Kapitel 18
Kixi ließ sich durchs Meer treiben. Das kalte Wasser kühlte die Verbrennung an ihrem Arm und ihre Tränen wurden vom Salzwasser fortgespült. Ihre Freunde hielten sie für einen Freak. Und vielleicht hatten sie sogar recht.
Sie konnte nirgends hin – außer zurück zu den Kelpies.
Auf halber Strecke dorthin kam ihr die Kelpiestute mit der hellgrünen Mähne und der violetten Blesse und Schwanzflosse entgegen, vor der sie aus der Unterwasserhöhle geflohen war.
Als sie Nixi sah, huschte ein Ausdruck der Erleichterung über ihr Gesicht. »Den Wellen sei Dank, es geht dir gut! Wenn dir etwas zugestoßen wäre, hätte ich mir das nie …« Sie seufzte tief und stieß einen Schwall Luftblasen aus. »Ich soll für dich sorgen. Normalerweise kümmert sich Egeria um die neuen Meermenschen, aber sie ist gerade bei einem Gipfeltreffen in Coropolis. Ich gebe mir echt Mühe, aber … ich glaube, ich habe dir Angst gemacht, oder? Können wir noch mal von vorne anfangen?« Sie legte ihren schlanken und mit glänzenden Schuppen übersäten Pferdekopf schief, sodass ihre Kiemen zum Vorschein traten, was anscheinend eine Art höfliche Geste unter Kelpies war. Dann sagte sie: »Mein Name ist Sorsha.«
Nixi zuckte mit den Schultern. Glaubt sie jetzt echt, dass wir Freundinnen werden?
»Komm, ich zeig dir alles«, schlug Sorsha fröhlich vor. »Wie heißt du?«
»Nixi«, grummelte sie und folgte dem Kelpie hinab ins dunkle Wasser. Dank der Schwimmhäute zwischen ihren Fingern und Zehen und der glatten Schuppen auf ihrer Haut konnte sie mühelos mit Sorsha mithalten. Mehr noch: Sie konnte die Säulen und Bögen aus schimmernden gelben und orangefarbenen Korallen erkennen, die überall um sie herum aus dem Meeresboden ragten. Und das, obwohl kein Licht bis hier unten vordrang, nicht bei Tag und schon gar nicht jetzt, weit nach Sonnenuntergang.
Freak, Freak, Freak. Mit jedem Schlag ihrer flossenartigen Füße hallte das Wort so laut durch ihren Kopf, dass die kaum mitbekam, was das Kelpie erzählte.
»Wir mussten natürlich eine Delegation zum Gipfel schicken, klar«, berichtete Sorsha, strampelte ein wenig mit allen vier glänzenden Hufen und schlug kraftvoll mit ihrem Fischschwanz. Ein Makrelenschwarm flitzte an ihnen vorbei, dicht gefolgt von zwei Kelpies, die ihre langen Hälse reckten und erst Sorsha, dann Nixi freundlich zunickten. Sorsha erwiderte die Geste, Nixi setzte bloß eine finstere Miene auf. »Wir beobachten die Situation schon seit Längerem mit Sorge«, fuhr Sorsha fort. »Wir fürchten, dass in Cavallon ein neuer Krieg ausbricht. In letzter Zeit sind jede Menge Kelpies verschwunden. Manche glauben, dass das mit dem Angriff auf die Freie Stadt zusammenhängt. Haben die Menschen auf der Festungsinsel auch Angst vor einem neuen Krieg?«
Nixi hatte keine Ahnung, wovon Sorsha redete, und um ehrlich zu sein, interessierte es sie auch nicht. So nett Sorsha auch schien, sie war eine der Kreaturen, die Nixi in ein Monster verwandelt hatten.
»Das ist die Speiselagune, wo wir gemeinsam unsere Mahlzeiten einnehmen«, erklärte Sorsha und deutete mit einer ausholenden Bewegung ihrer seidigen Schwanzflosse auf einen Ring aus Steinen, die mit Anemonen und Seesternen übersät waren. »Und da drüben …«
»Warum habt ihr mir das angetan?«, fragte Nixi.
Sorsha hielt inne und drehte sich zu ihr um. Ihre Hufe wirbelten durchs Wasser, während sie auf der Stelle schwamm. »Um dich zu retten, natürlich. So wie wir das mit allen ertrunkenen Menschen machen.«
»Was?«
»Du bist ertrunken. Dich in ein Meermädchen zu verwandeln, war der einzige Weg, dich vor dem Tod zu bewahren. Ich weiß, das ist hart für dich, aber du wirst bald merken, dass die Meermenschen hier unten glücklich sind. Sieh mal.« Mit ihrer violetten Schwanzflosse zeigte sie auf einen Korallenbogen, wo einige Meermenschen mit zwei übermütigen Kelpiefohlen durchs Wasser tollten.
Nixi knirschte mit ihren neuen scharfen Zähnen. »Ich wäre um einiges glücklicher, wenn ich mein altes Leben zurückhätte«, fauchte sie.
»Ich weiß«, erwiderte Sorsha und schaute sie sanft aus ihren tiefseedunklen Augen an.
Nixi wandte sich ab. Als sie merkte, dass Sorsha schweigend neben ihr herschwamm, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Die Kelpiestute gab sich offensichtlich Mühe, so wie Nixi sich immer bemüht hatte, für ihre Gang zu sorgen. Und obwohl sie sich niemals freiwillig in einen Meermenschen hätte verwandeln lassen, musste sie doch zugeben, dass es immer noch besser war, als tot zu sein. Sie hatte auch keinen Zweifel daran, dass Sorsha die Wahrheit sagte. Denn nun, da sie sie aus der Nähe gesehen hatte, war ihr klar, dass die Kelpies keine menschenfressenden Ungeheuer waren. Schließlich wäre sie ohne sie jetzt tot.
Nicht dass das irgendetwas besser machte.
Sorsha schwamm weiter neben Nixi her, ließ sie aber in Ruhe ihren Gedanken nachhängen, bis sie zum nächsten Punkt ihrer Führung kamen und sie ihren Vortrag fröhlich fortsetzte. Sie rief den Kelpies und Meermenschen, die gerade dabei waren, die Seetangfelder zu beackern, einen Gruß zu. Anschließend erklärte sie Nixi, dass hier der Großteil der Nahrung für die Riffbewohner gewonnen wurde. Sie kamen wieder an den beiden Kelpies vorbei, die dem Makrelenschwarm nachjagten und nun damit beschäftigt waren, die Fische in ein großes Netz zu treiben. »Warum machen sie das?«, fragte Nixi fast gegen ihren Willen.
»Um den Fischern zu helfen«, antwortete Sorsha. »Das machen wir jede Nacht.«
Nixi war sprachlos. Deswegen also war die Kalte See so ein ergiebiges Fanggebiet – nicht dank ihrer außerordentlichen Fähigkeiten, wie Kapitän Dobber behaupten würde, kehrten die Fischer jedes Mal mit vollen Netzen zur Festungsinsel zurück, sondern weil die Kelpies dafür sorgten. Nixi kniff argwöhnisch die Augen zusammen.
»Verstehe«, sagte sie. »Und was springt für euch dabei raus?«
Sorsha runzelte verwirrt die Stirn. »Was meinst du?«
Nixi streckte den schuppigen Arm aus und deutete auf das Netz, das inzwischen randvoll mit zappelnden Makrelen war. »Ihr treibt uns die Fische in die Arme und rettet uns vor dem Tod. Dafür müsst ihr doch irgendeine Gegenleistung erwarten. Also, was verlangt ihr?«
»Oh, nein«, widersprach Sorsha und blähte die Nüstern. Sie klang entsetzt. »Wir wollen nichts von den Menschen. Wir … empfinden eine gewisse Zuneigung für sie. Sie sind Außenseiter in Cavallon, genau wie wir. Deswegen helfen wir ihnen.«
Nixi musterte sie eingehend. Das Kelpie wirkte vollkommen aufrichtig und doch ergab das alles keinen Sinn.
Als Nächstes brachte Sorsha Nixi zu den Unterkünften im Kelpieriff.
»Wir Kelpies verbringen die meiste Zeit hier«, erklärte sie und zeigte auf eine weitläufige Seegraswiese. Einige Kelpies trieben sanft im wogenden Gras und schnarchten leise, wobei jedes Mal kleine Luftblasen aus ihren Mäulern blubberten. »Die Meermenschen bevorzugen die Höhlen. Ich vermute, die erinnern sie an ihr Zuhause da oben. Für dich haben wir auch einen Platz dort.«
»Super«, antwortete Nixi trocken. Insgeheim war sie jedoch froh, dass sie nicht wie die Kelpies im offenen Meer schlafen musste. Bevor sie das wurmstichige Schiffswrack gefunden hatte, in dem ihre Gang jetzt hauste, hatte sie in einer ganzen Reihe schrecklicher Behausungen gelebt: in einer alten Vorratskiste draußen vor einem Lagerhaus, unter einem umgedrehten Ruderboot und sogar im hohlen Stamm einer Eiche. Doch das Erste, was sie als Waisenkind auf der Straße gelernt hatte, war, nur zu schlafen, wenn sie ein sicheres Versteck gefunden hatte.
»Sind das die Höhlen?«, fragte Nixi und deutete auf einen dunklen Punkt in der Ferne, den sie hinter dem Wrack eines versunkenen Schiffs entdeckt hatte. Sie schwamm darauf zu. Sie konnte es kaum erwarten, Sorsha loszuwerden, um endlich in Ruhe nachdenken zu können.
»Nein!«, rief Sorsha warnend. Sie schwamm an Nixis Seite. »Das ist der Schlund. Ich kann ihn dir zeigen, aber schwimm nicht zu nahe ran. Da ist es gefährlich.«
Sie glitten in einiger Höhe über die Seegraswiese und das mit Anemonen besetzte Wrack hinweg und auf die dunkle Stelle zu. Als sie näher kamen, tat sich die Düsternis dort unten wie eine Schlucht vor ihnen auf. Nixi spürte, wie kalte Strömungen um sie herum aufstiegen. Der Meeresboden hörte abrupt auf und fiel steil in die Dunkelheit ab, die so finster war, dass Nixi sogar mit ihren neuen lichtempfindlichen Augen absolut nichts erkennen konnte.
»Der Schlund ist selbst für Kelpies gefährlich«, erklärte Sorsha. »Halte also lieber Abstand.«
Nixi musste sich zusammenreißen, um nicht über ihren ängstlichen Tonfall zu lachen. »Ganz ehrlich? So wie du über diesen Schlund redest, könnte man fast meinen, die Minotauren wären wieder zum Leben erwacht und …«
Plötzlich packte die Strömung Nixis Füße und zog sie hinab in die finstere Tiefe. Nixi schrie. Das eisige Wasser ließ ihre Kiemen förmlich erstarren.
Sorsha senkte den Kopf und eilte Nixi zu Hilfe. Mit ihrer Flanke schob sie sie zurück, in Sicherheit. »Der Schlund ist gefährlich«, bekräftigte sie. »Am besten hältst du dich von ihm fern.«
Nixi nickte zitternd. Sie hätte nicht gedacht, dass sie solche Angst vor dem Wasser haben könnte, erst recht nicht, nachdem sie bereits ertrunken war, doch ihr Herzschlag beruhigte sich erst wieder, als sie das dunkle Wasser weit hinter sich gelassen hatten und Sorsha sie in ein gemütliches kleines Unterwasserdorf geführt hatte.
Nixis neues Zuhause war ein weitläufiges Gewölbe aus graubraunem Fels, das sie sich mit acht anderen Meerfrauen und -mädchen teilte. In den Wänden waren hier und da feine Risse und Spalten, aus denen kleine, leuchtende Pflanzen wuchsen, die die Umgebung in ein unheimliches grünes Licht tauchten. In verschiedenen Höhen waren breite Nischen in den Stein gehauen worden, die mit dem gleichen weichen Seegras ausgekleidet waren, auf dem Nixi erwacht war. Offenbar dienten diese Kojen den Meermenschen als Betten. Nixis neue Mitbewohnerinnen kamen angeschwommen und umarmten sie überschwänglich, während Sorsha eine Reihe Namen aufzählte, die Nixi jedoch sogleich wieder vergaß. Sie wich vor ihren schuppigen Körpern zurück. »Willkommen«, sagte die älteste Meerfrau lächelnd, wobei ihre scharfen Zähne aufblitzten. »Wir freuen uns so, dass du hier bist.«
Das kleinste Meermädchen zog an Nixis Hand. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht und ihre Schuppen schimmerten bläulich. »Lass uns was spielen!«
Nixi machte sich sanft von ihr los. »Vielleicht später.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass Nixi ganz schön müde ist«, meinte Sorsha. »Lassen wir sie erst mal ein bisschen ausruhen.« Sie verabschiedete sich und die alte Meerfrau führte Nixi zu einer der Felsnischen. Dankbar ließ sich Nixi auf das weiche Seegras sinken. Endlich konnte sie in Ruhe ihre Gedanken sortieren. In ihrem Kopf wimmelte es wie in einem Eimer voller Aale. Trotzdem konnte sie den Blick nicht von den anderen abwenden, die nach und nach wieder ihre Beschäftigungen aufnahmen. Drei ältere Meerfrauen zogen sich in ihre Betten am hinteren Ende der Höhle zurück. Das kleine Meermädchen saß auf dem Boden und spielte eine Art Muschelspiel mit einer anderen Meerfrau von vornehmer Anmut, die ganz offensichtlich ihre Mutter war. Sie hatten beide das gleiche herzförmige Gesicht und selbst die Muster ihrer blauen Schuppen ähnelten sich. Als sie sah, wie strahlend das kleine Mädchen zu seiner Mutter aufsah, spürte Nixi einen Kloß im Hals. Die Kleine konnte nicht viel Zeit an Land gehabt haben, bevor sie ertrunken war.
Ein kleines Stück weiter unterhielten sich eine Frau mittleren Alters und ein Mädchen, das nur ein paar Jahre älter war als Nixi, während sie zusammen ein altes, verknotetes Fischernetz entwirrten. Nixi hätte das diamantförmige Muster überall wiedererkannt.
»Das ist ein Netz von der Festungsinsel«, sagte sie.
Die Ältere der beiden sah überrascht auf und lächelte. Das grünliche Licht verlieh ihrem hellen, seegrasähnlichen Haar die Farbe frischer Erbsen. »Kapitän Dobber kann sich kein neues leisten, deswegen dachten wir, wir richten dieses alte Netz für ihn her. Das hat sich bei dem Sturm letzte Nacht im Treibholz verfangen.«
Die Jüngere kicherte. »Er ist Mays Liebster.«
»Er war es«, korrigierte die Ältere, die demnach May sein musste, ruhig. »Ich war mit Aldric Dobber verlobt, aber das ist Jahre her. Damals habe ich mich als Glücksbringerin auf den Fischerbooten verdingt, um Geld zu verdienen. Wir wollten uns nach der Hochzeit ein eigenes Haus kaufen. Aber drei Tage vor unserer Hochzeit bin ich bei einem Sturm ertrunken.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, ob er sich das jemals verziehen hat.«
Nixi kratzte sich unbehaglich am schuppigen Arm, weil ihr einfiel, dass sie ihn neulich erst bestohlen hatte.
»Wie auch immer«, fuhr May brüsk fort. »Mich um seine Netze zu kümmern, gibt mir das Gefühl, ihm ein bisschen näher zu sein.«
»Ich bin auch bei einem Sturm ertrunken«, murmelte Nixi und setzte sich auf ihrem Bett aus Seegras auf.
Die Meerfrau lächelte. »Das wissen wir. Jenera hier auch.« Sie zeigte auf das Mädchen, das ihr mit dem Netz half.
Jenera seufzte und sagte dann schnell, als hätte sie es satt, die Geschichte wieder und wieder zu erzählen: »Ich wollte rüber aufs Festland, nach Hittum, und hab mich im Frachtraum eines Schiffes versteckt. Dann ist es voll Wasser gelaufen und ich bin ertrunken. Was soll’s?« Sie lächelte und ließ die spitzen Zähne aufblitzen. »Hier unten ist es eh besser. Wirst schon sehen.«
Nixi setzte sich auf und deutete auf die elegante Meerfrau mit dem kleinen Kind. Obwohl die Kleider der Mutter zerfetzt und abgetragen waren, sahen sie aus, als seien früher einmal Goldfäden eingewebt gewesen. »Und was ist mit ihnen?«, fragte sie leise.
May folgte ihrem Blick. »Dalyas Mann war Kaufmann auf dem Festland. Er hat ihr auf der Festungsinsel ein Sommerhaus gebaut. Eines Tages war sie mit der kleinen Reba spazieren und das Mädchen ist ins Wasser gefallen. Dalya ist hinterhergesprungen, um sie zu retten, aber eine Strömung hat beide erfasst und unter Wasser gezogen.«
Nixi versuchte, sich vorzustellen, wie sich Dalyas Mann gefühlt haben musste, nachdem er seine Frau und seine Tochter auf einen Schlag verloren hatte. »Ist … jemals ein Meermensch an Land zurückgekehrt? Also, für immer?«, fragte sie.
Jenera prustete los, doch May lächelte bloß traurig. »Nein«, antwortete sie. »Aber immerhin können wir unseren Familien helfen, indem wir das Meer schützen und ihre Netze entwirren.«
Das war ja alles schön und gut, aber wie bitte schön sollte Nixi ihre Gang vor Simeon beschützen, wenn sie nicht an Land gehen konnte, ohne sie zu erschrecken? Sie trommelte nachdenklich mit ihren scharfen Krallen gegen die Felswand, während sie zu den drei alten Meerfrauen hinüberblickte, die am hinteren Ende der Höhle schliefen. Sie konnte sehen, wie ihre Münder sich im Schlaf öffneten und schlossen. Ihre Gesichter schienen schuppiger zu sein als die der anderen. Entsetzt stellte Nixi fest, dass zwei von ihnen keine Beine mehr hatten, sondern Fischschwänze, die in breiten Schwanzflossen endeten. Als wären ihre Beine im Lauf der Zeit zusammengewachsen.
Nixi wurde ganz flau im Magen. Es fühlte sich an, als würde ein Schwarm kleiner Fische darin herumflitzen. Sie durfte nicht zulassen, dass ihr das auch passierte. Dann sitze ich für immer hier fest! Ich muss einen Weg finden, an Land zurückzukehren …
Im Wasser um sie herum kam Unruhe auf, ein seltsames Vibrieren, das sie zunächst auf ihre Angst schob. Doch dann hörte sie die Stimmen der Kelpies. Sie und die anderen standen auf und schwammen darauf zu. Nixi musste sich gegen eine der Höhlenwände drücken, um einer der alten Meerfrauen auszuweichen, die dank ihres Fischschwanzes mit erstaunlicher Geschwindigkeit an ihr vorbeizischte.
Nixi und die anderen folgten ihr. Am Rand der Seegraswiese hatte sich bereits eine große Menge um ein Dutzend Kelpies geschart, die ziemlich müde und abgekämpft aussahen. Ihre Schuppen wirkten stumpf und ihre Mienen waren ernst.
»Sie sind vom Gipfeltreffen zurück!«, rief Jenera. Das mussten also diese Abgesandten sein, die Sorsha erwähnt hatte. Was sie wohl zu berichten hatten?
In der Menge verbreitete sich die Botschaft, dass sie sich in der Großen Grotte versammeln sollten. Wenig später hatten sich alle in einem langen, gedrungenen Saal aus Fels und Korallen eingefunden. Erst jetzt begriff Nixi langsam, wie groß die Unterwasserkolonie wirklich war: Um sie herum schwammen Hunderte Kelpies, deren Schuppen in allen nur erdenklichen Farben schimmerten, und dazu mindestens hundert Meermenschen. Nixi fand einen Platz neben Sorsha, die zur Begrüßung Nixis Hand mit ihrer Schwanzflosse berührte.
»Das ist Egeria«, erklärte Sorsha und deutete mit einem Kopfnicken auf eine schlanke Kelpiestute, die gerade einen Felsen erklomm, der als Bühne zu dienen schien.
»Die Anführerin?«, fragte Nixi.
Sorsha schüttelte den Kopf. Ihre Mähne wirbelte im Wasser umher. »Wir haben keine Anführer«, sagte sie. »Egeria gilt als die Weiseste unter uns, daher haben wir beschlossen, dass sie im Namen der Delegation sprechen soll.«
Egeria war nicht viel größer als Sorsha. Nixi rechnete damit, dass sie kaum zu verstehen sein würde, doch als Egeria zu sprechen begann, hallte ihre Stimme, mehrfach verstärkt von den Wänden der Grotte, wider. Deshalb also nutzten sie diesen Raum für ihre Versammlungen.
»Die Gipfelteilnehmer haben einen Entschluss gefasst«, berichtete Egeria. »Die anderen Clans haben entschieden, den Pegasus den Krieg zu erklären.«
Ringsum wurden Proteste laut. Wieder schwappte dieses merkwürdige Vibrieren durchs Wasser, das unangenehm in Nixis Magengrube kribbelte. Nixi erwartete, dass Egeria die Stimme erheben oder auf andere Weise versuchen würde, sich Gehör zu verschaffen, doch sie wartete geduldig ab, bis sich die Unruhe legte wie ein Regenschauer nach einem Gewitter.
»Vor allem die Zentauren schienen sehr auf eine Kriegserklärung aus zu sein«, fuhr Egeria fort, als habe es keine Unterbrechung gegeben.
»Die führen wieder irgendwas im Schilde«, meinte ein Kelpiehengst und trat neben Egeria auf den Fels.
»Daran besteht kein Zweifel«, erwiderte sie niedergeschlagen.
Aus der Menge kam zustimmendes Gemurmel. Selbst Sorsha nickte energisch.
»Was habt ihr gegen die Zentauren?«, erkundigte sich Nixi, als sich die Versammlung kurz darauf auflöste. Sie selbst war nur ein paar Mal welchen begegnet, die als Vertreter der wohlhabenden zentaurischen Kaufleute vom Festland auf die Festungsinsel gekommen waren. Viele der Inselbewohner waren von ihren tadellosen Manieren und ihrer Bildung beeindruckt und fast ein bisschen eingeschüchtert gewesen. Für Nixi waren sie nichts als eingebildete Snobs.
»Die Zentauren waren diejenigen, die uns in den Norden und damit in die Kalte See getrieben haben«, erklärte Sorsha mit einem Hauch von Ärger in ihrer sonst so sanften Stimme. »Unsere Vorfahren lebten überall, in den Flüssen und Seen von ganz Cavallon. Die Zentauren haben uns vertrieben, weil wir ihr Geheimnis kennen.«
»Was für ein Geheimnis?«
Sorsha schüttelte ihre Seegrasmähne. »Die Zentauren waren nicht immer das, was sie heute sind. Früher, vor langer Zeit, waren sie Menschen und …«
»Halt, Moment!«, unterbrach Nixi. »Was soll das heißen, die Zentauren waren früher Menschen?«
»Genau das«, antwortete Sorsha. »Die ersten Zentauren waren Menschen, die mit einer gefährlichen Magie herumexperimentiert und sich schließlich verwandelt haben.«
Nixi fühlte sich wie ein Schiff, das auf einen Felsen aufgelaufen war. Sie haben sich verwandelt? Diese Erkenntnis erschütterte sie zutiefst und brachte ihr gesamtes Wissen über Cavallon ins Wanken. »Warum weiß niemand davon?«
»Nicht mal die Zentauren kennen ihren Ursprung. Jedenfalls die allermeisten nicht«, erwiderte Sorsha. »Und die wenigen, die es wissen, schämen sich vermutlich dafür. Aber einige Dinge ändern sich wohl nie. Schon die allerersten Zentauren konnten offenbar den Verlockungen der Macht nicht widerstehen.
Und wie man sieht, können sie das bis heute nicht. Kein Wunder, dass sie jetzt in den Krieg ziehen wollen.«
»Aber warum?«, fragte Nixi. »Sie würden doch bestimmt auch darunter leiden, wenn …«
»Der Elite der Zentauren geht es nur um eins: ihr Geheimnis und damit ihre Überlegenheit zu bewahren. Das ist alles. Die Menschen und anderen Pferdeclans mögen ihnen vielleicht vertrauen, aber wir Kelpies wissen es besser. Wir haben unsere Geschichte nicht vergessen.«
Sorsha schlug mit der Schwanzflosse und schwamm davon, doch Nixi blieb noch einen Moment zurück.
Menschen, die mit einer gefährlichen Magie herumexperimentiert und sich schließlich verwandelt haben …
Sorshas Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Wenn die Zentauren sich mit magischen Verwandlungen auskannten, konnten sie ihr ja vielleicht helfen, sich zurück in einen Menschen zu verwandeln.
*
Nixi saß mit Sorsha, May und Jenera in der Speiselagune und kaute auf ihrem Mahl aus Fisch und Seetang herum, während sie insgeheim Pläne schmiedete. Wie konnte sie mehr über diese Magie herausfinden? Wie konnte sie Kontakt zu den Zentauren aufnehmen? Auch später, als sie schlaflos in ihrer Koje lag, vermochte sie an nichts anderes zu denken.
Kurz vor Sonnenaufgang nahm Sorsha sie mit zu den Docks der Festungsinsel, um Seepocken von den Fischerbooten zu kratzen. Sorsha brach die Seepocken mit ihren Hufen vom Holz, doch Nixis lange Nägel waren dafür nicht stark genug, also behalf sie sich mit einem Speer, den May aus einem Schiffswrack geborgen hatte. Die Arbeit war ziemlich eintönig, wenn auch überraschend befriedigend, und gab Nixi genügend Zeit nachzudenken.
Ich bin eine geschickte Diebin, dachte sie. Vielleicht kann ich die Magie der Zentauren stehlen.
Denn wenn die Kelpies recht hatten und man den Zentauren wirklich nicht trauen konnte, würden sie ihr niemals freiwillig helfen.
Sorsha schabte mit dem Huf sorgfältig eine Reihe Seepocken vom Boot. Ihre Seite sah viel ordentlicher aus als Nixis und war schon fast fertig. Nixi hebelte mit dem Speer eine Seepocke los, die taumelnd in der Tiefe verschwand, wo sie prompt von einer hungrigen Spitzschnecke vertilgt wurde. Gerade als Nixi sich an die nächste Seepocke machte, drang von oben eine unangenehme, laute Stimme durchs Wasser, die Nixi nur allzu gut kannte. Sie verzog das Gesicht, stieß sich vom Boot ab und schwamm unter den Anlegesteg, wo sie den Kopf aus dem Wasser stecken konnte, ohne gesehen zu werden.
Simeon stand ganz in der Nähe auf einem Handelsschiff und redete auf eine stämmige Frau ein, an deren elegantem Wollmantel Nixi erkannte, dass sie für einen Kaufmann vom Festland arbeiten musste. Die Frau rümpfte die Nase, als hätte sie etwas Unangenehmes gerochen, allerdings konnte Nixi nicht erkennen, ob das an Simeon lag, am Geruch der Docks oder ob sie immer so aussah.
»Und alle sind kräftig?«, fragte die Frau. »Ich bezahle nicht für Schwächlinge. Die halten in den Zinnminen keine Woche durch.«
»Oh ja, das sind sie«, beteuerte Simeon. »Jeder von denen trägt locker ein Bierfass.«
Was hat er jetzt schon wieder vor?, fragte sich Nixi und schwamm näher heran. Sie hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache.
»Hmm«, machte die Frau vom Festland. »Bring sie bei Sonnenuntergang zum Warenlager in Hittum. Wenn sie annehmbar sind, kriegst du dort dein Geld.«
Simeon grinste. »Ihr werdet sehen, Waisenkinder wie diese sind perfekt für Eure Mine. Wer auf der Straße überleben will, muss stark sein.« Er lachte bellend und stieß der Frau seinen Ellbogen in die Rippen, dann sprang er zurück auf den Steg. »Sogar die kleine Blinde – sie arbeitet hart und bei ihr muss man sich wenigstens keine Sorgen machen, dass sie da unten das Augenlicht verliert, hab ich recht?«
Nixi vergaß, weiter Wasser zu treten. Sie war so geschockt, dass sie kaum mitbekam, wie sie unterging und ihr Körper von Lungen- wieder auf Kiemenatmung umstellte. Simeon hatte vor, Floss und die anderen an die Zinnminen auf dem Festland zu verkaufen …!
Nicht wenn ich es verhindern kann.
Egal, wie sie auch aussah – Nixi musste ihre Gang retten, und zwar schnell!