Kapitel 19

Aquilla streifte die Wolken über den Marmortürmen und Parks von Coropolis. Ihr Schweif zuckte nervös. Das Gipfeltreffen musste längst zu Ende sein – und immer noch war Jaren nirgends zu sehen.

Sie hatte ihn in einem Wäldchen außerhalb der Stadt abgesetzt und er war zu Fuß zu dem Treffen gegangen, während sie sich über den Wolken versteckte. Auf ihrer Reise Richtung Süden hatten sie noch bei einem weiteren Dorf haltgemacht, damit Jaren in Erfahrung bringen konnte, wann genau der Gipfel stattfinden sollte. Als er zu ihrem Versteck hinter einer Reihe Heuhaufen zurückgekehrt war, hatte er auf seine Weste und Hose gezeigt. »Nicht gerade palasttauglich, oder?« Er hatte gegrinst, doch Aquilla konnte spüren, wie nervös er war.

Gestern hatte sie, hinter einer Wolke verborgen, beobachtet, wie Jaren den Palast betreten hatte. Aber … hatte er es auch wieder hinausgeschafft?

Hör auf, dir Sorgen zu machen, ermahnte sie sich. Wenn die Debatten und Abstimmungen bei den anderen Clans nur halb so lange dauerten wie bei den Pegasus, würde es noch eine ganze Weile dauern, bevor sie Jaren wieder zu Gesicht bekam.

Trotzdem tauchte sie ein weiteres Mal durch die Wolken, um einen Blick auf den Palast zu erhaschen. Der Innenhof und die Parkanlagen waren still und friedlich. Sonnenlicht glitzerte in den Fontänen der Springbrunnen und sie sah Zentauren auf den Rasenflächen umherlaufen, die von hier oben winzig klein erschienen.

Gerade als sie mit den Flügeln schlug, um sich wieder über den Wolken in Deckung zu bringen, erspähte Aquilla auf der Straße vor dem Palast einen vertrauten braunen Wuschelkopf. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.

Jaren! Endlich!

Er wurde von vier Zentauren begleitet, zwei auf jeder Seite. Plötzlich sah einer von ihnen hoch und Aquilla flüchtete sich eilig in die Wolken. Sie flog in die Richtung, in die Jaren und die Zentauren unterwegs waren, und ließ sich nur hin und wieder kurz unter die Wolkendecke sinken, um ihren Kurs zu korrigieren. Die Sonne spiegelte sich in den goldenen Helmen der Zentauren. Sind das Wachleute? Jarens Haltung wirkte angespannt, aber aus der Ferne konnte sie nicht erkennen, ob er bloß nervös war oder Angst hatte. Vielleicht eskortierten ihn die Wachen zu einem Treffen mit einer hochrangigen Persönlichkeit, der er die Botschaft der Pegasus überbringen sollte.

Ja, das muss es sein, dachte Aquilla, als sie sah, wie die Zentauren Jaren durch die Eisentore eines grauschwarzen Gebäudes führten. Das Bauwerk stand auf einer Landspitze, die über den Fluss ragte. Der obere Teil der glatten Außenwände war mit Reliefs verziert, so wie die meisten Gebäude in Coropolis. Aquilla traute sich nicht näher heran, denn über dem Fluss war die Wolkendecke dünner und sie musste um jeden Preis verhindern, dass sie entdeckt wurde und dort unten Panik ausbrach. Andernfalls war Jarens Treffen mit dem Würdenträger der Stadt, bei dem er ihn von der friedlichen Natur der Pegasus überzeugen wollte, von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Jaren weiß, was er tut, versuchte Aquilla erneut, sich zu beruhigen. Trotzdem zuckte sie angespannt mit dem Schweif, als Jaren aus ihrem Blickfeld verschwand und das Eisentor scheppernd hinter ihm ins Schloss fiel.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich weiter an ihren Plan zu halten. Sie flog zum höchsten Turm der Stadt, einem uralten Bauwerk aus hellem Stein, das so mit Moos überwuchert war, dass es von Weitem aussah, als sei es grün angemalt. Es war der Turm der Sterne. Aquilla hatte ihn sofort erkannt, da er in zahlreichen Pegasussagas vorkam. Sie hatten verabredet, dass Aquilla am Fuß des Turms auf Jaren warten würde, sobald er aus dem Palast kam. Der Turm war von überall in Coropolis zu sehen, sodass Jaren problemlos in der Lage sein sollte, ihn zu finden.

Ein kleines, lauschiges Wäldchen umgab den Turm auf drei Seiten. An der vierten endete der Pfad, der sich von der Hauptstraße hochschlängelte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, legte Aquilla die Flügel an und sauste in steilem Sturzflug auf den Boden. Im letzten Augenblick richtete sie sich auf und landete, wobei sie das Farnkraut unter ihren Hufen zerquetschte, das dort überall wuchs. Jetzt musste sie nur noch warten. Am liebsten wäre sie den Turm hinaufgestiegen. Von dort oben hatte ihre Vorfahrin Evelin Copperwing vor ewigen Zeiten die Schlacht der vereinten Truppen von Cavallon gegen die Minotauren beobachtet, die sich vor den Toren der Stadt ereignet hatte. Das war lange, lange her. Damals hatten die anderen Clans den Pegasus noch vertraut.

Doch jetzt durfte Aquilla nicht riskieren, gesehen zu werden. Sie beschloss, jagen zu gehen, und erbeutete drei fette Vögel, die zu bequem waren, um vor ihr wegzufliegen. Dann ließ sie sich unter den herabhängenden Ästen einer Weide nieder und wartete.

Die Sonne stieg höher und höher, doch von Jaren fehlte weiterhin jede Spur. Sie hielt es vor Sorge kaum noch aus, aber sie wollte lieber nichts unternehmen, was ihn in Gefahr bringen konnte.

Wenn der Schatten der Bäume den Fuß des Turms erreicht, mache ich mich auf die Suche nach ihm, beschloss sie. Sie ertappte sich dabei, wie sie nervös die Federn sträubte, und zwang sich, Ruhe zu bewahren.

Auf dem Pfad näherten sich Schritte. Endlich! Erleichtert sprang Aquilla auf.

Dann hörte sie die Stimmen.

»Sorg dafür, dass der Turm heute Abend schon früher bereit ist«, ertönte eine tiefe, knurrige Stimme. »Die ganze Stadt wird die Sterne befragen wollen, wie die Sache ausgeht.«

»Kein Wunder«, erwiderte eine andere Stimme. »Wir richten schließlich nicht jeden Tag ein Gipfeltreffen aus, bei dem den Pegasus der Krieg erklärt wird.«

Aquilla stockte der Atem. Als er wieder einsetzte, ging er flach und stoßweise. Den Pegasus der Krieg erklärt …

»Lord Diomedes hat bereits die Truppen inspiziert«, meinte die tiefe Stimme. »Klingt, als würden sie sich schon bald in Bewegung setzen.«

Meine Herde! Sie musste Jaren finden und sie warnen.

Aquilla breitete die Flügel aus und drückte sich vom Boden ab. Weidenzweige peitschten ihr ins Gesicht, doch sie schüttelte sie ab und schoss durchs Blätterdach empor.

Die Zentauren auf dem Pfad starrten ihr mit offenem Mund nach. »Sie sind bereits hier!«, schrie der mit der tiefen Stimme. »Wir werden angegriffen!«

»Pass auf!«, rief der andere und zog seinen Begleiter von ihr weg. »Du weißt doch, was in der Freien Stadt passiert ist!«

Aquilla hatte keine Zeit, sich ihretwegen Gedanken zu machen. Sie flog schnurstracks auf das Gebäude am Fluss zu, während die Zentauren in den Straßen unter ihr aufschrien und Hals über Kopf die Flucht ergriffen. Als sie näher kam, drehte sich ihr der Magen um. Das, was sie für Reliefs gehalten hatte, waren in Wahrheit Eisenspitzen, die aus den Wänden ragten. Und die Mauern waren deswegen so glatt, weil sie keine Fenster hatten.

Es ist ein Gefängnis! Sie verfluchte sich insgeheim, weil sie das nicht früher bemerkt hatte. Hatte sie wirklich geglaubt, die anderen Clans würden Jarens Botschaft ernst nehmen? Sie hätte damit rechnen müssen, dass sie ihn bestrafen würden. Ihre Herde hatte recht gehabt, sich von den anderen Clans fernzuhalten. Nun musste ihr einziger Freund ihretwegen leiden.

Das würde sie nicht zulassen. Aquilla hatte noch nie gekämpft, aber sehr wohl ihre Vorfahren. »Schnell und entschlossen wie ein Greifvogel stieß sie aus den Wolken hinab«, murmelte Aquilla. Es war ihre Lieblingszeile aus der Saga über Evelin Copperwing und sie machte ihr Mut. Sie hatte vielleicht keine Waffen, aber dafür war sie schnell, entschlossen und hatte das Überraschungsmoment auf ihrer Seite.

Sie legte die Flügel an und sauste im Sturzflug und mit ausgestreckten Vorderbeinen auf das Eisentor des Gefängnisses zu. Die zentaurischen Wachen waren so überrumpelt, dass sie erst auf die Idee kamen, ihr hinterherzujagen, als sie bereits das Tor eingetreten hatte, einen feuchtklammen Gewölbegang entlanggaloppiert und durch die Holztür an dessen Ende geprescht war. Ihre Hufe glitten auf dem Kopfsteinpflaster aus, doch mithilfe ihrer Flügel gelang es ihr, das Gleichgewicht zu halten. Inzwischen befand sie sich in einem weiteren finsteren Gang. Ketten hingen von den Wänden und vor ihr spannten Wachleute ihre Armbrüste. Zwei von ihnen zielten auf sie, doch sie trat ihnen die Waffen aus der Hand und wirbelte herum, um drei weitere mit ihren Flügeln niederzustrecken.

Der Weg war frei und Aquilla stürmte durch den nächsten Gang. Sie schlug mit den Flügeln, um weiter zu beschleunigen, was in den beengten Tunneln gar nicht so einfach war. Bald war sie so schnell, dass ihre Hufe kaum noch den Boden berührten.

»Jaren!«, schrie sie. »Jaren! Wo bist du?«

Ihre Flügelspitzen streiften die rauen Steinwände und in der Luft hing ein muffiger, abgestandener Geruch, doch sie lief unbeirrt weiter und lugte hastig in die kleinen Sichtfenster an den Zellentüren. Schmutzige Gesichter blickten ihr entgegen, manche freudig, manche voller Angst. Doch keins davon gehörte Jaren.

Sie galoppierte eine Wendelrampe hinauf und stieß zwei weitere Wachleute beiseite. Bevor die beiden sich aufgerappelt hatten, war sie bereits in den nächsten Gang gebogen. Auf diesem Stockwerk wurden die Gefangenen in Gemeinschaftszellen gehalten. Sie riefen um Hilfe und flehten sie an, sie zu befreien. Hörner wurden durch die Gitterstäbe gesteckt, schuppige Fischschwänze und Hände, von denen sie nicht wusste, ob sie Menschen oder Zentauren gehörten. Aquilla stellte ihre Flügel auf, um etwas abzubremsen und sich die Hände genauer anzusehen, aber auch hier fand sie Jaren nicht.

Der Gang öffnete sich zu einer weiteren Wendelrampe und Aquilla jagte ins nächste Stockwerk hoch. »Jaren! Jaren, ich bin es!«, rief sie.

Doch kaum hatte sie den stickigen Gang betreten, kam ihr ein Dutzend Zentauren mit Schwertern und Seilen entgegen. Aquilla fuhr herum, aber es war zu spät: Sie stürzten sich auf sie. Sie schrie auf, als ein Schwerthieb ihre Schulter streifte, und trat wild um sich, als einer der Zentauren ihr eine Schlinge ums Hinterbein legte und zuzog.

»Aquilla! Aquilla, bist du das? Ich bin hier!«

Das war Jarens Stimme! Er war irgendwo vor ihr, hinter den Wachleuten.

»Ich komme!«, schrie sie. Sie bäumte sich auf und preschte durch die Reihen der Wachen, wobei sie den Zentauren mit dem Seil ein ganzes Stück hinter sich herzog, bevor er schließlich losließ.

»Aquilla!« Jarens Stimme klang verzweifelt.

Sie folgte seinen Rufen zu einer Zelle in der hintersten Ecke des Gebäudes. In der hölzernen Zellentür befand sich ein winziges Gitterfenster. Aquilla bäumte sich auf und trat zu. Die Tür zersplitterte und fiel aus den Angeln. »Jaren!«, rief sie, doch der Mensch, der dort auf dem schmutzigen Stroh lag, war nicht ihr Freund. Im flackernden Licht der Lampen auf dem Gang erkannte sie, dass der Mann goldbraune Haut hatte, die mit blauen Flecken übersät war. Er war so dünn, dass seine schmutzige grüne Tunika wie ein Sack von seinem Körper hing.

Auf dem Gesicht des Mannes breitete sich ein Lächeln aus, bei dem deutlich wurde, dass er höchstens noch die Hälfte seiner Zähne hatte. »Bei allen Bergen, du bist es!«

Aquilla starrte ihn entgeistert an.

»Ich habe dich gesehen! Im Gebirge!«, rief der Mann und rappelte sich auf. »Du bist ihm entkommen!«

»Entkommen? Wem?«

»Dem Minotaurus natürlich!« Der Mann rang überglücklich die Hände. »Erzähl, wie hast du das geschafft?«

Aquilla stand mit offenem Mund da, während sich in ihrem Kopf ein Bild von dem ergab, was geschehen sein musste. Die anderen in der Herde hatten immer gesagt, dass Aquoro und sie mit ihrem nebelgrauen Fell aussahen wie Zwillinge. Und jetzt hielt dieser Fremde sie anscheinend für ihren Bruder.

Was nur eins bedeuten konnte: Er hatte Aquoro gesehen.

Dann schlug der Rest von dem, was er gesagt hatte, wie eine eisige Welle über ihr zusammen. Ein Minotaurus hat ihn gefangen …

Aber das konnte nicht sein. Die Minotauren waren seit Urzeiten ausgestorben!

Doch sie hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Hinter ihr auf dem Gang ertönte Hufgetrappel.

»Steig auf meinen Rücken!«, befahl sie dem Mann. Sie war überrascht, wie schnell er gehorchte. Seine spitzen Knochen bohrten sich in ihre Flanken und er krallte sich schmerzhaft an ihrer Mähne fest. Aquilla preschte durch die Tür und auf den Gang hinaus.

Sie machte sich nicht mehr die Mühe, in jede Zelle zu gucken, sondern trat einfach die Schlösser von den Türen und stürmte weiter, sobald klar war, dass Jaren nicht unter den Gefangenen war. Die Flut der Häftlinge, die aus den Zellen strömten, bremste die Wachen hinter ihr aus. »Jaren!«, schrie sie. »Jaren!«

Da wurde ihr bewusst, dass er ihre Rufe schon eine Weile nicht mehr erwidert hatte. Ihre Eingeweide zogen sich krampfartig zusammen. Hatten die Wachleute ihn fortgebracht?

Ein weiterer Wachtrupp bog vor ihr um die Ecke und feuerte eine Salve von Pfeilen auf sie ab, von denen einer ihren Flügel durchbohrte. Ein roter Fleck erblühte zwischen ihren silbernen Federn. Aquilla schrie vor Schmerzen und bäumte sich auf, sodass der Mann auf ihrem Rücken sich mit aller Kraft an ihrer Mähne festhalten musste, um nicht herunterzufallen. Noch mehr Pfeile regneten auf sie herab und prallten klappernd gegen die Wand. Sie saß in der Falle. Von beiden Seiten näherten sich Wachleute. In wenigen Augenblicken würde alles vorbei sein.

Doch halt: Die Zentauren waren an den Boden gebunden, während Aquilla ein Geschöpf des Himmels war.

Sie blickte zur Decke hinauf und sandte einen stummen Dank an die Sterne. Denn anders als die massiven Außenwände des Gefängnisses bestand der Dachstuhl nicht aus Stein und Eisen, sondern aus Holz.

Und ich bin wie Evelin Copperwing zu allem entschlossen, dachte sie und drückte sich vom Boden ab. Der Schmerz in ihrem Flügel brachte sie für einen Moment ins Taumeln, doch dann krachte sie mit den Hufen durch die Balken. Holzsplitter prasselten auf die Zentauren unter ihr hinab. Nach zwei weiteren Tritten war sie frei. Mit kräftigen Flügelschlägen erhob sie sich in den Himmel über dem Gefängnis.

Aber sie hatte die Rechnung ohne die Wachen auf dem Dach gemacht.

Der Mann auf ihrem Rücken schrie auf und seine Knie verloren den Halt. Sie drehte sich um und sah den Pfeil in seinem Hals. Noch während er fiel, schossen die Zentauren auf dem Dach sechs weitere Pfeile auf ihn ab. Er war tot, bevor sein ausgemergelter Körper auf dem Boden aufschlug.

Die Wachleute richteten ihre Waffen nun auf sie. Aquilla floh hinauf in die Wolken. Blut tropfte von ihrem verletzten Flügel und ihr Herz war schwer vor Trauer und Entsetzen.

Sie hatte es nicht geschafft, den Mann zu retten. Sie hatte ihren Bruder nicht gefunden. Und jetzt hatte sie auch noch Jaren im Stich gelassen.