Kapitel 5
Der Turm der Chronisten stand im Zentrum von Coropolis, der Hauptstadt von Corlandia. Das himmelhohe Gebäude beherbergte die Chronisten des Königs – dem gemeinen Fußvolk dagegen war der Zutritt strengstens verboten. Lysander hatte jedes Mal ein geheimnisvolles Lächeln aufsetzen müssen, wenn seine Klassenkameraden ihn gefragt hatten, wie es hinter der Fassade mit ihren majestätischen Säulen und kunstvollen Ornamenten aussah. Denn sonst hätte er zugeben müssen, dass selbst er als Sohn des Obersten Chronisten und Beraters des Königs noch nie im Inneren des Turms gewesen war.
In seiner Vorstellung sah es darin aus wie in der Bibliothek der Hochschule für Philosophie: eine Mischung aus zurückhaltender Eleganz und dem muffigen Geruch alter Bücher. Doch als er die Eingangshalle betrat, wurde er von deren Opulenz beinahe erschlagen. Anders als in den meisten Häusern der Zentauren bestand der Boden nicht aus festgetretener Erde, sondern war mit einem dichten Teppich aus hufschmeichelndem Gras bewachsen. In einer Ecke kniete ein betagter Zentaur und stutzte den Rasen penibel mit einer kleinen silbernen Schere. Die Decke wurde fast vollständig von einer Glaskuppel eingenommen und rundherum verlief ein Balkon, über dessen Brüstung sich hängende Gärten ergossen. Die Ranken und Blumen reichten bis fast auf den Boden hinab und das Sonnenlicht, das zwischen ihnen hindurchsickerte, sprenkelte die Marmorwände in den Farben der Blütenblätter. Lysander stand mit offenem Mund da und wünschte sich, das alles malen zu können.
»Lysander Diomedes?«, fragte eine forsche Stimme.
Lysander fuhr so schnell herum, dass er beinahe mit der Zentaurin zusammengestoßen wäre, die plötzlich neben ihm stand. Sie war einen Kopf größer als er, aber nur ein paar Jahre älter. Ihr honigblondes Haar war mit einer Spange straff zurückgesteckt und ihren Schweif trug sie zu einem Zopf geflochten.
»J-ja«, stotterte Lysander.
Sie lächelte, doch ihr Blick blieb kühl. Lysander hatte das Gefühl, dass sie ihn nicht mochte, auch wenn er nicht wusste, warum – schließlich waren sie einander noch nie zuvor begegnet.
»Mein Name ist Portia«, sagte sie und hob die Hand. »Ich bin deine Mentorin und werde dir alles zeigen.«
Lysander drückte seine Handfläche gegen ihre. Obwohl sein Vater ihn selten irgendwohin mitnahm, wusste er, wie man sich in Gesellschaft angemessen verhielt. »Freut mich, dich kennenzulernen«, erwiderte er. »Weißt du, wo mein Vater …«
Doch Portia hatte sich bereits umgedreht. Lysander folgte ihr durch die Eingangshalle. »Das Gebäude wurde vor neunzig Jahren fertiggestellt«, berichtete sie, ohne sich umzusehen, ob er noch mitkam. »Nach dem Krieg von Cavallon wurden sämtliche Aufzeichnungen aus ganz Corlandia hier zusammengetragen und in unser Archiv einsortiert.« Sie zeigte auf einen majestätischen Torbogen, hinter dem Lysander unzählige Regalreihen ausmachen konnte, die voller Schriftrollen und Bücher waren. Dazwischen liefen Zentauren umher und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. »Da drüben ist der Lyrikflügel«, erklärte Portia. Sie deutete auf einen weiteren Torbogen, hinter dem Zentauren über einen Tisch gebeugt standen, auf dem ein Pergament ausgerollt war, und hitzig diskutierten. Zwischen den Büchern in den Regalen befanden sich auch andere Gegenstände – ein Helm, der für einen Einhornkopf angepasst war, ein menschlicher Schuh, ein Kamm, der aus einem Stück Koralle geschnitzt war. »Das ist der Flügel für die Clans von Cavallon.« Sie nickte in Richtung der Zentauren, die dort standen. »Die solltest du kennenlernen.«
Sie gingen hinein. Die Chronisten blickten von dem Pergament auf, das sie studierten. Einige von ihnen waren in Portias Alter, aber die meisten waren deutlich älter. Lysander nahm an, dass sie schon seit Jahren an der Geschichte Cavallons mitschrieben. »Timon Phaestros«, stellte sich der älteste von ihnen vor und hob die Hand. Sein Gesicht war voller Falten und sein weißes Haar schütter, sogar an seinen Flanken. Timon sah so alt aus, dass er bei der Unterzeichnung des Friedensabkommens persönlich dabei gewesen sein konnte. »Kelpiespezialist«, ergänzte er.
Lysander hob ebenfalls die Hand. »Lysander Diomedes«, sagte er. »Ich, äh … bin neu hier.«
Timon warf den anderen einen Blick zu. »Wissen wir«, erwiderte er steif. »Willkommen, Lysander.«
Sonderlich willkommen fühlte sich Lysander allerdings nicht. Er folgte Portia zurück in die Halle. Sie lief in zügigem Tempo voran, zeigte ihm alle möglichen Vitrinen voller Schriftrollen und Artefakte und stellte ihn den anderen Chronisten vor, die in den verschiedenen Bereichen arbeiteten. Dann führte sie ihn eine grasbewachsene Rampe hinauf und zeigte ihm die Regale mit den historischen Schriften, die den gesamten ersten Stock einnahmen. Auch hier begrüßten ihn die Chronisten mit zurückhaltendem Kopfnicken. Ein Zentaur mittleren Alters mit einer riesigen Brille auf der Nase meinte: »Ah ja. Der Sohn von Cassio Diomedes.«
Natürlich, dachte Lysander. Darauf hätte ich auch gleich kommen können. Das war also der Grund, weshalb niemand besonders erfreut wirkte, ihn zu sehen: Sie wussten, dass er diese Ehre nicht verdiente, mussten wegen seines Vaters aber höflich zu ihm sein.
Zu guter Letzt führte Portia ihn in den dritten Stock, der deutlich kleiner war als die anderen. Hier befanden sich lediglich ein Wartebereich und das Büro des Obersten Chronisten. Ein gestresst wirkender junger Zentaur mit einer wilden schwarzen Mähne stand hinter einem Schreibpult und kritzelte etwas auf eine Schriftrolle.
Anscheinend hielt Portia den Assistenten nicht für wichtig genug, um ihn vorzustellen, denn sie räusperte sich bloß und verkündete: »Lord Diomedes’ Sohn ist hier.«
»Selbstverständlich«, erwiderte der Assistent mit einem mitfühlenden Lächeln, bei dem sich Lysander noch mieser fühlte. »Er erwartet euch bereits.« Der Assistent ging zu der doppelflügeligen Bürotür, klopfte kurz und trat dann ein.
Er weiß, dass ich Vater niemals das Wasser reichen kann, dachte Lysander. Alle hier wissen das.
Einen Augenblick später kam der Assistent wieder nach draußen und winkte sie herein.
»Vielen Dank, Fabian«, sagte eine tiefe, wohlklingende Stimme. »Das wäre dann alles.«
Cassio Diomedes, der Oberste Chronist, sah nicht von seiner Arbeit auf, als sie eintraten. Das war keine Überraschung – Lysanders Vater schenkte anderen seine Aufmerksamkeit, wann und wie es ihm beliebte. Lysander nutzte die Zeit, sich im Büro umzusehen, das eher einer kleinen Bibliothek glich. Sämtliche Regale standen voller Bücher. Einige von ihnen waren in Seide gebunden, andere aufwendig mit Edelsteinen verziert. Der Schreibtisch seines Vaters nahm den halben Raum ein. Er bestand aus drei langen Tischplatten, die im rechten Winkel zueinander standen und offenbar jeweils für ein anderes Projekt gedacht waren. Obwohl überall beschriebene Blätter herumlagen, hatte man trotzdem das Gefühl, dass alles seine Ordnung hatte. Zweifelsohne wusste sein Vater haargenau, wo sich was befand, und konnte an jedem Projekt jederzeit weiterarbeiten. Schnappte sein Gedächtnis eine Information auf, entfiel sie ihm nie wieder. An der Wand hing ein Porträt von König Orsino und daneben noch ein anderes, kleineres. Lysander stockte kurz der Atem, als er erkannte, dass es ein Bild seiner Mutter war. Sie stand zwischen zwei Säulen und ihre lockige Mähne fiel lose über ihre Schultern. Ihre Augen schienen auf irgendetwas in der Ferne gerichtet zu sein und Lysander fragte sich, ob sie in Gedanken bereits an dem Ort war, wohin sie eines Tages verschwinden würde, während Cassio allein mit ihrem neugeborenen Sohn zurückblieb. Vielleicht erlaubt Vater mir, es abzuzeichnen.
»Ich … ich habe Lysander hergebracht, wie gewünscht, Lord Diomedes«, meldete sich Portia schließlich zu Wort. Sie trat nervös von einem Vorderbein aufs andere.
Cassio schrieb noch eine gute Minute ungerührt weiter, bevor er die Feder weglegte und seinen Sohn mit durchdringendem Blick ins Visier nahm. »Was ist die Aufgabe eines Chronisten?«, fragte er.
»Wissen zusammenzutragen, Lord Diomedes«, antwortete Lysander. Er wusste, dass dies nicht die einzige Aufgabe war, aber es war schwierig nachzudenken, während ihn sein Vater mit seinen dunklen Augen förmlich durchbohrte.
»Den Chronisten von Cavallon kommt die höchste Pflicht des Landes zu. Ja, wir tragen Wissen zusammen, aber wir dokumentieren gleichzeitig die Geschichte. Ohne uns gäbe es keine Geschichte, verstehst du? Wie kann eine Nation ihre Geschichte kennen, wenn sie nicht präzise und klug festgehalten wird?«
»Gar nicht, Lord Diomedes«, erwiderte Lysander, ohne zu zögern. Er kannte seine Rolle.
Sein Vater nickte nachdrücklich. »In der Tat. Wir sind die Bewahrer der Königswahrheit. Vergiss das niemals. Wir sind ganz und gar der Königswahrheit verpflichtet. Es ist eine außergewöhnliche Gelegenheit, die du da erhalten hast.«
»Das weiß ich, Vater. Ich verspreche, hart dafür zu arbeiten.«
»Das erwarte ich auch. Ich will, dass du diese … Zeichnungen vergisst« – so wie er es aussprach, klang es nach etwas Anrüchigem, Widerwärtigem – »und dich von jetzt an einzig und allein auf die Worte konzentrierst. Worte sind die Währung eines Chronisten, Lysander. Merk dir das.«
Lysander schielte zu dem Porträt seiner Mutter hinüber. Es war töricht gewesen, auch nur daran zu denken, dass sein Vater seiner Kunst gegenüber Verständnis zeigen würde.
»Die Zentauren sind die Elite Cavallons«, fuhr sein Vater fort, »und die Chronisten sind die Elite unter den Zentauren. Du gehörst zu den Besten der Besten. Der König setzt großes Vertrauen in deine Fähigkeiten. Ich erwarte, dass du dich dessen würdig erweist.«
»Das werde ich.« Lysander brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande. Er räusperte sich und wiederholte lauter: »Das werde ich. Versprochen.«
Mit einer Handbewegung signalisierte sein Vater ihnen, dass sie entlassen waren. Portia wirkte verwirrt, folgte Lysander jedoch hinaus. Die Feder seines Vaters kratzte bereits wieder über das Papier, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.
Fabian, der Assistent, zog die Augenbrauen hoch, als wollte er fragen: Und, wie ist es gelaufen?, doch Lysander zuckte bloß mit den Schultern und trottete hinter Portia die Rampe hinab. Er hatte die Gelegenheit bekommen, seinen Vater stolz zu machen, aber bevor ihm das gelang, lag noch jede Menge Arbeit vor ihm.
»Du wirst beim Ostium arbeiten«, teilte Portia ihm mit, die zu ihrer brüsken Art zurückgefunden hatte. »Jeder Chronist arbeitet mit einem Netzwerk aus Informationsbeschaffern in ganz Cavallon zusammen. Das Ostium ist der Ort, an dem all ihre Berichte eintreffen. Und das ist hier.«
Sie waren inzwischen wieder im Erdgeschoss angelangt. Portia führte ihn durch eine doppelflügelige Schwingtür in einen lang gestreckten, niedrigen Raum, dessen Fenster nach hinten zum Fluss Avalla hinauszeigten. Der Boden aus festgetretener Erde und die schlichten Holzmöbel standen in deutlichem Kontrast zu dem Prunk im restlichen Gebäude. Bevor Lysander nach dem Grund dafür fragen konnte, kam ein rundlicher Zentaur in einem glänzenden schwarzen Mantel und einer dazu passenden Weste herein. Er unterhielt sich über einen schmalen Tresen hinweg mit einer Zentaurin und holte ein Bündel Papier aus seiner Tasche. »Verfluchte Einhörner«, knurrte er. »Gibt schon wieder Unruhe bei denen.« Die Zentaurin hinter dem Tresen nickte und zog an einem der vielen Seile, die hinter ihr an der Wand hingen. In der Ferne war das Klingeln eines Glöckchens zu vernehmen.
»Sie ruft die Einhornspezialisten herbei«, erklärte Portia. »Die werden den Informationsbeschaffer befragen und seine Notizen entgegennehmen. Daraus arbeiten sie dann die Fakten heraus und halten die Geschehnisse in einer Chronik fest, die anschließend dem Rat zur Genehmigung vorgelegt wird.«
Hinter ihnen gingen die Türen auf und sie wichen hastig vor einer Gruppe Zentauren zurück, die hereingeeilt kamen. Sie versammelten sich um den Informationsbeschaffer, während sie seine Aufzeichnungen untereinander herumreichten.
»Der Eisenhornclan?«, fragte eine Zentaurin und deutete auf eine Stelle in den Unterlagen. »Lasst mich raten – sie haben den Streit vom Zaun gebrochen?«
»Wie viele Sklaven wurden gefangen genommen?«, erkundigte sich ein anderer.
Portia schlug mit ihrem geflochtenen Schweif. »Die Einhornspezialisten sind im Grunde ständig damit beschäftigt, irgendwelche Auseinandersetzungen zu dokumentieren. Bei den Einhörnern gibt es andauernd Streit.«
»Hat jeder Chronist ein Spezialgebiet?«, wollte Lysander wissen. Er war nicht besonders scharf darauf, sich mit etwas so Blutrünstigem wie der Geschichte der Einhörner zu befassen.
»Bevor du dich auf etwas spezialisierst, musst du erst mal alle Clans von Cavallon studieren«, erwiderte sie und zog die Augenbrauen hoch, was wohl bedeutete, dass es noch sehr lange dauern würde, bis Lysander dazu bereit war.
Die Einhornspezialisten hatten ihre Arbeit unterbrochen und starrten nun einen weiteren Neuankömmling an, bei dem es sich zu Lysanders Überraschung nicht um einen Zentauren handelte, sondern um einen dürren Mann. Seine Haut war mit Blutergüssen übersät und er hatte die Augen weit aufgerissen.
»Ihr müsst mir glauben!«, flehte er die Zentauren im Ostium an. »Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen! Ein Minotaurus! In den Bergen. Er war da!«
Ein groß gewachsener Chronist legte dem Mann beruhigend die Hand auf die Schulter. »Die Minotauren sind vor Langem ausgestorben«, versicherte er ihm. »Ihr müsst Euch irren.«
»Nein!«, beharrte der Mann. »Ich habe ihn gesehen! Begreift Ihr denn nicht, was das für Cavallon bedeutet? Die Minotauren sind zurück!« Er schluchzte verzweifelt auf. »Sie werden uns alle jagen! Ich habe ihn gesehen! Ich habe ihn gesehen …«
Zwei der Einhornspezialisten wechselten einen Blick. Einer zuckte mit den Schultern. »Na gut«, meinte ein anderer. »Dann kommt mit, wir nehmen Eure Aussage auf.«
»Danke. Vielen, vielen Dank!«, rief der Mann erleichtert und klammerte sich am Arm eines Chronisten fest, der ihn hinausführte. Lysander sah ihnen jedoch an, dass sie ihm nicht glaubten – sie versuchten bloß, ihn zu beruhigen.
»Der arme Mann«, meinte Portia. »Er ist ganz offensichtlich verrückt. Aber daran gewöhnt man sich. Hier kommen ständig solche Spinner an – vor allem Menschen, aber ab und zu ist auch ein Zentaur dabei. Du wirst schnell lernen, die Geschichten von der Wahrheit zu unterscheiden.«
Lysander tat der Mann trotzdem irgendwie leid. Was auch immer er gesehen hatte, überstieg eindeutig seinen Verstand und hatte ihm eine Heidenangst eingejagt.
Portia führte ihn in einen weiteren riesigen Raum, dessen Boden ebenfalls aus nackter Erde bestand. Darin saßen Hunderte Menschen an langen Tischen und beugten sich schreibend über Papierstapel. Das Kratzen so vieler Stifte klang wie das Summen eines Bienenschwarms.
»Hier werden die Chroniken abgeschrieben, die der Rat abgesegnet hat«, erklärte sie. »Die Abschriften werden dann in ganz Cavallon verteilt.«
»Menschen, die lesen und schreiben können?«, staunte Lysander. »Ich bin noch nie einem begegnet.« Abgesehen von dem Verrückten gerade eben, waren die einzigen Menschen, mit denen er je zu tun gehabt hatte, Bedienstete gewesen.
Portia schnaubte. »Wirst du auch nicht. Keiner von denen kann wirklich lesen und schreiben. Sie malen einfach nur die Formen der Buchstaben ab.« Sie lachte. »Kannst du dir vorstellen, wie das wäre, wenn sie tatsächlich versuchen würden, all das zu lesen und zu verstehen, was in Cavallon so vorgeht? Glaub mir, so ist es besser für sie.«
Lysander runzelte die Stirn. Konnten sich nicht ziemlich viele Fehler einschleichen, wenn die menschlichen Schreiber gar nicht wussten, was sie da kopierten? Aber dann sah er, dass zwischen den Tischreihen einige Zentauren umhergingen, die das Ganze überwachten. Wahrscheinlich überprüften sie alles genau, bevor es rausgegeben wurde.
Trotzdem konnte Lysander sich nur schwer vorstellen, wie man den ganzen Tag Chroniken abschreiben konnte, ohne früher oder später wissen zu wollen, was man da eigentlich schrieb. Aber vielleicht waren die Menschen aufgrund ihrer geringen intellektuellen Fähigkeiten von Natur aus weniger neugierig. Der König und der Rat wissen schon, was sie tun, dachte er. Wer war er, das zu hinterfragen?
Danach brachte Portia Lysander in sein eigenes Büro und überreichte ihm ein Notizbuch mit Samteinband und ein Bündel Papier. »Darin geht es um die Meere rund um die Festungsinsel«, erklärte sie. »Die Fakten sind bereits abgesegnet. Deine Aufgabe ist es, sie in eine Chronik umzuwandeln. Du hast bis zum Ende der Woche Zeit, aber so lange solltest du eigentlich nicht dafür brauchen.« Nicht mal du, schien der Blick zu sagen, den sie ihm zuwarf, bevor sie sich umdrehte und ging.
Das Büro war ein kleiner, vollgestopfter Raum abseits der Eingangshalle, doch Lysander gefiel es. Auch hier wuchs kein Gras, aber der Erdboden war weich genug, dass er bequem darauf stehen konnte. Es gab sogar ein kleines Fenster, durch das er in den Innenhof blicken konnte. Der Hof war von üppigen Bäumen gesäumt. In der Mitte stand eine Statue von König Orsino, die ihn mit einem langen Mantel, der über seine vier Beine herabhing, und einem offenen Buch in den Händen zeigte. Das kleine Kirschholzpult vor Lysander war mit Tintenflecken übersät und in den Regalen fand er Pergamentrollen, Stifte und Tintenfläschchen in den verschiedensten Farben.
Lysander bezog hinter seinem Schreibtisch Stellung und las sich eifrig die schlammbespritzten, hingekritzelten Notizen durch, die Portia ihm gegeben hatte. Er hatte geglaubt, dass es sich dabei um fesselnde Berichte von Kelpieangriffen handeln würde. In Wahrheit waren es Fischereistatistiken: Fischarten, Menge und Zeitpunkt des Fangs.
Na ja, irgendwo muss ich wohl anfangen, dachte Lysander. Er nahm einen Füllfederhalter aus Schilfrohr aus dem Regal, wählte ein Fläschchen seetanggrüner Tinte aus, die ihm für diesen Zweck passend erschien, schlug sein samtenes Chronistenbuch auf und fing an zu schreiben.
Er gab sich größte Mühe, sich auf die Zahlen und Fische zu konzentrieren. Wirklich allergrößte Mühe. Aber Lysander hätte nie gedacht, dass das Chronistendasein so … langweilig war. Noch bevor er die erste Seite fertiggeschrieben hatte, ertappte er sich dabei, dass er Flundern an den Rand zeichnete. In seinem Kopf hallte die Stimme seines Vaters nach: »Ich will, dass du diese Zeichnungen vergisst und dich von jetzt an einzig und allein auf die Worte konzentrierst.«
Reuevoll kratzte er die Skizze vom Papier – dabei war sie richtig gut gewesen – und zwang sich, seine volle Aufmerksamkeit den Statistiken zu widmen. Der Morgen zog sich schier endlos hin. Lysander beschrieb einen Fang nach dem anderen und nur das leise Kratzen seiner Schreibfeder auf dem Papier war zu hören.
Plötzlich ertönte in der Ferne Geschrei. Dankbar nutzte er die Gelegenheit, um eine Pause einzulegen, und folgte dem Lärm zum Ostium. Außer ihm waren noch ein paar andere herbeigeeilt, die wissen wollten, was der Lärm zu bedeuten hatte. Zu seiner Verwirrung wirkten alle ziemlich verängstigt. Er sah, wie Portia dazukam, und fürchtete schon, dass sie mit ihm schimpfen würde, weil er seinen Arbeitsplatz verlassen hatte, aber sie schien ihn nicht mal zu bemerken. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Quelle des Tumults – einer Zentaurin, deren goldenes Haar und kastanienbrauner Mantel vor Schweiß glänzten. »Ich muss sofort mit Lord Diomedes sprechen«, drängte sie die Zentaurin an der Rezeption mit rauer Stimme. »In der Freien Stadt ist etwas Schreckliches geschehen. Ein Angriff. Aus dem Weg!« Das Letzte galt Lysander, der ihr den Weg aus der Empfangshalle verstellte. Er beeilte sich, ihr Platz zu machen, wobei er beinahe über seine eigenen Hufe stolperte, und sie stürmte an ihm vorbei.
Unter den Chronisten brach aufgeregtes Getuschel aus.
»Ein Angriff auf die Freie Stadt! Was könnte nur dahinterstecken?«
»Wer würde denn ausgerechnet die Freie Stadt angreifen?«
»Vielleicht war es der Minotaurus, den der Verrückte gesehen hat.« Alle lachten.
»Glaubt ihr, es waren Einhörner?«
»Was auch immer dahintersteckt«, meldete sich ein jüngerer Zentaur mit verkniffenem Gesicht zu Wort, »es bedeutet eine einmalige Gelegenheit. Etwas so Großes hat sich in Cavallon schon lange nicht mehr ereignet. Der König wird Chronisten entsenden, um die Geschehnisse zu dokumentieren.«
Darauf nahm das Getuschel sogar noch zu. Die Vorstellung, für eine derartige Mission ausgewählt zu werden, schien den Ehrgeiz so ziemlich jedes Zentauren zu wecken. Lysander glaubte sogar, ein echtes Lächeln über Portias Gesicht huschen zu sehen.
In den folgenden Stunden breiteten sich die Gerüchte in Windeseile im gesamten Turm der Chronisten aus, doch niemand schien Genaueres zu wissen. Lysander, dessen Fischereistatistiken vergessen auf dem Schreibtisch lagen, drückte sich mit den anderen in den Fluren herum. Am späten Nachmittag wurden sie schließlich alle in die Eingangshalle gerufen.
Cassio Diomedes trat auf eine Art Bühne und die Chronisten versammelten sich um ihn. Lysander stand eingezwängt ganz hinten und reckte angestrengt den Kopf, um über die größeren Zentauren vor ihm hinwegzusehen. Tiefe Furchen hatten sich in das Gesicht seines Vaters gegraben, und als er die Hand hob, kehrte augenblicklich Stille ein.
»Angesichts der Tatsache, dass ihr alle seit Stunden eure Arbeit vernachlässigt«, begann Lysanders Vater, »gehe ich davon aus, dass ihr bereits von den besorgniserregenden Entwicklungen in der Freien Stadt gehört habt.«
Viele der Chronisten senkten den Kopf oder stampften nervös mit den Hufen.
»Es hat tatsächlich ein wie auch immer gearteter Angriff stattgefunden. Es wäre jedoch überstürzt, ohne gründliche Untersuchung des Vorfalls mehr dazu zu sagen. Aufgrund der Bedeutung dieser Expedition werde ich selbst mit einer kleinen Gruppe Chronisten dorthin reisen.«
Ein begieriges Raunen ging durch den Raum. Viele Zentauren schienen sich sichtlich Hoffnung zu machen. Ein finsterer Blick von Lord Diomedes brachte jedoch alle zum Schweigen. »Die folgenden Chronisten werden mich in die Freie Stadt begleiten.« Er las einige Namen von einem Blatt ab. Die Einzige, die Lysander kannte, war Portia, die stolz die Schultern straffte und das Kinn reckte.
»Und …« Sein Vater legte eine Kunstpause ein und richtete die nächsten Worte an die hängenden Gärten über ihm. »… Lysander Diomedes. Morgen früh brechen wir auf. Wir treffen uns hier bei Sonnenaufgang.« Er drehte sich um und verließ die Bühne, ohne noch einmal zurückzublicken.
Kaum dass er gegangen war, füllte sich die Halle mit einem Gewirr aus Stimmen. Glückwünsche mischten sich mit Beschwerden und über allem lag eine beinahe greifbare Anspannung.
Der Zentaur mit dem verkniffenen Gesicht, der einige Stunden zuvor noch großspurig von einer »einmaligen Gelegenheit« gefaselt hatte, beklagte sich nun bitter bei der Zentaurin neben ihm. »Das ist Vetternwirtschaft«, schimpfte er und blinzelte zornig gegen seine Tränen an.
Die Zentaurin warf Lysander einen abschätzigen Blick zu und machte sich nicht mal die Mühe, die Stimme zu senken. »Ganz offensichtlich.«
Mit hochrotem Kopf schob sich Lysander an ihnen vorbei.
Vater glaubt an mich, machte er sich selbst Mut. Und ich werde ihm beweisen, dass er damit recht hat. Er kehrte in sein Büro zurück und schrieb den ganzen restlichen Nachmittag wild entschlossen Berichte über Fische, ohne auch nur einmal ans Zeichnen zu denken.
Später aß Lysander allein in der prachtvollen Villa zu Abend, in der er mit seinem Vater lebte. Bis auf ein paar zentaurische Bedienstete war das Haus leer – sein Vater machte wie immer Überstunden – und das Echo seiner Hufe hallte durch die Gänge, als er auf sein Zimmer ging. Er fing an, seine Sachen für die bevorstehende Reise zu packen: das samtene Chronistenbuch, Stifte und Tinte, frische Hemden und Westen.
Sein Blick fiel auf sein Skizzenbuch und die Mappe mit den Bleistiften, die auf der Truhe neben dem mit Kissen übersäten Bett lagen. Er wusste, dass es klüger war, sie gar nicht erst mitzunehmen, aber es nicht zu tun, fühlte sich irgendwie falsch an. So als würde er einen Huf oder seinen Schweif zurücklassen.
Vorsichtig versteckte er sie ganz unten in seinem Bündel.