»Bedingungslose Liebe ist ein Hirngespinst«, sagte Rosie zu ihrem Spiegelbild, »bedingungslose Liebe ist eine Lüge, die dir vorgaukelt, dass du jemanden aus der Ferne lieben kannst, jemanden, der deinen Blick niemals auch nur erwidert, und dass es in Ordnung ist; dass es rein, tugendhaft und edel ist. Aber es ist eben nicht okay. Es ist ein verdammtes Hirngespinst!«
Sie war dreiundzwanzig und somit vielleicht im besten Alter, sich von ihren jugendlichen Träumen und herben Desillusionierungen zu verabschieden. Ihre Eltern, die zu den Elfenwesen gehörten, behaupteten, in der Anderswelt habe Alter kaum eine Bedeutung, aber hier auf Erden, wo sie immer gelebt hatte, zählte es doch. Also war es an der Zeit, sich einzugestehen, dass sie sich nicht zu wundern brauchte, dass ihr Herz wund war und schmerzte, wenn sie es weiterhin jemandem darbot, der ihr die kalte Schulter zeigte. Zeit, erwachsen zu werden.
Das Gesicht in ihrem Frisiertischspiegel war von trügerischer Gelassenheit: Ein weiches Oval mit hellen silbergrauen Augen, durch Kajal und pflaumenfarbenen Lidschatten betont, markanter Nase und Mund, gerahmt von glänzenden burgunderbraunen Haaren, die auf ihre Schultern herabfielen. Man hatte ihr schon oft gesagt, sie habe etwas von einer präraffaelitischen Schönheit, aber sie fand sich zu klein und normalerweise auch zu unordentlich von der Gartenarbeit, als dass sie irgendeine Art von Sirene abgegeben hätte.
Hübsch oder unscheinbar? Das hing davon ab, wer sie betrachtete. Mensch oder Elfenwesen? Unmöglich zu entscheiden. Es war einfach nur ihr vertrauter Anblick. Überraschend ruhig nach allem, was sie miterlebt hatte. Dann war dies also das Gesicht einer jungen Frau, die wusste, dass es an der Zeit war, alle romantischen Trugbilder über Bord zu werfen und eine praktische, erwachsene Entscheidung zu treffen.
Das Fenster hinter ihr rahmte das üppige Grün des Gartens. Die Eichen draußen schwankten gelassen, ohne sich um den leisen Zusammenbruch ihrer Welt zu kümmern.
»Warum ist für uns alles aus dem Ruder gelaufen?«, fragte sie. »Lag es daran, dass die Großen Tore sich geschlossen haben, oder muss dieses Ereignis nur als bequemer Sündenbock für alles herhalten?«
Mit einer Fingerspitze berührte sie die Narbe an der Seite ihres Halses, ein dünnes rötliches Mal, so lang wie ein Finger. Nach so vielen Jahren ist es noch immer da. Eigentlich dachte sie kaum mehr daran, aber aus irgendeinem Grund störte es sie heute. Sie drapierte eine Haarlocke darüber.
Rosie sah sich in dem Schlafzimmer um, das immer ihres gewesen war, mit seinem gemauerten Kamin und der sirupfarbenen Holzverkleidung, dem dicken cremefarbenen Teppich und dem antiken Doppelbett. Auf diesem Bettüberwurf, überlegte sie wehmütig, hätte ich mit einem Dämonenprinzen wilden Sex haben sollen – hatte sie aber nie. Hinter der Tür zu ihrem Kleiderschrank hatte sie einst einen geheimen Durchgang zu einer Kammer entdeckt, in der ein Zauberbaum wuchs, dessen Wurzeln die Dielenbretter durchbrachen. Kein Traum, sondern eine Manifestation der Elfenwirklichkeit.
Die Schattenreiche waren immer so flüchtig und launisch wie Wellen gewesen. Doch in letzter Zeit tauchte sie kaum noch darin ab. Verblasste das Elfenreich für diejenigen, die sich von ihm abgewandt hatten? Oder wandte sie sich ab, weil sie es nicht ertrug, es dahinschwinden zu sehen?
Rosie wusste es nicht mehr.
Lustlos öffnete sie eine alte Flasche Nagellack und begann sich ihre Fingernägel anzumalen. Der Lack war von dunkler, changierender Farbe, die an eine Pfauenfeder erinnerte. Bei der Arbeit wanderten ihre Gedanken zu ihrem Bruder Matthew. Hatte er recht mit seiner Behauptung, es sei an der Zeit, die Anderswelt zu vergessen, da diese für sie ohnehin verloren war? Zu akzeptieren, dass sie zwar das Geburtsrecht ihrer Eltern war, aber nicht das ihre? Alles, selbst die Schattenreiche, aufzugeben wie einen Traum? Wir müssen nach vorne schauen, insistierte er, und voll und ganz in der Welt der Sterblichen leben.
Die Entscheidung zu treffen, Matthews Weg zu gehen, hing wie ein Fallbeil über ihr. Doch der andere Weg führte in Nebel und Dunkelheit und hatte ihr bisher nur Tränen eingebracht.
»Worauf warte ich noch?«, murmelte sie.
Eine Erinnerung tauchte auf. Sie war noch sehr jung gewesen, fünf oder sechs. Sie spielte im Garten … entdeckte das unschuldige Wunder der Schattenreiche, mit einem Schritt in eine Welt einzutauchen, die wie diese war, aber wie unter Wasser und voller Geheimnisse … bis Hände sie an den Schultern packten und sie zurück in die wirkliche Welt zogen und Matthew sie anschrie, als hätte er sie einer Gefahr entrissen.
Ihre Angst und ihre Verwirrung waren noch immer sehr präsent. Bis zum heutigen Tag wusste sie nicht, warum er so wütend gewesen war. Es war das erste Mal gewesen, aber nicht das letzte … Matthews Warnungen hatten sie nicht aufhalten können. Vielleicht wusste er ja doch mehr als sie.
Rosie lehnte sich zurück und betrachtete den Glanz ihrer lackierten Nägel. Jeder Nagel sah anders aus – blau, grün, violett – und jeder veränderte sich im Licht, schimmerte magenta- oder bronzefarben. Sie sah sich die Flasche genauer an. Die Farbe hieß Zeitgeist. Also war der Geist des Zeitalters schwer zu fassen. Vielfarbig. Flüchtig.
»Das passt«, sagte sie laut.
»Rosie?« Lucas, ihr jüngerer Bruder, steckte den Kopf durch die Tür. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Er schien besorgt zu sein. »Komm rein«, sagte sie lächelnd und zeigte ihm ihre irisierenden Fingernägel. »Das sind wir, genauso sind wir.«
»Was sind wir?«
Sie bewegte ihre Hand, um ihm den Farbwechsel zu demonstrieren. »Elfenwesen sind genauso. Keiner sieht uns so, wie wir wirklich sind.«
Lucas sah sie mit einem schiefen Lächeln an und setzte sich dann im Schneidersitz auf das Bettende. Mit seinen einundzwanzig Jahren war er ein dunkelhaariger, gut aussehender Mann mit langen Gliedmaßen wie ein Hengstfohlen. Von seiner Anwesenheit ging etwas Beruhigendes aus. Von allen aus ihrer Familie – und trotz des Streits, den sie zuvor mit ihm gehabt hatte – stand er ihr am nächsten. »Sag ehrlich, bist du noch immer wütend auf mich?«
Sie seufzte. »Nein, natürlich nicht.«
»Es tut mir wirklich leid«, sagte er. Aber du sollst hier nicht herumsitzen und vor dich hin brüten, Rosie.«
»Ich brüte nicht.«
»Was machst du dann?«
»Ich stehe am Scheideweg. Überlege, welche Richtung ich einschlagen soll. Denke über alles nach, was geschehen ist, und mache mir klar, dass ich mich davon entfernen muss.«
»Und?«, fragte er ängstlich. »Na los, sag schon, woran du denkst.«
Rosie strich ihr Haar beiseite und berührte die Narbe an ihrem Hals. »An den Tag, der mir das hier einbrachte.« Sie atmete ein und aus. »An die Wilders. Was meinst du, werden wir jemals ganz frei von ihnen sein?«
Es folgte eine lange Pause. Lucas sah sie mit leicht gerunzelter Stirn unverwandt an. »Möchtest du das denn?«