wer weiß, was sonst noch Spannendes darin stand! Überall schnüffelt diese blöde Seekuh herum.“

Tatsächlich bekamen die Wassermädchen im Muschelschloss nicht häufig Post, nicht einmal von ihren Eltern. Der Kofferfisch Herr Kubus war nämlich der einzige Postbote weit und breit und musste lange Wege schwimmen. Seit das Muschelschloss zum Schutz vor dem Grauen König, dem schlimmsten Feind der Meerjungfrauen, in eine sichere Bucht umgezogen war, brauchte die Post noch länger als zuvor.

„Von wem war der Brief denn jetzt?“, hakte Nella ungeduldig nach.

„Von Floris natürlich, aus dem Felseninternat!“, antwortete Mari aufgeregt. „Ich habe dir doch schon mal einen Brief von ihm gezeigt. Wir schreiben uns seit der zweiten Klasse. Aber stell dir vor, im Felseninternat ist was ganz Schreckliches passiert, obwohl …“, sie kicherte leise, „so schlimm ist es eigentlich auch nicht. Das Internat ist irgendwie kaputtgegangen und nun haben sie keinen Unterricht und zelten mit ihren Delfinen in Riesenaustern. Super, oder?“

Nella schüttelte ungläubig den Kopf. „Eine Schule aus Felsbrocken geht doch nicht einfach so kaputt. Das ist totaler Quatsch! Er hat sicher bloß angegeben.“

Mari widersprach ihr heftig. „Floris bestimmt nicht. Er ist ein total netter Wasserjunge und hat mich sogar schon mal auf seinem Delfin reiten lassen. Er heißt Puk und seine Haut fühlt sich ganz glatt an. Bist du auch schon mal mit einem Delfin geschwommen?“

Nella schüttelte bedauernd den Kopf. „Delfine habe ich nur mal in einer Wassershow im Zoo gesehen, als wir einen Klassenausflug gemacht haben.“

Mari guckte verständnislos. „Zoo? Was ist denn das?“

Manchmal vergaß Nella, dass die Meermädchen sich mit dem Leben oben an Land ja gar nicht auskannten. „Ein Zoo ist ein Ort, an dem wilde oder fremde Tiere von Menschen nach Lust und Laune angeguckt werden können“, erklärte Nella und fand das auf einmal ziemlich merkwürdig. Sie wechselte schnell das Thema. „Ich bin schon zufrieden, dass ich auf meinem Herkules reiten darf“, sagte sie deshalb eilig.

„Ich hätte auch so gerne ein eigenes Seepferdchen“, jammerte Mari sofort los. „Aber momentan sind alle vergeben. Señor Nigri hat gesagt, ich muss warten, bis ein Mädchen von der Schule abgeht oder ihr Pferdchen zurückgibt. Dabei kann ich schon total gut reiten.“

Nella erinnerte sich wieder an das Seepferdchen mit den traurigen grünen Augen, das auf Frau Patarias Ring befestigt war. Das wäre genau das richtige für Mari. Sie wollte in den nächsten Tagen unbedingt herausfinden, ob dieses Seepferdchen in Wirklichkeit ein Reittier war. Allerdings musste sie sich bei ihrer Suche geschickt anstellen, denn heimlich im Büro der Schulleiterin herumzuschnüffeln konnte ziemlich gefährlich werden. Das hatte sie schon einmal selbst zu spüren bekommen.

Plötzlich ertönte das große Fanfarenlied der Flötenfische.

Nella zuckte zusammen. Wenn diese Melodie erklang, mussten sich alle Bewohner, Lehrerfische, Wachtposten und Meerjungfrauen in allerhöchster Eile im Schlosshof einfinden, weil die Schulleiterin Frau Pataria etwas besonders Wichtiges verkünden wollte. Das konnten erfreuliche Dinge sein oder auch ganz schlimme. Beim letzten Fanfarenlied hatten die Schülerinnen erfahren, dass der Graue König die nette Lehrerin Fräulein Weißkäppchen und Maris Schwestern entführt hatte.

Auch Mari erinnerte sich nur zu gut daran. Sie war bereits beim ersten Flötenton ganz blass geworden und hatte Nella ängstlich an der Hand gefasst.

Der Sportlehrer Señor Nigri, ein besonders schicker schwarzer Fächerfisch, steckte sein Maul durch die offene Tür und suchte das Klassenzimmer nach Schülerinnen ab. Er entdeckte Nella und Mari. „Wo bleibt ihr denn, ihr lahmen Schnecken? Rapido, rapido! Schnell, Amigas, in den Hof mit euch. Überraschung!“ Er klapperte auffordernd mit seinen Rückenflossen und tauchte davon.

Señor Nigri war also eingeweiht, dachte Nella erleichtert. Und Überraschung hörte sich eigentlich ganz nett an. Sie zog Mari von der Bank und hetzte in Windeseile mit ihr los, die ewig langen, mit Muscheln verzierten Flure des Internats entlang, hinunter bis in den Schlosshof.

An den Türen, die ins Freie führten, herrschte schlimmes Geschubse. Die Wassermädchen wussten, dass die Schulleiterin keinen Spaß kannte, wenn es darum ging, ihren Befehlen zu folgen. Deshalb drängten nun alle gleichzeitig auf den überfüllten Hof. Zusätzlich schnatterten die nervösen Putzerfische wieder einmal so aufgeregt durcheinander, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Nella bereute sogleich bitterlich, dass sie in den letzten Wochen freiwilligen Nachhilfeunterricht in den Fischdialekten genommen hatte. Das alberne Gequatsche der Putzertruppe war ja kaum auszuhalten!

Die Vampirtintenfische, die sonst unter anderem als Verkehrspolizisten den Fischverkehr regelten, versuchten vergeblich, Ordnung in das Flossengewirr zu bringen.

„Juhu, Nella!“, schrie da plötzlich eine aufgeregte Stimme in Nellas Ohr. „Ich hab dich schon überall gesucht.“ Im gleichen Augenblick umschlangen sie acht lange, glitschige Arme und drückten ihr fast die Luft ab. Der Vampirtintenfisch Thomas begrüßte seine Freundin überschwänglich.

Obwohl Thomas, wo immer er auftauchte, ziemliches Chaos verbreitete, seine Tentakel verknotete, über sie stolperte oder die Himmelsrichtungen verwechselte, hatte Nella den fröhlichen Vampy total in ihr Herz geschlossen. Auf ihn konnte man sich einfach hundertprozentig verlassen. Besonders süß fand Nella, dass er jedes Mal, wenn sie sich trafen, die Farbe wechselte. Heute glühte er vor Freude ganz dunkellila.

„Was ist denn passiert?“, rief Nella, als sie wieder atmen konnte. Statt ihr zu antworten, hob der Vampirtintenfisch Nella mit fünf seiner Fangarme einfach in die Höhe, damit sie selbst gucken konnte.

Nella fielen fast die Augen aus dem Kopf. Brav aufgereiht wie die Orgelpfeifen hockten zehn fremde Jungen mit Fischschwänzen mitten im Hof, jeder von ihnen auf einem eigenen Delfin. Die Jungen guckten verlegen in die Meermädchenrunde, die sie neugierig umringte. Señor Nigri paddelte geschäftig vor den Gästen auf und ab und hielt offensichtlich eine kleine Ansprache, die wegen des Lärms niemand verstand.

„Floris! Da ist ja Floris! Das sind ja die Wasserjungen aus dem Felseninternat.“ Mari stieß neben Nella einen schrillen Schrei aus. Sie war geschickt wie ein Wasserfloh an den Tentakeln des Vampirtintenfischs hochgeklettert. Jetzt zeigte sie mit ausgestrecktem Finger freudig auf einen schlanken Jungen mit blonden Haaren, der auf den ersten Blick eher wie ein Mädchen aussah. „Hallo, Floris! Hier bin ich!“, rief Mari begeistert. „Siehst du mich nicht?“

Die anderen Meermädchen drehten sich nach Mari um, einige fingen an zu kichern.

Auch die Wasserjungen konnten sich jetzt das Grinsen kaum noch verkneifen. Einer von ihnen, mit einem Haarschopf wie ein kleiner Löwe, flüsterte dem verlegenen Floris etwas ins Ohr. Selbst aus der Entfernung sah Nella, dass Floris knallrot wurde.

Im gleichen Moment erschien die Schulleiterin Frau Pataria auf dem Balkon des Muschelschlosses. Sie war in Begleitung eines Fremden mit schwarzschuppigem Fischschwanz, der Nella vor allem dadurch auffiel, dass er einen knallroten Seidenschal mehrfach um seinen dürren Hals geschlungen hatte. Ansonsten sah er nicht besonders nett aus. Sein Gesicht wirkte streng und missmutig, über seiner Nasenwurzel gabelte sich eine breite Falte direkt in die Geheimratsecken seines grauen Haares. Sein Körper war so schmal wie eine Stabmuschel und er überragte die Schuldirektorin um mindestens eineinhalb Köpfe.

Luhn_Band_5_Druck.pdf

„Das ist bestimmt der Direktor vom Felseninternat“, flüsterte Mari ehrfürchtig. „Der sieht ja noch fieser aus als auf Floris Zeichnung.“

Sogleich hob die Schulleiterin die Hand und es wurde mucksmäuschenstill im Hof. Selbst die Putzerfische hielten ihre Kiemen.

„Es ist mir eine große Freude, einen seltenen Gast in unserem bescheidenen Muschelschloss begrüßen zu dürfen“, begann Pataria. „Applaus für einen großen Geist und genialen Denker, den wunderbaren Professor Albatros Patros, Schulleiter des Felseninternats.“ Sie forderte mit einer herrischen Handbewegung Beifall.

Artig begrüßten die Meermädchen den fremden Gast mit ihren Flossen. Professor Patros verbeugte sich eitel, auch als der Applaus schon längst abgeklungen war.

„Einem schrecklichen Wasserbeben haben wir es zu verdanken, dass wir Professor Patros und einige seiner Schüler für eine Weile in unserer kargen Hütte beherbergen dürfen. Willkommen, willkommen, willkommen!“ Frau Pataria strahlte Professor Patros so glücklich an, als hätte sie soeben eine ganze Kolonie Gorgonien geschenkt bekommen.

Der Schuldirektor lächelte gönnerhaft und ergriff nun selbst das Wort. „Auch ich freue mich, liebe Pataria, dass Sie die großartige Gelegenheit haben, mich und die Wasserjungen bewirten zu dürfen. Ich hoffe, einen kleinen Beitrag dazu leisten zu können, den Verstand dieser …“, er räusperte sich ausgiebig, „… den Verstand dieser … Wassermädchen … weiterzubilden. Sie sind in meinem Unterricht herzlich willkommen.“

Die Art und Weise, wie er das Wort Wassermädchen ausgesprochen hatte, nährte bei Nella den Verdacht, dass er nicht besonders viel von Mädchen im Allgemeinen hielt.

Die kleine Mari schien der gleichen Meinung zu sein. „Dummschwätzer“, zischte sie respektlos. „Ich hab ja gleich gesagt, der ist doof.“ Sie sprang mit einem Satz auf den weichen Sandboden.

„Pscht“, wies sie der Vampirtintenfisch ängstlich flüsternd zurecht. „Lass das bloß nicht Frau Pataria hören. Professor Patros ist unser Gast und wir Vampys haben schon zu spüren bekommen, dass Frau Pataria einen richtigen Narren an ihm gefressen hat.“

Mari schüttelte furchtlos den Kopf. „Mir doch egal. Ich bin bloß froh, dass wenigstens Floris unter den Jungen ist. Ich werde ihn gleich mal begrüßen.“ Damit wuselte sie eilig davon.