Kapitel 7

Sams Beine waren schwer wie Blei und seine verschwitzte, rußgeschwärzte Tunika klebte in der Mittagssonne unangenehm an seinem Körper. Doch er zwang seine Füße, weiter hinter der Frau vor ihm herzulaufen. Sie trug ein schlafendes Kleinkind auf dem Arm, und wenn sie sich nicht beklagte, dann hatte Sam erst recht keinen Grund dazu.

»Wartet!«, befahl eine scharfe Stimme weiter vorne. Ein Mädchen in einem Kapuzenumhang aus grober Wolle sprintete an die Spitze des Flüchtlingstrecks. Sie richtete den Blick auf etwas am anderen Ende des steinigen Pfads. Dann stieß sie einen unterdrückten Fluch aus und bedeutete den anderen, in den Ginsterbüschen am Wegesrand in Deckung zu gehen.

Sam war zu müde, um irgendetwas anderes zu tun, als widerspruchslos zu gehorchen. Anscheinend ging es den anderen genauso, denn sie alle drängten sich in den Büschen zusammen. Einige von ihnen ließen sich mit einem erleichterten Seufzer auf dem Boden nieder. Das Mädchen folgte ihnen dicht auf den Fersen und brachte sie umgehend zum Schweigen.

Mit einer Anmut, der man ansah, dass sie das nicht zum ersten Mal machte, robbte sie auf ihren Ellbogen zum Rand des Gestrüpps vor und nahm die Straße ins Visier. Sam hatte nicht mitbekommen, dass sie ein Messer gezückt hatte, doch nun blitzte es in ihrer Hand auf, während sie den Blick über die Wildnis schweifen ließ.

Schließlich kehrte sie zur Gruppe zurück. »Alles in Ordnung«, verkündete sie und schob das Messer in die Scheide an ihrem Gürtel zurück. »Sind nur Büffel.«

Erleichtertes Gemurmel ging durch den Trupp. Sie alle wussten, was das Mädchen glaubte, gesehen zu haben. Schließlich war allseits bekannt, dass Einhörner in den Wilden Landen im Osten der Freien Stadt auf Sklavenfang gingen.

Danach schien sich niemand daran zu stören, dass das Mädchen die Führung übernahm, obwohl sie höchstens vierzehn oder fünfzehn war. Als ihr die Kapuze ihres Umhangs vom Kopf rutschte, sah Sam, dass sie rotes Haar hatte, das sie zu einem Kranz geflochten trug – genau wie seine Schwester, bevor sie geheiratet hatte. Die Flüchtlinge folgten ihr einen matschigen Abhang hinab und machten sich daran, eine weite Moorebene zu überqueren, die nur hier und da von knorrigen Bäumen und struppigen Heidesträuchern bewachsen war.

Die Menschenmenge, die aus der Freien Stadt geflohen war, hatte sich innerhalb weniger Tage in kleinere Grüppchen aufgeteilt. Die Gruppe, der sich Sam angeschlossen hatte, bestand aus weniger als zwei Dutzend Menschen und Zentauren und war auf dem Weg in die Menschensiedlungen in den Bergen. Unterwegs hatten sich ihnen noch einige andere angeschlossen, darunter auch das Mädchen, das nun voranging.

Sam kämpfte sich durch dorniges Gestrüpp nach vorne und schloss zu ihr auf.

»Ich will zum Hof meiner Schwester«, sagte er, während er sich ihrem Tempo anpasste. Das war nicht ganz einfach, weil sie sich irgendwie ruckartig vorwärtsbewegte: Sie lief einige Schritte ganz schnell, dann hielt sie plötzlich inne und sah sich um. »Ich weiß, dass sie irgendwo in der Nähe eines Dorfs namens Buchem wohnt. Ich muss nur die Bergstraße finden, um dorthin zu kommen, aber ich weiß nicht …«

Er brach ab, als er feststellte, dass er Selbstgespräche führte. Das Mädchen hatte sich am Wegrand hinter ihm hingehockt, um sich irgendetwas näher anzusehen. Sam lief zu ihr zurück. »Ich sagte, ich möchte zum Hof meiner Schwester. Weißt du, wo die Bergstraße ist?«

Das Mädchen sah von dem Haufen Pferdeäpfel auf und zog ungläubig die Augenbrauen hoch. »Ein Hof? Du glaubst, ein Bauernhof ist vor den Angriffen der Pegasus sicher?« Sie erhob sich und lief mit großen Schritten weiter. Sam musste sich sputen, um mit ihr mitzuhalten.

»Nein«, fuhr sie fort, »wir müssen irgendwas finden, das man gut verteidigen kann. Oder besser noch: Irgendeinen abgelegenen Ort, wo wir uns verstecken und selbst versorgen können.« Sie lachte, als sie Sams Miene sah. »Lass mich raten. Du kommst aus der Stadt.«

»Aus der Freien Stadt, ja«, entgegnete Sam fast ein bisschen trotzig. »Wie die meisten von uns.«

Das Mädchen schnaubte. »Und, wie kommst du mit dem ganzen Dreck klar, Stadtjunge?«

Sam wurde rot. Er war in seinem ganzen Leben noch nie so schmutzig gewesen wie jetzt und er hasste es. Er hatte versucht, sich in einem schlammigen Bach zu waschen, den sie tags zuvor überquert hatten, doch das hatte bloß dazu geführt, dass seine Arme und sein Gesicht jetzt mit einer juckenden Schlammschicht bedeckt waren, die langsam abbröckelte.

»Und woher weißt du so viel übers Fährtenlesen und Jagen und so?«, fragte Sam und bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten, obwohl er schon ein bisschen außer Atem war.

»Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Ich bin Jägerin.« Sie verzog das Gesicht. »Oder Wilderin, wie manche sagen würden.«

»Oh.« Sam wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Seine Schwester hatte in ihren Briefen erwähnt, dass sie auf ihrem Hof Probleme mit Wilderern hatte, doch in seiner Vorstellung waren das immer zwielichtige Banditen mit schlechten Zähnen gewesen, keine erstaunlich geschickten Mädchen, die genauso alt waren wie er.

Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinanderher. Schließlich fragte das Mädchen: »Du willst zum Hof deiner Schwester?«

»Ja«, antwortete Sam. »Sie wohnt erst seit ein paar Monaten da, seit sie geheiratet hat. Sie und ihr Mann züchten Schafe und produzieren Wolle.« Es versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, als er an den grünen Pulli dachte, den sie ihm aus der ersten Wolle, die sie in ihrem neuen Zuhause gesponnen hatte, gestrickt hatte. Er war genauso zu Asche verbrannt wie alles andere, das er besessen hatte – bis auf die Kleider, die er am Leib trug, und die Brosche, die seine Mutter ihm angesteckt hatte. Er griff nach dem Schmuckstück und blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. »Ich muss Rianne sagen … was mit unseren Eltern passiert ist.«

»Ich helfe dir, sie zu finden«, versprach das Mädchen in sanfterem Tonfall. »Auch wenn ich mir im Gegenzug vielleicht ein, zwei Schafe schnappe. Das wäre nur fair.«

Sam wusste nicht, ob das als Witz gemeint war, aber solange sie ihn zu Rianne brachte, war es ihm egal.

»Ich heiße Lara«, sagte das Mädchen. »Ich bin aus Dorchen.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Oder eher: war. Dank der Pegasus ist nichts mehr davon übrig.«

Sam hatte die qualmenden Überreste des kleinen Dorfes in der Ferne gesehen, als er aus der Freien Stadt geflohen war. Lara musste eine der wenigen Überlebenden sein. »Tut mir leid, das zu hören. Mein Name ist Sam. Ich komme aus der Freien Stadt, aber das wusstest du ja schon.«

Sie lachte. »Du könntest dir genauso gut das Stadtbanner um den Hals hängen.« Sam stellte fest, dass ihm ihr Spott gar nicht mehr so viel ausmachte – was vielleicht daran lag, dass er den Schmerz und die Trauer aus ihrem Gesicht vertrieben hatte.

Während sie sich einen Weg durch die karge Landschaft bahnten, tauschten Lara und er Geschichten aus. Sam lernte schnell, sofort zu verstummen, wenn Lara die Ohren spitzte und ein paar Schritte vorauseilte. Sobald sie die Schultern sinken ließ und sich entspannte, nahm er seinen Satz da wieder auf, wo er unterbrochen worden war. Mit der Abenddämmerung zog ein Nebel auf und sie konnten kaum mehr die verschlungenen Wurzeln vor ihren Füßen erkennen. Lara beschloss, für die Nacht ein Lager aufzuschlagen. Sie fand eine Felszunge, die den Wind abhielt, und die Gruppe ließ sich darunter nieder. Der steinige Untergrund war feucht und kalt, weswegen einer der Zentauren aus der Freien Stadt vorschlug, ein Feuer zu entfachen.

»Tolle Idee«, erwiderte Lara verächtlich. »Warum winkst du nicht gleich mit beiden Armen und schreist laut, damit die Pegasus uns noch leichter finden?«

Stattdessen verteilten sie die paar Beeren und Wurzeln, die sie unterwegs gesammelt hatten. Einige von ihnen hatten Trinkschläuche dabei, die sie herumreichten. Nach und nach entwickelten sich leise Unterhaltungen. Sam war so erschöpft, dass er sie nur noch als Hintergrundrauschen wahrnahm, ein bisschen so, wie er sich die Geräusche des Ozeans vorstellte.

»Wir brauchen eine Armee«, sagte ein junger Mann, der zusammen mit Sam aus der Freien Stadt geflohen war. »Dann kriegen die Pegasus, was sie verdienen.«

»Rache führt zu nichts«, warf ein älterer Zentaur ein. »Alles, was man damit erreicht, ist …«

»Wir sind doch viel mehr als sie, oder nicht?« Der junge Mann unterbrach ihn hitzig. »Wenn wir Menschen, Zentauren, Einhörner und Kelpies uns zusammentun, können wir die Pegasus ein für alle Mal besiegen und dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert.«

»Einhörner?«, entgegnete der Zentaur. »Als würden die uns helfen.«

Rache. Der Gedanke machte sich in Sams Innerem breit und jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er erschrak beinahe über sich selbst, als er merkte, wie sehr ihm die Vorstellung gefiel. Die Pegasus waren schuld daran, dass er seine Eltern nie wiedersehen würde. Er schloss die Finger um die Brosche seiner Mutter, während Trauer und Wut in ihm aufbrandeten wie die Wellen eines eisigen, finsteren Ozeans. Wenn sie eine Armee aufstellten, würde er sich ihnen anschließen, doch vorher … vorher musste er Rianne finden. Sie hatte ein Recht darauf zu erfahren, was passiert war, und zwar von ihm.

Der junge Mann fuhr mit seinem Vortrag über Armeen und Angriffe fort, aber Sam hörte nicht mehr zu. Er rollte sich auf dem harten Boden zusammen und versuchte, trotz der Kälte ein wenig Schlaf zu bekommen.

Er wurde vom dumpfen Trommeln galoppierender Hufe geweckt. Hastig sprang er auf. Schatten glitten über die Heide, Schatten mit muskulösen Flanken und Beinen und langen, todbringenden Hörnern …

»Lauft! Lauft weg!«, rief er.

Doch die Einhörner hatten sie bereits umzingelt. Ihre Rüstungen blitzten im kalten Mondlicht, während sich ihr Schnauben mit den verängstigten Schreien der Flüchtlinge mischte.

Lara warf sich schützend vor die Frau mit dem Kleinkind. Sie zückte ihr Messer und stellte sich zwei Einhörnern unerschrocken in den Weg. Eines der beiden schwang sein Horn mit der Gewandtheit eines erfahrenen Schwertkämpfers. Mit großer Wucht traf das Horn Lara an der Hand, woraufhin sie fluchend das Messer fallen ließ.

Ein weiteres Einhorn kam dazu und rempelte Sam mit seinem vollen Körpergewicht um. Taumelnd versuchte er, sich auf den Beinen zu halten und dem Angriff auszuweichen, doch das Einhorn senkte den Kopf und versperrte ihm den Weg. Es drängte ihn aus dem Schutz der Lagerstätte zu dem kleinen Häuflein menschlicher Flüchtlinge, die bereits von vier anderen Einhörnern umzingelt wurden. Mit einer schnellen Kopfbewegung schubste es ihn zu den anderen und lief dann zurück, um Jagd auf den Rest zu machen.

Diese Einhörner waren kein bisschen wie Kaisa und ihre friedlichen Artgenossen in der Freien Stadt. Das hier waren Soldaten, koordiniert und effizient. Obwohl keiner von ihnen auch nur ein Wort sprach, gelang es ihnen, allein mit ihren Hörnern und ihren massigen Körpern die Menschen von den Zentauren zu trennen und zusammenzutreiben.

»Hört mal«, ging der ältere Zentaur dazwischen, der den jungen Mann vorhin noch eindringlich vor den Folgen seiner Rachegelüste gewarnt hatte. Er wandte sich an das größte der Einhörner, das das Kommando zu haben schien. »Das muss doch nicht sein. Diese Menschen gehören zu uns und stehen unter unserem Schutz.« Er deutete auf die anderen Zentauren, aber noch während er sprach, stahlen sich drei von ihnen klammheimlich ins Dunkel der Nacht davon. Die Einhörner ließen sie ziehen. Wie es aussah, interessierten sie sich nur für die Menschen.

Sie wollen uns zu Sklaven machen, dachte Sam. Ihm gefror das Blut in den Adern.

Der Anführer der Einhörner nickte zwei seiner Kameraden zu, die den Zentauren wortlos in die Dunkelheit drängten. Der Zentaur protestierte lautstark, brach jedoch mitten im Satz abrupt ab. Es folgte eine kurze, entsetzliche Stille, dann schlug sein Körper mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden auf.

»Käfige!«, befahl der Anführer. Es klang wie eine Mischung aus Knurren und Bellen.

Das Quietschen von Rädern drang durch die Nacht. Es dauerte einen Moment, bis Sam begriff, dass es sich bei den gebückten Gestalten, die die Käfige herbeizogen, um Menschen handelte.

Er hatte jedoch kaum Zeit, die grauenhafte Erkenntnis zu verdauen, denn eines der Einhörner richtete sein Horn auf ihn und knurrte: »Rein da.«

Sam schluckte schwer und kletterte dann hinter Lara in den Käfig. Ihre Miene war wie versteinert. Er rutschte beiseite, um Platz für die Frau mit dem Kleinkind zu machen. Blut rann aus einer Wunde an ihrem Hals, doch sie schien es nicht mal zu bemerken. Sie war zu sehr damit beschäftigt, den kleinen Jungen zu trösten, der leise wimmerte.

»Ruhe!«, befahl eines der Einhörner und verschloss die Käfigtür mit einem schweren Riegel. »Kein Wort.« Es ging zu dem anderen Käfig hinüber und verriegelte ihn ebenfalls. »Los!« Die Sklaven begannen, die Käfige über den unwegsamen Untergrund zu zerren. Sam klammerte sich an den Gitterstäben fest, um nicht in die anderen Menschen zu rutschen, die mit ihm zusammengepfercht worden waren. Mit jedem Schlagloch durch das sie holperten, machte sein Magen einen Satz und ihm wurde immer flauer zumute.

»Das geht nicht«, raunte er Lara zu, in der Hoffnung, dass das Quietschen der Räder und das Hufgetrappel der Einhörner seine Stimme übertönten. »Ich muss hier raus. Ich muss Rianne finden!«

»Halt die Klappe«, zischte Lara. Sie schielte zu den Einhörnern hinüber, die neben den Käfigen herliefen. »Das Einzige, was du jetzt musst, ist überleben, Stadtjunge. Überzeuge die Einhörner, dass du für sie nützlich bist. Nur so kannst du ihnen entkommen.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Ich habe gehört, sie schicken die Menschen, die über keine brauchbare Fähigkeit verfügen, in die Minen.«

»Was für Minen?«

»Was glaubst du, wo sie das Metall für ihre Rüstungen herkriegen?«, flüsterte Lara. »Das graben die Menschen für sie aus. Und sobald du einmal da unten bist, kommst du nie wieder raus.«

Panik krallte sich in Sams Eingeweide. »Aber ich bin Juwelier! Was ist daran schon nützlich?!«

Laras Augen funkelten im Mondlicht. »Lass dir was einfallen. Und zwar schnell.«