Kapitel 24

Sieh noch mal nach, sagte Tordred in Sams Kopf.

Habe ich doch gerade erst!

Jetzt mach schon!, blaffte Tordred.

Sam wusste, warum der Einhornhengst so gereizt war. Er war genauso beunruhigt wie Sam und es ärgerte ihn, dass er nicht einfach den Kopf drehen und selbst nachsehen konnte, solange Lara auf seinem Rücken lag und schlief.

Sam wandte sich um und lief einige Schritte rückwärts über die flache, verwilderte Ebene, während er den Waldrand in der Ferne im Blick behielt, für den Fall, dass sich dort irgendetwas bewegte. Kein Einhorn weit und breit. Ich denke, wir haben sie abgehängt, bevor wir den Fluss durchquert haben. Du warst zu schnell für sie.

Wir waren zu schnell für sie, korrigierte Tordred.

Sam antwortete nicht. Er schloss wieder zu Tordred auf und zupfte ein weiteres Stück Metallspäne von dessen verbeulter Rüstung. Aus den schmalen Streifen bastelte er eine Kette für die kaputte Brosche seiner Mam. Am liebsten hätte er dafür ein paar Glieder aus dem filigranen Kettenhemd benutzt, weil der Draht viel feiner war, aber das hatte er ja beim Kampf mit dem Eisenhornclan verloren.

Tordred war weitergaloppiert, selbst als sie auch die hartnäckigsten Verfolger längst abgeschüttelt hatten. Inzwischen waren sie etwas langsamer unterwegs, wagten es jedoch immer noch nicht, anzuhalten und ein wenig auszuruhen. Es war viel zu riskant. Wir laufen weiter, hatte Tordred verkündet. Der Clan ruht sich auch nicht aus.

Sam musste unentwegt daran denken, mit welcher Geschwindigkeit sie den anderen entkommen waren. Offenbar hatte das irgendwas mit ihm zu tun. Was … was ist das für eine Verbindung zwischen uns? Wie ist das alles möglich?

Er hatte die Frage eigentlich laut stellen wollen, aber anscheinend hatte er sie bereits in Gedanken vorformuliert, denn Tordred reagierte, bevor Sam überhaupt den Mund aufmachen konnte.

Das Einhorn schnaufte tief durch. Die einzigen Geräusche, die zu hören waren, waren das leise Knirschen ihrer Schritte auf dem steinigen Untergrund und das Summen der Insekten über den dornigen Ginsterbüschen. Tordreds Antwort erklang klar und deutlich in Sams Kopf. Früher, vor langer, langer Zeit, als unsere Clans gleichberechtigt nebeneinanderlebten, waren Bande zwischen Einhörnern und Menschen keine Seltenheit. Damals wurden sie als etwas Wertvolles angesehen. Du verstehst sicher, warum – durch die Bande waren Mensch und Einhorn zu außergewöhnlichen Dingen imstande. Sie waren mächtige Krieger, die gemeinsam ihr Land verteidigten. Diese Bande hielten ein Leben lang.

Sam riss die Augen auf. Ein Leben lang? Ich wusste doch gar nicht, worauf ich mich da …

Tja, meine Idee war das auch nicht, erwiderte Tordred.

Sam nickte resigniert. Tordred hatte sich genauso wenig freiwillig dafür entschieden wie er. Wenn das mit dem Band so eine tolle Sache ist, warum wollte Maven uns dann umbringen?

Weil die Menschen uns hintergangen haben. Tordreds Worte trafen ihn wie ein eisiger Regenguss. Im Krieg von Cavallon haben die Menschen Informationen an die Pegasus weitergegeben. Drei Einhornclans sind in einen Hinterhalt der Pegasus geraten und wurden vollständig ausgelöscht. Eigentlich hätten die Menschen und die Einhörner Seite an Seite kämpfen sollen, doch der König der Menschen wollte das Land der Einhörner für sich allein.

Stirnrunzelnd fügte Sam seiner Kette ein weiteres Glied hinzu. Er hatte in Nerissas Büchern über die Kämpfe zwischen den Menschen, Einhörnern und Pegasus gelesen. Warum sie einander bekämpft hatten, hatte er darin jedoch nicht erfahren. Aber der Plan der Menschen ist nicht aufgegangen.

Tordred warf ihm einen Blick zu und sah dann wieder weg. Die restlichen Einhornclans haben jede einzelne Menschensiedlung gestürmt, die sie finden konnten, und sich die Menschen dort als Rache für ihren Verrat untertan gemacht. Seitdem sind Bande zwischen Menschen und Einhörnern bei Todesstrafe verboten.

Sam hängte das nächste Glied an seine Kette. Aber wenn euch das doch stärker und schneller macht, warum …

Tordred schlug aufgebracht mit dem Schweif. Kapierst du es nicht? Die Einhornclans hassen die Menschen so sehr, dass sie diese Bande als etwas … Unnatürliches betrachten. Etwas durch und durch Schlechtes. Sie finden, dass es das niemals hätte geben dürfen!

Eine Weile liefen sie schweigend weiter. Verworrene, halb fertige Gedankenfetzen schossen zwischen ihnen hin und her. Sam fügte seiner Kette drei weitere Glieder hinzu.

»Als ich ein Fohlen war«, sagte Tordred abrupt und Sam erschrak fast über den rauen Klang seiner Stimme, »gab es bei uns im Clan ein altes Einhorn namens Sigil. Er hat immer Geschichten aus der Zeit vor den Kriegen erzählt, als junge Einhörner noch ausgezogen sind, um einen Menschen zu finden, mit dem sie ein Band eingehen konnten. Unsere Anführerin hat ihm befohlen, damit aufzuhören, aber Sigil hat die Bande unbeirrt weiter verteidigt. Er meinte, das sei etwas vollkommen Natürliches und wir Einhörner seien dumm, eine Partnerschaft zu verweigern, die uns nur stärker macht.«

Er verstummte, doch dafür strömte eine Flut aus Bildern auf Sam ein: ein uraltes Einhorn mit stumpfem grauweißem Fell, dessen Kopf von den Hufen zweier größerer Einhörner zu Boden gedrückt wurde. Ein Huf, der auf seinem Horn aufschlug – und ein lautes, markerschütterndes Knacken. Das silberne Blut, das über das Gesicht des alten Einhorns rann, während sein Horn vor ihm ins Gras fiel. Die Spottrufe, die ihm hinterherschallten, als er von den Einhörnern verstoßen wurde und einsam aus dem Lager trottete.

»So würde Maven auch dich bestrafen«, flüsterte Sam. Tordred nickte.

Sam brauchte nicht zu fragen, ob Tordred das alles mit eigenen Augen gesehen hatte. So deutlich, wie die Bilder waren, konnten sie nur aus seiner Erinnerung stammen.

Verstehst du jetzt?, fragte Tordred.

Sam glaubte schon – er begriff, warum das Band Tordred solche Angst gemacht hatte. Auch das Band selbst verstand er nun besser. Ich weiß, dass es gefährlich ist, und ja, mir macht es auch Angst. Was Maven dir antun will … Aber gib es zu: Irgendwie ist das alles auch ganz schön abgefahren. Ich meine, guck dir das mal an. Er hielt die beinahe fertige Kette hoch, die um einiges filigraner und ausgefeilter war als alles, was er in der Werkstatt seiner Eltern je zustande gebracht hatte. Und das, obwohl er mit bloßen Händen und ohne jedes Werkzeug gearbeitet hatte. Alles, was ich vorher konnte, kann ich jetzt viel besser. Ich kann Dinge tun, zu denen ich vorher nicht in der Lage war. Ich wäre niemals stark genug gewesen, das Kettenhemd auch nur hochzuheben, geschweige denn, es einem Einhorn um die Ohren zu hauen. Das kam von dir.

Tordred nickte. Und ich wäre niemals schnell genug gewesen, um Bastion bei unserem Kampf auszuweichen oder den anderen davonzulaufen. Das kam von dir.

Der nächste Gedanke schoss ihnen gleichzeitig durch den Kopf, sodass Sam nicht sagen konnte, wer von ihnen ihn zuerst gedacht hatte: Wir müssen raus aus den Schwarzhornwäldern.

Sam sah nach Lara. Sie schlief immer noch tief und fest. Die Angst und Erschöpfung nach ihrer Flucht, bei der sie erneut durch die Einhörner gefangen genommen worden war, schienen sie vollkommen ausgelaugt zu haben. Wahrscheinlich wäre er ohne sein Band mit Tordred genauso erledigt gewesen.

Wenn sie aufwacht, können wir eine kleine Pause einlegen und uns was zu essen suchen, sagte Sam zu Tordred. Sie ist eine gute Jägerin.

Tordred nickte und beobachtete neugierig, wie Sam die Brosche seiner Mutter aus der Tasche holte und sich daranmachte, sie auf die fertige Kette zu fädeln. Als Lara Maven die Verschlussnadel in den Hals gerammt hatte, war diese ganz oben am Gelenk abgebrochen, sodass dort eine kleine Öffnung entstanden war. Die Öffnung war allerdings etwas kleiner als das Kettenglied, an dem Sam die Brosche befestigen wollte. Er blieb stehen und versuchte, die Öffnung zu weiten.

Du könntest ein paar Haare aus meiner Mähne nehmen, schlug Tordred vor. Einhornhaar ist stark wie Eisen.

Eine plötzliche Erinnerung kam in Sam hoch: seine Mutter, die summend an ihrem Werktisch stand und Schweifhaare eines Einhorns in die Riemen eines Brustpanzers flocht. Tränen stiegen ihm in die Augen und er musste ein paar Mal kräftig blinzeln. Er wusste, dass Tordred das Bild auch sah, verzichtete jedoch auf eine Erklärung und sandte ihm stattdessen bloß einen stummen Dank, während er ihm vorsichtig einige schwarze Haare auszupfte.

Die Haare passten mühelos durch die kleine Öffnung. Wenig später hatte Sam die Brosche sicher an der Kette befestigt und hängte sie sich um den Hals.

Sie fehlen dir, sagte Tordred in seinem Kopf.

Ja. Er wusste, dass Tordred gesehen hatte, was seinen Eltern in der Freien Stadt widerfahren war – schließlich hatten sie in der Nacht ihrer ersten Begegnung unfreiwillig ihre Erinnerungen miteinander geteilt. Aber er wollte jetzt nicht an den widerwärtigen Gestank der Brände denken, deswegen lenkte er das Gespräch schnell in eine andere Richtung. Ich habe nur noch meine Schwester. Rianne. Ich war auf dem Weg zu ihrer Farm in der Nähe von Buchem, als dein Clan mich gefangen genommen hat …

Das ist nicht mehr mein Clan, erwiderte Tordred knapp.

Ich weiß. Wir können zusammen zu Rianne gehen. Sie wird uns sicher helfen. Wir müssen nur die Bergstraße finden, um zu ihr zu kommen.

Tordred lief eine Weile schweigend weiter. Ein Gedankengewirr strömte auf Sam ein, das sich schließlich zu einer klaren Antwort zusammenfügte: Es fühlt sich komisch an, einen Menschen um Hilfe zu bitten, aber … ich vertraue dir. Ich kenne den Weg. Wir müssen weiter in Richtung der Berge laufen und dann nach Westen.

Den Rest des Nachmittags marschierten sie in Gedanken versunken nebeneinanderher. Die Erinnerungsfetzen, die Sam dabei immer wieder von Tordred auffing, fühlten sich mittlerweile fast genauso vertraut an wie seine eigenen. Er hatte sich so lange dagegen gesträubt, seine Gedanken mit Tordred zu teilen, dass er jetzt erst merkte, wie viel stärker und leichter er sich fühlte, wenn er es einfach zuließ.

Lara erwachte schließlich, als die Sonne schon tief über dem Horizont stand. »Warum habt ihr mich so lange schlafen lassen?«, murrte sie und glitt von Tordreds Rücken. »Jetzt ist die beste Zeit zum Jagen.« In einem kleinen, dichten Wäldchen schlugen sie ihr Lager auf. Lara kramte in ihrem Haarschopf und warf Sam etwas zu – ein Stück Feuerstein.

»Mach schon mal ein Feuer, während ich uns was zu essen besorge«, sagte sie. »Die Rüstung des Einhorns müsste reichen, um damit Funken zu erzeugen.«

Sam staunte. »Was hast du denn noch alles dadrin?«

Sie winkte ab und verschwand zwischen den Bäumen.

Tordred lachte wiehernd. Deine Freundin ist ein ziemlich ungewöhnlicher kleiner Mensch.

Woher willst du das bitte wissen?, fauchte Sam, auch wenn das nicht ganz fair war. Schließlich wusste Tordred inzwischen alles, was Sam wusste.

Bald darauf kam Lara mit drei Kaninchen zurück, die sie triumphierend in die Höhe hielt. Sam hatte in der Zwischenzeit trockene Äste aufgeschichtet und ein Feuer entzündet. Lara suchte ein paar scharfkantige Steine, ließ sich auf einem Baumstumpf nieder und fing an, die Kaninchen zu häuten.

»Meins bitte roh«, bemerkte Tordred leicht angewidert. Während Sam und Lara ihre Kaninchen auf Stöcke spießten und übers Feuer hielten, vertilgte das Einhorn seins mitsamt der Knochen. Das Knirschen verursachte Sam eine Gänsehaut.

Trotzdem verspürte er einen Anflug von Neid, als das Gefühl eines angenehm vollen Magens aus Tordreds Gedanken in seinen Kopf sickerte. Sam hatte seit zwei Tagen nichts als Beeren und Nüsse gegessen und merkte auf einmal, was für einen Riesenhunger er hatte. Plötzlich kam ihm die Vorstellung, sein Fleisch roh zu essen, gar nicht mehr so widerlich vor.

Siehst du?, zog ihn Tordred auf. Einfach köstlich.

Sam widerstand dem Drang, einen Tannenzapfen nach ihm zu werfen. Aber er musste zugeben, dass es guttat, endlich mal wieder zu sitzen, vor allem, wenn dabei direkt vor ihm ein gemütliches kleines Feuer loderte. Die dichten Bäume um sie herum boten ein Gefühl von Sicherheit, während die Sonne langsam hinter den Bergen versank und den Himmel in rosafarbenes Licht tauchte. Es kam ihm beinahe so vor, als würde der Boden wohlig summen.

»Aaallllsoooo«, meinte Lara schließlich und sah bedeutungsvoll von einem zum anderen. »Heißt das jetzt, wir sind alle Freunde, oder was?«

»Es ist … kompliziert«, erwiderte Sam.

»Ach ja?« Lara fixierte Tordred mit ihrem Blick. »Er hat sein Leben riskiert, um dein gebrochenes Bein zu heilen. Was übrigens unfassbar dämlich war, ganz nebenbei bemerkt. Und zum Dank dafür hast du zugelassen, dass sie ihn zurück ins Lager schleppen.«

Tordred zog abwehrend den Kopf zurück und blähte die Nüstern. »So war das gar nicht. Ich …«

»Ruhe!«, fauchte Lara.

»Das ist nicht fair«, protestierte Sam. »Er hat uns bei der Flucht geholfen.« Tordred, wir müssen ihr von unserem Band erzählen.

»Ich sagte Ruhe«, zischte Lara. Sie legte ihren Kaninchenspieß weg und schlich zum Rand des Wäldchens. »Hört ihr das? Da kommt jemand.«

Jetzt hörte Sam es auch: entferntes Hufgetrappel. Er ließ seinen Spieß fallen und stieß einen leisen Fluch aus. Lara warf hastig Erde auf das Feuer. Tordred sprang auf und Lara kletterte auf seinen Rücken, dann half sie Sam hinauf. Dabei murmelte sie wütend vor sich hin. »Sie sind uns wahrscheinlich schon die ganze Zeit auf der Fährte. Warum habt ihr mich so lange schlafen lassen? Habt ihr die Anzeichen nicht gesehen?«

Kaum dass Sam sein Bein über Tordreds Kruppe geschwungen hatte, galoppierte das Einhorn los. Sie rasten zwischen den Bäumen hindurch und jeder Hufschlag vibrierte durch Sams ganzen Körper. Da erklang ein fürchterliches Gebrüll – und zwar erschreckend dicht hinter ihnen. Sam drehte sich um und erblickte gerade noch drei Einhörner, die in das Wäldchen gestürmt kamen und mit einem Satz über die Reste ihres Lagerfeuers hinwegsprangen. Tordred schlug wilde Haken, um sie abzuschütteln, doch die Bäume, die überall im Weg standen, und das zusätzliche Gewicht der beiden Menschen auf seinem Rücken behinderten ihn spürbar. Sam hielt sich mit beiden Händen an Lara fest, nahm nun jedoch eine runter und legte sie stattdessen auf Tordreds Flanke, in der Hoffnung, dass die Berührung ihm zusätzliche Kraft verleihen würde.

Es funktionierte. Tordred sprang über einen umgestürzten Baumstamm und beschleunigte. Wir schaffen es! Wir hängen sie ab!, teilte Sam ihm freudig mit.

Aber dann blieb Tordreds Huf an einer Wurzel hängen und er geriet ins Stolpern. Sam verlor den Halt. Hektisch versuchte er, sich an Tordreds Rüstung festzuklammern, aber sie war zu glatt. Während Tordred mit Lara weiterpreschte, stürzte Sam zu Boden.

Seine Schulter schlug als Erstes auf, gefolgt vom Rest seines Körpers. Wenn ihm der Aufprall nicht sämtliche Luft aus den Lungen gepresst hätte, hätte er vor Schreck und Schmerz aufgeschrien. Er rappelte sich mühsam keuchend auf.

Ihre Verfolger kamen immer näher. Ihre Hufe wirbelten den Waldboden auf und von ihren Mäulern tropfte schaumiger Speichel. Sam spürte Tordreds Panik. Als er zu ihm herumfuhr, sah er, wie Tordred abbremste und kehrtmachte.

»Nein!«, schrie Sam Lara und ihm entgegen. »Haut ab! Es bringt nichts, wenn sie uns alle drei erwischen.«

Ich lasse dich nicht im Stich, erwiderte Tordred kurz angebunden und galoppierte unbeirrt auf ihn zu.

»Kannst du vergessen, Stadtjunge«, meinte Lara, als Tordred schlitternd vor ihm hielt. Sie streckte die Hand aus und half ihm auf.

Sam hätte dankbar sein müssen und vielleicht auch verärgert, weil sie nicht auf ihn gehört hatten, aber dafür blieb keine Zeit. Im selben Augenblick hatten die drei Einhörner sie eingeholt. Sie umringten Sam und seine Freunde und kurz darauf folgten noch ein Dutzend weitere. Sam war nicht sonderlich überrascht, dass Bastion den Trupp anführte. Verärgert stellte er fest, dass das weiße Einhorn das Kettenhemd trug, das er für Tordred gemacht hatte.

»Noch mal entkommt ihr uns nicht«, knurrte Bastion. Während er das sagte, zwangen zwei Einhörner Lara zum Absteigen und der Rest der Gruppe schob sich dazwischen, um Sam und Lara von Tordred wegzudrängen.

Er weiß, dass wir schwächer sind, wenn wir getrennt werden, dachte Sam.

Ja, bestätigte Tordred. Klar weiß er das. Vor Sams innerem Auge erschien ein Bild von Sigil, dem alten Einhorn, dem das Horn abgebrochen worden war, weil er sich für das Band zwischen Menschen und Einhörnern ausgesprochen hatte. In dieser Szene trottete das graue Einhorn neben einem kleinen weißen Fohlen her, das bewundernd zu ihm aufsah.

Bastion baute sich vor Tordred auf. An seinem Vorderbein klebte immer noch ein Rest silbriges Blut aus der Wunde, die Tordred ihm zugefügt hatte. »Tordred, Sohn des Auris, du kennst Mavens Befehle. Als Strafe dafür, dass du Schande über uns gebracht und dich auf ein Band mit einem Menschen eingelassen hast, wird dir das Horn abgenommen. Fortan bist du von allen Clans verstoßen.«

»Bastion«, erwiderte Tordred sanft. »Du musst das nicht tun. Du kannst uns einfach gehen lassen. Ich verspreche, die Clans werden uns nie wieder zu Gesicht bekommen. Dein Großvater hätte …«

»Sigil hat die Ideale der Clans verraten. Genau wie du«, entgegnete Bastion eisig. Die anderen Einhörner stampften zustimmend mit den Hufen.

Tordred senkte den Kopf. Die Angst des Einhorns pulsierte durch Sams Adern. »Lass wenigstens die Menschen gehen. Bitte, sie haben nichts …«

Bastion schnaubte bedrohlich. »Aber wenn wir sie gehen lassen, verpasst du ja den ganzen Spaß. Oder willst du etwa nicht dabei zusehen, wie sie den Tod der Tausend Hörner sterben?«

»Tod der Tausend Hörner?«, fragte Lara. Ihre Worte sollten wohl verächtlich klingen, doch ihre Stimme war ungewohnt schrill.

Es war Bastion anzusehen, dass er nur allzu gerne bereit war, es ihr zu erklären. »Das ist eine traditionelle Art der Bestrafung«, antwortete er. »Die Mitglieder des Clans stellen sich im Kreis um den Feind auf und stechen dann so lange mit ihren Hörnern auf ihn ein, bis er sich nicht mehr bewegt.«

Lara wurde kreidebleich. Sam brach der kalte Schweiß aus.

Wir müssen hier weg, schrie er in Gedanken. Was sollen wir tun? Wo sollen wir hin? Doch es kam keine Antwort. Alles, was er empfing, war Tordreds überwältigende Furcht, die sich mit seiner eigenen mischte und nur noch weiter steigerte.

Sie finden unser Band so abstoßend, dachte Tordred mit wachsender Verzweiflung, dass sie nie aufhören werden, uns zu jagen.

»Ich schlage vor, wir fangen mit dir an«, sagte Bastion zu Tordred. »Damit deine Sklavenfreunde dabei zusehen können, bevor sie sterben. Auf die Knie.«

Tordred blieb trotzig stehen, aber Sam sah, wie seine Vorderbeine zitterten. »Lass ihn in Ruhe!«, brüllte Sam und wollte zu Tordred laufen, doch die Einhörner, die Lara und ihn umzingelten, richteten ihre Hörner wie Schwerter auf ihn und versperrten ihm den Weg. Bastion machte eine Kopfbewegung, worauf sich zwei der anderen Einhörner auf Tordred stürzten und ihn in die Knie zwangen. Einer der beiden drückte Tordreds Kopf mit dem Huf auf einen Baumstumpf.

Fump. Ein Pfeil bohrte sich in den Baum neben Bastion.

Alle fuhren gleichzeitig herum. Eine Gruppe bewaffneter Zentauren löste sich aus der Dämmerung. Sie trugen Kapuzen, die sie tief ins Gesicht gezogen hatten, und darunter blitzten Brustpanzer auf. Metallplatten schützten ihre Flanken und sie alle hatten Pfeil und Bogen gezückt. Als sie auf die Einhörner zugingen, tauschten einige von ihnen ihre Bögen gegen Speere aus, die deutlich länger waren als die Hörner ihrer Gegenüber, und richteten sie auf Bastion und seine Truppe.

Sam konnte sich ein erleichtertes Grinsen nicht verkneifen. Die Zentauren werden uns helfen, teilte er Tordred freudig mit.

Ein Zentaur in einem grünen Lederwams trat vor. Seine Hände steckten in silbernen Panzerhandschuhen, die bis zu seinen Ellbogen reichten. Sam konnte sein Gesicht nicht erkennen, bemerkte aber ein Stück von einem akkurat gestutzten schwarzen Bart, der unter der Kapuze hervorlugte. So wie sich die anderen Zentauren um ihn aufbauten, vermutete Sam, dass er ihr Anführer war.

»Was haben wir denn hier?«, fragte der bärtige Zentaur.

»Nichts, was Euch etwas anginge«, knurrte Bastion.

Der Zentaur trat noch einen Schritt vor. »Übergebt uns die beiden Menschen«, verlangte er mit tiefer, befehlsgewohnter Stimme.

Bastion lachte humorlos. »Nein.«

Der Zentaur reagierte nicht auf Bastions Antwort. »Wir benötigen diese Menschen als Schreibkräfte. Ich erwarte, dass Ihr sie uns aushändigt.«

»Wir können lesen und schreiben!«, rief Sam aus dem Gedränge der Einhörner. »Wir werden Euch gut als Schreibkräfte dienen!« Im Stillen dankte er den Sternen für Nerissas Leseunterricht – das hier war ihre Rettung. Er würde Lara lesen und schreiben beibringen und bis dahin ihre Arbeit irgendwie mit übernehmen. Jetzt musste er die Zentauren nur noch überzeugen, auch Tordred zu befreien …

Bastion musterte den Zentauren eine Weile schweigend. Schließlich sagte er: »Ihr könnt das Mädchen haben.« Er knurrte einen Befehl und eins der Einhörner schubste Lara mit dem Kopf zu den Zentauren hinüber.

Die Zentauren wechselten einen Blick. »Wir brauchen mehr als eine«, antwortete der Anführer kühl.

Bastion reckte herausfordernd den Kopf. »Der Junge gehört uns. Er hat Schande über ein Mitglied unseres Clans gebracht und muss für sein Vergehen bestraft werden.«

»Ihr scheint mich immer noch nicht zu verstehen«, entgegnete der Zentaur brüsk. »Ihr seid uns zahlenmäßig unterlegen. Gebt uns den Jungen.«

»Das lassen wir ihm doch wohl nicht durchgehen, oder, Bastion?«, rief eins der Einhörner.

»Nein«, knurrte Bastion und baute sich direkt vor dem Zentauren auf, ohne den Speeren, die auf ihn gerichtet waren, Beachtung zu schenken. »Ganz sicher nicht. Runter von unserem Land. Wir dulden hier keine Menschen. Und auch keine halb menschlichen Missgeburten.«

Die Zentauren in der ersten Reihe schnaubten empört. Die Spitzen ihrer Speere kratzten über Bastions Brustpanzer, doch der Anführer der Zentauren hob die Hand und bedeutete ihnen, sich zu beruhigen. »Wir nehmen die beiden so oder so mit«, verkündete er gelassen.

»Das ist ja wohl klar«, höhnte einer der Zentauren. »Diese sklavenhaltenden Barbaren schlagen wir doch mit links.«

Bastion stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus und ging zum Angriff über. Der Anführer der Zentauren nickte bloß und machte eine ausholende Bewegung mit beiden Armen, worauf die zentaurischen Soldaten unter lautem Kampfgeschrei losstürmten. Bastion schlug mit seinem Horn einen Speer zur Seite. Noch ehe Sam auch nur einen Schritt machen konnte, wurde er von dem Einhorn, das ihn bewachte, rückwärts gegen einen Baum geschoben.

»Du gehst nirgendwohin, Mensch«, knurrte es.

Über seine Kruppe hinweg sah Sam, dass die Einhörner, die Tordreds Kopf auf den Baumstumpf gedrückt hatten, ihn losließen und sich ins Kampfgetümmel stürzten. Taumelnd richtete Tordred sich auf, wich einige Schritte zurück und blickte sich nach Sam um.

Lauf weg, solange sie abgelenkt sind!, drängte Sam ihn. Lara und ich sind bei den Zentauren sicher. Lauf!

Ich kann nicht ohne dich gehen!, erwiderte Tordred. Seine Augen waren weit aufgerissen und er klang fast panisch. Sam verstand ihn nur zu gut, denn es ging ihm genauso. Auch er wusste nicht, ob er es ertragen würde, von Tordred getrennt zu sein.

Das ist unsere einzige Chance. Nur so werden wir alle überleben!, fauchte Sam und vor lauter Verlustangst wurde er gereizt und ungeduldig. Jetzt verschwinde schon. Wer weiß, ob du noch einmal die Gelegenheit dazu bekommst.

Tordred tänzelte seitwärts und wich zwei Einhörnern aus, die mit einem Zentauren rangen. Ich komme zurück und finde dich. Das schwöre ich.

Geh!, drängte Sam.

Tordred warf ihm über die Lichtung hinweg einen verzweifelten Blick zu. Dann schlug er den Speer eines Zentauren beiseite, rammte ein Einhorn aus dem Weg, das ihn aufhalten wollte, und galoppierte los. Binnen kürzester Zeit war er zwischen den Bäumen verschwunden wie ein Schatten in der Nacht.

»Tordred ist entkommen! Ihm nach!«, schrie Bastion. Drei riesige Einhörner lösten sich aus dem Kampfgetümmel und preschten hinter dem schwarzen Einhornhengst her.

Sie sind hinter dir her!, versuchte Sam, ihn zu warnen, aber es fühlte sich bereits an, als würde er in einen tiefen Brunnenschacht hineinrufen. Durch Tordreds Augen nahm er vorbeirauschendes Geäst wahr und dazwischen blitzten immer wieder Bilder der hinterherjagenden Einhörner auf. Sie befanden sich zwar noch in einem gewissen Abstand zu Tordred, aber doch waren sie nah genug dran, dass ihr blutrünstiges Grinsen zu erkennen war. Sam spürte Tordreds hämmernden Herzschlag, als wäre es sein eigener. Er war so in Tordreds Flucht vertieft, dass er kaum mitbekam, wie das rotbraune Einhorn, das ihn bewachte, beiseitegestoßen wurde und ein Zentaur – einer der Bogenschützen – ihn am Handgelenk packte.

»Komm mit«, sagte der Zentaur, dessen Gesicht Sam unter der Kapuze nicht erkennen konnte.

Er führte ihn zu Lara hinüber, die mit zwei weiteren Bogenschützen etwas entfernt stand. Die Zentauren hatten die verbliebenen Einhörner inzwischen mit ihren Speeren zu einem dicht gedrängten Grüppchen zusammengetrieben – jedenfalls die, die noch aus eigener Kraft stehen konnten. Ihr Anführer, der anscheinend nicht mal sein Schwert gezogen hatte, wischte sich einen silbrigen Blutfleck vom grünen Lederwams und stieg über den reglosen Körper eines großen braunen Einhorns hinweg.

»Ihr verschwendet Eure Zeit«, knurrte er den Einhörnern zu. »Ihr solltet an der Seite Eures Clans für Cavallon kämpfen. Geht nach Westen und schließt Euch der Armee an. In dem Fall wäre ich geneigt, diese … kleine Unannehmlichkeit hier zu vergessen.«

Bastions weißes Fell war ebenfalls voller Blutflecken – roten und silbernen. Er schnaubte verächtlich. »Wir empfangen unsere Befehle von Maven, der Anführerin des Eisenhufclans. Nicht von stehlenden Missgeburten. Aufstellung!«, rief er den verbliebenen Einhörnern zu. »Zurück ins Lager, Marsch!«

Sie donnerten durch die Bäume davon.

Wenig später brachen auch die Zentauren auf und nahmen Sam und Lara mit. Lara sah sich unterwegs immer wieder um. Als sie schließlich den Waldrand erreichten und klar war, dass die Einhörner nicht umdrehen und sie angreifen würden, war sie außer sich vor Erleichterung.

»Nicht zu fassen!«, rief sie dem groß gewachsenen, gescheckten Zentauren an ihrer Seite zu. »Ihr seid genau im richtigen Moment aufgetaucht. Ganz ehrlich, ich dachte schon, das war’s. Und jetzt werde ich Schreiberin! Kann’s kaum erwarten!« Sie strahlte den Zentauren an, doch der ignorierte sie. Sam ließ den Blick unauffällig über die anderen Zentauren schweifen. Ihre Gesichter waren nach wie vor hinter Kapuzen verborgen, und seit sie losgelaufen waren, hatten sie noch kein Wort an Sam oder Lara gerichtet. Sie sind ganz anders als Bodor und Nerissa, dachte er.

Lara stupste Sam an. »Kannst du echt lesen?«, flüsterte sie.

Er nickte geistesabwesend, während er seine Gedanken zurück in den Wald sandte und versuchte, irgendeine Spur von Tordred aufzufangen. Bist du entkommen?, fragte er ihn. Wo willst du hin? Es war nicht leicht, sich aufs Laufen zu konzentrieren, wenn ein Teil von ihm ganz woanders war.

»Ich nicht«, hauchte Lara so leise, dass sie kaum zu hören war. »Wenn sie das rauskriegen, wollen sie mich vielleicht nicht mehr. Ich haue bei der erstbesten Gelegenheit ab.«

»Mhmmm«, antwortete Sam. Das war alles, was er herausbekam. Der Schmerz über Tordreds Verlust war so groß, dass er ihm die Kehle zuschnürte.

Lara flüsterte unbeirrt weiter auf ihn ein und entwarf einen Fluchtplan nach dem anderen, doch nichts davon drang bis zu ihm durch.

Eines Tages werde ich dich wiederfinden, Tordred, dachte er, aber es kam keine Antwort.