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Ein Stier

»Ich weiß nicht, warum Dad uns das nicht schon früher erzählen konnte«, sagte Lucas. Die Weihnachtsferien waren vorbei und er und Rosie liefen, mit ihren Schultaschen auf dem Rücken, Hauchwölkchen von der Kälte vor ihren Mündern, an der Straße entlang zur Bushaltestelle. Es war ein bitterkalter Wintertag und auf den Hecken glitzerte Raureif.

»Nun, wenn es keine Erwachsenengeheimnisse zu lüften gäbe, dann hätten wir doch nichts mehr, worauf wir uns freuen können, oder?«, konterte Rosie. »Sie glauben, uns auf diese Weise zu beschützen.«

»Nach dem Motto, wenn sie uns nicht erzählen, was für unheimliche Dinge uns da draußen erwarten, werden wir es nie herausfinden? Aber das werden wir sowieso. Es gibt Dinge in Stonegate, denen willst du nachts nicht begegnen.«

»Ich weiß«, sagte Rosie düster. »Uns bleiben also noch immer die Schattenreiche, denn sie sind Teil der Erde, Teil von uns … aber richtig in die Anderswelt gehen, können wir nicht. Ich will mich aber nicht damit abfinden, dass wir Elysium nie zu sehen bekommen.«

»Erinnerst du dich noch, was Matthew für einen Aufstand machte, wenn wir vor ihm in die Schattenreiche eintauchten?«, sagte Luc. »Es mag ja gefährlich sein, aber er kann uns doch nicht ewig beschützen.«

»Matt sagt, in der Menschenwelt spielt es keine Rolle, ein Elfenwesen zu sein. Es hindert uns bloß daran, richtig daran teilzuhaben.«

»Ach wirklich?« Lucas kickte einen gefrorenen Kieselstein weg. »Warum können wir nicht gleichzeitig Menschen und Elfenwesen sein?«

Rosie stieß eine Hauchwolke aus. »Vermutlich ist Dad diesbezüglich sogar einer Meinung mit ihm. Als wollte er sagen, zerbrecht euch wegen der geschlossenen Tore nicht eure kleinen Köpfe, das soll nicht unsere Sorge sein.«

»Aber das ist es doch«, erwiderte Luc mit gerunzelter Braue.

Sie hatten die enge Kurve der Straße erreicht, an deren Innenseite sich stolz Rosies Lieblingsbaum erhob, eine prächtige Eiche mit mächtigem Umfang und hohem Alter. Man nannte sie die Alte Eiche. Rosie blieb stehen, um hoch in ihr von Frost überzogenes Geäst zu schauen. Zweifel plagten sie. Sie vertraute ihren Eltern – aber wenn Matt nun recht hatte und sie in der Vergangenheit lebten und es tatsächlich einen zwingenden Grund dafür gab, sich von ihren Ursprüngen loszusagen und der Menschenwelt zu öffnen, weil diese … wirklicher war?

»Ich liebe diesen Baum«, sagte sie. »Er sieht aus, als stünde er schon tausend Jahre hier und hätte alles gesehen.«

»Komm, Rosie, geh weiter, wir verpassen sonst den Bus.«

Lucas ging weiter, aber sie zögerte. Zwischen den Ästen sah sie ein Gesicht, das zu ihr herabschaute. Ein kleines herzförmiges Gesicht, moosgrün, mit zotteligem Blätterhaar.

»Nun komm schon, Kleine«, sagte die grüne Frau. »Klettere hoch zu mir. Ich muss dir etwas sagen.«

Rosie trat einen Schritt zurück. »Ich kann nicht«, sagte sie erschrocken.

»Du bist früher schon hinaufgeklettert. Ich habe dich gesehen.«

»Ich weiß, aber es ist glatt … und ich habe keine Zeit …«

Die Dryade rutschte kopfüber am Stamm herab, bäumte sich wie eine Schlange hinter einem Ast auf und schob ihr Gesicht dicht an das von Rosie heran. Sie war halb durchsichtig, geschmeidig. »Ich will kein Blut an meinem Baum haben«, zischte sie.

Erschrocken wich Rosie zurück. »Ich liebe deinen Baum, Grüne Frau, niemals könnte ich ihm etwas antun.«

»Das weiß ich, aber ich sehe Blut und gebrochene Gliedmaßen.« Die krächzende Stimme der Dryade klangt heftig. Gesehen hatte Rosie Elementargeister schon öfter, aber dies war das erste Mal, dass einer mit ihr sprach. »Sorg dafür, dass sie mit ihrem Blut nicht meinen Baum besudeln! Das verbitte ich mir!«

Rosie rannte weg. Die Dryade kam hinter ihr her und packte sie am Blazer und an den Haaren. Lucas war schon ein ganzes Stück weiter, schon fast an der Kreuzung mit der Hauptstraße. Sie sah ihre Freundinnen an der Bushaltestelle, hörte das Rumpeln des Ashvale-Busses. Die kalte Luft brannte in ihrer Kehle, als sie losrannte, bis sie den klammernden Nebel abgeschüttelt hatte, mit dem die Finger der Grünen Frau sie festhielten.

Später saß sie mit Faith und Mel auf einer Mauer unter der Rosskastanie am Rande des Schulhofs. Sie trugen Handschuhe und Schals, ihre Beine waren violett gefleckt. Perlgrauer Reif überzog die Zweige, Pfützen waren zu klirrendem Eis gefroren.

»Deine Erklärung, warum du während der Party verschwunden bist, ist das Verrückteste, was ich je gehört habe«, sagte Mel belustigt, aber skeptisch.

»Ach, Dad sagte, es sei so eine Art, äh, Nachbarschaftsstreit.« Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Um ihre alleingelassenen Freundinnen zu beschwichtigen, hatte sie ihnen vom Zusammenstoß mit Sam und von der merkwürdigen Vaethyr-Versammlung erzählt. Für sie war es ganz selbstverständlich, sich ihnen anzuvertrauen – vor allem die Sache mit Jon –, aber Rosie wusste, dass es sich wunderlich anhören musste. Also machte sie jetzt einen Rückzieher, damit es weniger verrückt klang. »Aber er wollte uns nicht viel darüber erzählen.«

»Manchmal behalten Eltern Dinge eben für sich«, sagte Mel, »da kann man nichts machen.«

»Oh, ich wünschte, meine würden mal was für sich behalten«, sagte Faith kaum hörbar. »Wenn sie sich streiten, bekommt es gleich die ganze Straße mit. Über Weihnachten war es wieder grässlich.« Sie ließ den Kopf hängen. Faiths Familienleben war schwierig: ein verwahrlostes Zuhause, kein Geld, eine Mutter und ein Vater, die tranken und sich wie Dämonen bekämpften und manchmal sogar nächtelang verschwanden und es Faith überließen, für ihre beiden jüngeren Schwestern zu sorgen. Die anderen klopften ihr kameradschaftlich auf die Schulter.

»Bist du dir sicher, dass du nicht ein bisschen zu viel Punsch getrunken hattest, Rosie?«, zog Mel sie auf. »Mir und Faith ist auf der Party nichts Seltsames passiert.«

»Gut möglich.« Rosie nickte. »Das ist es, ich war betrunken.«

»Sag das nicht«, warf Faith ein. »Mir gefällt die Vorstellung von Menschen mit Tierköpfen und einem wunderschönen Jungen, der ein Gedicht vorträgt. Es war unheimlich dort, aber man konnte die Magie förmlich schmecken. Wir haben die Masken doch selbst gesehen, Mel.«

»Hm. Klingt aber noch immer nach Blödsinn.« Mel lächelte in sich hinein und ließ ihren Blick über den Schulhof schweifen, wo Teenagergrüppchen niedergeschlagen umherschlurften und sich in die kalten Hände hauchten. »Komisch, dass diese merkwürdigen Ereignisse immer nur dir zu passieren scheinen, Rosie.«

Mel sagte dies zwar mit einem Augenzwinkern, aber Rosie war dennoch niedergeschlagen. »Ich habe es mir nicht ausgedacht, ehrlich«, sagte sie, beschloss aber, nichts von der Dryade zu erzählen, die ihr erst heute Morgen solche Angst eingejagt hatte.

»Die Cloudcroft-Mafia«, sagte Mel. »So nennt meine Mum Leute wie Lawrence Wilder, die Lyons und die Tullivers und den ganzen Haufen. Sie stolzieren herum, als gehöre ihnen das ganze Dorf. Sie halten sich für was Besonderes, aber sie sind einfach nur viel zu reich. Nichts gegen deine Leute, Ro, die sind großartig – aber einige der anderen …« Sie schüttelte den Kopf.

»So ist es aber nicht. Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, aber sie versuchen nur, alte Traditionen am Leben zu erhalten, wie zum Beispiel … Kornisch zu sprechen«, sagte sie wenig überzeugend.

Mel zog die Brauen hoch. »Dann bist du jetzt also aus Cornwall?«

»Äh. Nein. Das war nur ein Beispiel.«

»Ich weiß, was dahintersteckt«, meldete sich Faith zu Wort. »Rosie muss es geheim halten, aber es gibt Leute im Dorf, die anders sind, eine geheimnisvolle ältere Art, die menschlich aussieht, aber die Gestalt verändern und sich in andere Welten begeben kann. Sie werden Luftwesen genannt.«

»Elfenwesen«, korrigierte Rosie sie automatisch. Dann hielt sie inne, weil sie sich sicher war, es noch nie so offen ausgesprochen zu haben. »Wo hast du das denn gehört?«

»Ich weiß es nicht.« Faith errötete. »Entschuldige, ich sag nichts mehr. Aber wenn es wahr wäre, fände ich das schön.«

»Dann ist unsere Rosie also ein verflixter kornischer Elf«, rief Mel aus. »Na super. Ich liebe euch beide, aber ihr seid ganz schön grenzwertig. Können wir bitte über was Normales reden?«

»Von mir aus«, sagte Rosie.

»Ich meine, deine Eltern sehen genauso menschlich aus wie alle anderen. Okay, Lawrence Wilder ist auf unheimliche Art eine ziemlich umwerfende Erscheinung, aber doch ein Mensch. Und er sieht auch aus, als wäre bei ihm alles am richtigen Platz, wenn ihr wisst, was ich meine.«

Das brachte sie alle zum Lachen. »Du hältst doch jeden für umwerfend«, sagte Faith.

Mel antwortete nicht. Sie war plötzlich völlig aufgedreht, rutschte nach vorne und stützte sich mit ihren Händen an der Mauerkante ab. »O mein Gott!«, flüsterte sie mit Blick auf die Schultore.

Dann sah es auch Rosie. Ihr fiel die Kinnlade herunter. Fassungslosigkeit, Aufregung und Panik erfassten sie gleichzeitig.

Jonathan und Samuel Wilder streiften über den Schulhof, wachsam und raubtierhaft wie zwei dunkle Panther, die man aus ihrem Käfig gelassen hatte. Sie trugen die Schuluniform aus schwarzer Hose und Jackett, weißem Hemd und schwarz-silbern gestreifter Krawatte. »Ich glaub es nicht«, sagte sie.

Mel lachte. »Mach den Mund zu, Rosie, sonst sabberst du noch Eiszapfen.«

Rosies Zähne begannen vor Kälte wehzutun. Sie klappte den Mund zu und biss sich dabei versehentlich auf die Zunge, was ihr Tränen in die Augen trieb. »Verdammt«, sagte sie, als ihr wieder einfiel, dass sie atmen musste. »Verdammt.«

Die Glocke ertönte und durchgefrorene Schüler strömten zum Schulgebäude zurück. Jon und Sam, die sich mittreiben ließen, würden bald an der Mauer vorbeikommen, auf der Rosie saß. Einen Moment lang verschwanden sie hinter den anderen Schülern. Als sie wieder auftauchten, hatte Sam sich ein paar Jungs der Abschlussklasse angeschlossen, und Jon war allein und kam direkt auf sie zu.

Ihr Puls ging schneller. Ihre Augen trafen sich, lösten sich, trafen sich wieder. Er hielt inne, als wüsste er nicht, was er tun sollte. Mel stupste sie in die Hüfte, und das Nächste, an das sie sich noch erinnern konnte, war, dass sie auf ihren Füßen vor ihm stand.

Er hatte sein langes Haar im Nacken zusammengebunden und sah noch schöner aus, als sie ihn in Erinnerung hatte: ein perfekt geformtes Gesicht, dunkle Augen mit dichten Wimpern und ein sinnlicher Mund. Ihr Herzschlag ließ ihren ganzen Körper erbeben, als er sich näherte. Sie hatte immer geglaubt, sich zu verlieben sei wunderbar, keiner hatte sie davor gewarnt, dass es auch schmerzhaft beschämend sein konnte. Ihre noch immer tränenden Augen ließen auch ihre Nase laufen, während ihr Mund wie zugeklebt war.

Jon sah sie mit leicht erschrockener »Kenn ich dich?«-Miene an, womit sie nicht gerechnet hatte. Dies war einer der Momente, in denen man sich wünschte, man könnte im Erdboden versinken.

»Hi, ich bin Rosie.«

Er sah sie verwundert an. »Rosie …?«

»Wir wohnen ein Stück weit unter euch am Berg.« Ihre Zunge fühlte sich schwerfällig an. »Wir sind uns auf der Party begegnet, erinnerst du dich?«

»Äh … ja, du kommst mir wirklich bekannt vor«, sagte er, sah sie dabei aber immer noch verdutzt an.

Wie kam es, dass er sich nicht an sie erinnerte, wo sie doch seitdem wie besessen von ihm war? Ihre Finger beschrieben eine Schnauze vor ihrem Gesicht. »Mit der Fuchsmaske.«

»O ja, ja.« Endlich dämmerte es ihm. »Rosie Fox. Natürlich.«

»Genau«, lachte sie erleichtert. »Mein Vater kennt deinen … Egal … dein Gedicht hat mir sehr gefallen.«

»Ich habe es nicht selbst geschrieben. Es war ›Das Lied von Amergin‹.«

»Äh, ich weiß, ich meinte auch die Art und Weise, wie du es vorgetragen hast.«

»Danke.« Sein Blick schweifte ab – auf der Suche nach Sam, wie sie vermutete. Er machte es ihr wirklich nicht leicht.

»Ich dachte, du gehst auf ein Internat«, mühte sie sich weiter. »Wieso bist du hier?«

»Äh«, sagte Jon und schaute auf seine Füße. »Wir waren auf dem Internat. Dad hat beschlossen, uns runterzunehmen und stattdessen auf diese Schule hier zu schicken.«

»Oh«, sagte sie und fand es außergewöhnlich, dass Lawrence offenbar auf den dahingesagten Rat ihres Vaters gehört hatte. »Und findest du das schlimm?«

»Das weiß ich noch nicht.« Sein anmutiges Gesicht und sein weich fallendes Haar lösten in ihrem Inneren ein Chaos aus. Er blickte sie mit diesen schmelzenden braunen Augen an, als wollte er ihr etwas Entscheidendes anvertrauen, und würde es auch tun, wenn sie nur sein Vertrauen gewinnen könnte.

»Was sind deine Lieblingsfächer?«

»Äh … Englisch ist okay und Biologie … Ich sollte dann mal besser gehen. Und er begann sich von ihr abzuwenden, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf gesenkt. Und da flammte ein kleiner Funke Mut in ihr auf, und einer Eingebung folgend ging sie ihm nach.

»Könntest du mir einen Gefallen tun, Jon?«

Er blieb stehen und erwiderte ihren Blick wieder mit wachsamer Verwunderung. »Ich denke schon.«

»Dein Bruder Sam hat was von mir.«

»Was denn?«

»Frag ihn«, sagte sie mit mehr Zuversicht. »Er wird es wissen. Es ist nichts Großes, für mich aber wichtig. Könntest du es ihm bitte abnehmen und es bei mir zu Hause vorbeibringen? Bitte! Wenn du Zeit dazu hast.«

Er sah sie erst verdutzt an, doch dann erhellte ein kleines Lächeln sein Gesicht. Ihr Herz machte einen Hüpfer wie ein begeistertes Lamm. »Ja, in Ordnung. Kein Problem. Bis später.«

»Ich habe alles herausgefunden, den ganzen Klatsch

Mels Worte kreisten in Rosies Kopf, als sie mit Lucas nach Hause trottete. Unter ihren Füßen quatschte das feuchte Gras und geisterhafte Wolken brachten die Dämmerung zum Leuchten. Schnee lag in der Luft, das roch sie. Ängstlich schielte sie zur Alten Eiche hinüber, als sie daran vorbeikamen, aber nichts regte sich.

»Dann denkst du also, dass was Wahres dran ist?«, fragte Lucas.

»Was hast du denn gehört?«

»Alles Mögliche. Die Kids in meiner Klasse haben den ganzen Tag von nichts anderem gesprochen. Sam ist aus seiner vornehmen Schule rausgeflogen, weil er sich geprügelt hat«, sagte Lucas. »Es sind allerdings so viele Gerüchte im Umlauf, dass ich nicht weiß, was ich glauben soll.«

»Sam ist über drei Jungs hergefallen und hat sie krankenhausreif geschlagen«, erklärte Rosie nüchtern. »Das ist die Wahrheit.«

»Wie hast du das herausgefunden?«

»Das war natürlich Mel. Ihre Mutter hat Quellen. Sam hatte bereits zig Ermahnungen.«

»Wow.«

»Ich hoffe, ich höre da keine Bewunderung in deiner Stimme.«

»Nein, nein«, schob Luc rasch nach. »Aber warum hat unsere Schule ihn dann aufgenommen?«

»Was glaubst du wohl? Lawrence schwimmt im Geld. Deshalb hat die Schule sich auch so lange Zeit gelassen, bis sie ihn rausgeworfen hat, und deshalb war unsere auch so wild darauf, ihn aufzunehmen. Geld

Lucas streifte sie mit einem beredten Seitenblick voller Abscheu. »Eins weiß ich. Keiner wagt es, Sam irgendwas ins Gesicht zu sagen. Alle habe fürchterliche Angst vor ihm.«

Sams unpassende Anwesenheit und Jons quälender Anblick hatten sie in eine merkwürdige Stimmung versetzt. Fast so, als hätte mit ihnen bereits die wirre Atmosphäre von Stonegate Manor in der Schule Einzug gehalten. »Ich habe keine Angst vor ihm«, sagte sie.

»Tapfere Rosie. Dann habe ich auch keine Angst.«

»Gut«, sagte sie, »denn sollte er dir auch nur ein Haar krümmen, bringe ich ihn um.« Beruhigend tauchte Oakholme hinter dem Gespinst der Winterbäume auf. Nach einer kurzen Pause fragte Rosie: »Magst du Jon eigentlich, Lucas?«

»Der scheint in Ordnung zu sein«, kam prompt die Antwort. »Aber noch kenne ich ihn nicht. Ist ein bisschen still. Wenn wir in derselben Jahrgangsstufe wären, könnten wir uns vielleicht gemeinsam vom Sportunterricht drücken.«

Eine Stunde später, als Rosie aus ihrem Zimmer nach unten kam, hörte sie ihre Mutter in der Küche mit jemandem sprechen. Ihr Herz hüpfte. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt Jeans und ein weinfarbenes Samttop, hatte sich das Haar so lange gebürstet, bis es glänzte … für den Fall, dass Jon käme.

Ruhig ging sie den Flur hinunter auf den Lichtschein zu, der aus der Küche kam, und sah ihre Mutter dort am warmen Aga-Herd lehnen, das Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie lächelte und plauderte mit jemandem, der von der Tür verborgen war. Rosie biss sich auf ihre Unterlippe, damit diese röter wurde, schluckte und trat dann lässig ein.

Doch der junge Mann, der am Landhaustisch saß, war nicht Jon, sondern Sam. Auch er hatte seine Schuluniform gegen Jeans und einen grauen Zopfpullover getauscht, wirkte viel älter als seine siebzehn Jahre und absolut engelsgleich.

Unter Rosies Füßen bebte die Erde.

»Hallo Liebling«, sagte Jessica. »Du hast Besuch bekommen. Kann ich euch allein lassen, ich habe oben noch was zu erledigen? Das Wasser hat schon gekocht.« Und weg war sie, wartete nicht, bis Rosie antwortete, geschweige denn sie bat zu bleiben. Sam stand auf, ging zur Küchentür und schloss diese ganz beiläufig.

»Hi«, sagte er.

»Würdest du bitte gehen?« Rosie stand steif und feindselig mitten im Raum.

»In einer Minute. Jon sagte, du –« Sams Schultern waren reumütig hochgezogen und seine Augen waren ernst, ohne einen Anflug von Spott. Er streckte ihr eine geschlossene Hand entgegen. Als sie nicht darauf reagierte, legte er einen Gegenstand auf den Tisch. Man hörte ein wasserfallartiges leises Klimpern, dann lag, an seiner Kette hängend, ihr glänzender Kristallanhänger vor ihr. »Du hast danach gefragt, also …«

»Ich dachte, er würde ihn mir selbst bringen.« Die Worte, die ihre Bestürzung verrieten, kamen ihr ungewollt über die Lippen. Innerlich stöhnte sie. Verdammt, verdammt.

Sams Augenbrauen zuckten. »Verstehe.« Er seufzte, trat von einem Bein auf das andere und schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Tut mir leid, dass ich dich enttäusche, aber es schien ihm nichts auszumachen, als ich ihm anbot, an seiner statt zu kommen. Ich habe übrigens die Kette repariert. Hör zu, Rosie …«

Wütend und hilflos stand sie mit verschränkten Armen vor ihm.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Wirklich und aufrichtig leid. Wir hatten einen denkbar schlechten Start.«

»Das sehe ich nicht so«, sagte sie. »Für mich sah es so aus, als hättest du genauso angefangen, wie du weitermachen wolltest.«

»Nein, nein, habe ich nicht. Ich bin ein Idiot. Ich möchte es wiedergutmachen.«

Ihr freundliches Naturell hätte ihm seine Entschuldigung gern abgenommen, aber sie erinnerte sich an den blauen Fleck, den er auf der Party an ihrem Arm hinterlassen hatte, und an seine sadistische Freude, sie zu quälen. »Du könntest es mal mit einer Erklärung versuchen, warum du die Schule gewechselt hast«, sagte sie steif. »Ich hab da was von gewalttätigen Schikanen und schwerwiegender Körperverletzung gehört.«

»Wer hat dir das erzählt?«

»Wer erzählt das nicht?«, konterte sie.

Er wandte sich von ihr ab und sagte mit leiser, aber entschlossener Stimme: »Ja, ich bin wegen einer Schlägerei von der Schule geflogen. Und? Sie hatten es verdient.«

Dass er es einfach so zugab, schockierte sie. »Und das gibt dir wohl das Gefühl, groß und stark zu sein?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Und was ist mit Jon?«

»Allein wollte er dort nicht bleiben, also hat Vater uns beide runtergenommen.«

»Und jetzt hast du vor, stattdessen auf unserer Schule alle zusammenzuschlagen?«

»Nein«, sagte er mit einem halbherzigen Lachen. »Nur wenn mich jemand nervt.«

»Du bist ein echtes Charmepaket, was?«

»Ich bin bloß ehrlich.«

Rosie fiel nichts mehr ein. Er machte sie nervös und wütend, und sie wünschte sich verzweifelt, er würde gehen. Vielleicht könnte sie ein Reinigungsritual an dem Stein durchführen, damit sie ihn wieder tragen konnte. »Also, jedenfalls danke, dass du mir mein Eigentum endlich zurückgebracht hast, obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, warum ich mich dafür bedanken soll.«

»Kann ich verstehen.« Er ging in Richtung Hintertür, blieb dann aber stehen. »Rosie, würdest du … äh. Wie wär’s, wenn wir mal zusammen einen Kaffee trinken gingen?«

Sie starrte ihn völlig entsetzt an. »Soll das eine Einladung sein?«

»Nein!«, warf Sam rasch ein. »Doch, ja. Nur auf einen Kaffee.«

»Wozu?«

Einen Moment lang schien er sprachlos zu sein. »Damit ich mich anständig entschuldigen kann. Und, weißt du, ich finde dich gar nicht so abstoßend.« Er lächelte.

Dieser Vorschlag haute sie um. Vor Schreck wurde ihr ganz heiß. Sie ließ es sich ja einreden, von einem sanften Jungen mit den Augen eines Dichters zu träumen – aber doch nicht, sich einem Raufbold mit schlechtem Ruf auszuliefern, dem frisches Blut an den Händen klebte. Er hatte bereits versucht sie zu küssen – was würde er sonst noch tun?

Nein – Gott bewahre, nein. Das Potenzial erneuter Demütigung war endlos.

»Das soll wohl ein Scherz sein.« Alle Zurückweisung dieser Welt brannte in ihrer Stimme. Er zuckte tatsächlich zusammen.

»Genau.« Das grausame, einschüchternde Glitzern tauchte wieder in seinen Augen auf. Er sah sie mit einem schrägen Grinsen an, aus Wut oder Verlegenheit wegen ihrer Zurückweisung. Ihr Ton war härter gewesen, als sie beabsichtigt hatte – aber sie musste an Schuljungen denken, die blutend auf Krankenhausbahren lagen, an den brennenden Schmerz, als die Kette an ihrem Hals riss, an Matthew, der blutend und am Boden zerstört hinter einer Hecke hockte und sagte: Er ist verrückt, halte dich von ihm fern.

»Einen Versuch war es wert«, sagte Sam noch. »Auf der Schule gibt es aber noch genug Mädchen. Deine Mutter ist übrigens auch ziemlich gut in Form.«

»Verschwinde«, zischte Rosie und ihre Panik verwandelte sich in Empörung.

»Was ist mit meiner Tasse Tee?«

»Du willst wohl, dass ich dir kochendes Wasser über den Kopf gieße. Wie kann man nur so widerlich sein?«

»Dabei habe ich noch gar nicht angefangen.« Er ging zur Außentür, blieb dort aber, die Hand auf der Klinke, noch einmal stehen und sagte: »Du scheinst Jon sehr zu mögen, oder?«

»Er ist okay«, sagte sie trotzig. »Ich kann es nicht glauben, dass ihr verwandt seid. Er ist ganz anders als du.«

»Da magst du recht haben.« Sam öffnete die Tür, die in die Dunkelheit hinausführte, und Rosie spürte die Kälte wie Nadelstiche auf der Haut. Und während Sam ins Winterdunkel schlüpfte, warf er noch einen letzten Blick auf sie zurück, sein Gesicht bleich in dem sich schließenden Türspalt. »Du weißt aber schon, dass er schwul ist?«

Auberon wanderte über einen Fußpfad zu Comyns Hof. Es war ein kalter Nachmittag, eingehüllt in das winterliche Alltagszwielicht, doch er liebte Charnwood in all seinen Verkleidungen. Die Bäume sahen im Nebel wie Geister mit riesigen Klauen aus. Und beim Laufen fiel es ihm wieder ein …

Lawrence oben vor Freias Krone, das Haar jettschwarz über seiner Robe, hinter ihm die aufragende Steinwand. Er hielt den Apfelholzstab und einen Bronzeteller mit Haselnüssen. Der Himmel über den Schattenreichen erinnerte an schwarzes Glas, über das die Sterne wie Schneewehen gestreut waren. Ein Haufen wartender Vaethyr, deren Andersweltgestalten bereits hervortraten, deren Haar länger und heller und deren Augen katzenhafter wurden, deren menschliche Körperformen sich in die Länge zogen. Auf einigen Schultern rauschten Geisterflügel.

Kerzenrauchkringel stiegen wie weicher Atem in die Luft. Als Lawrence seinen Stab erhob und gegen den Stein schlug, bebte der Boden, ein Tor nach dem anderen öffnete sich nach innen, bis sie alle in einer Reihe standen und sich vor ihnen das Portal wie eine endlose Folge von Spiegeln erhob: der Weg zu den inneren Reichen, das Tor der Tore.

Dann bot Lawrence jedem von ihnen eine Haselnuss an, die sie aßen, um dann das Tor zu passieren.

Es war eine wunderschöne Nacht gewesen, diese letzte Nacht der Sommersterne vor zwölf Jahren, klar und schimmernd. Es war kurz nach Lucas’ Geburt, eine Zeit neu gefundenen Glücks … Auberon und Jessica hatten das kühle Gras Elysiums unter ihren nackten Füßen gespürt, als sie tanzten … den Großen Tanz später hatten sie jedoch ausgelassen und stattdessen bei Honigwein nur zugesehen.

Eine perfekte friedliche Nacht. Auberon überlegte, ob ihm nicht ein Hinweis auf das kommende Dunkel entgangen war. Aber Lawrence’ selbstherrliche Rauheit hatte nichts verraten, war sie ihm doch immer zu eigen … oder etwa doch?

Wilder stammte aus Sibeyla, dem Reich der Luft, und natürlich fiel es den in der Spirale Geborenen oft schwer, sich der Erde anzupassen. In seinen zwanzig Jahren als Torhüter hatte er sich bei den kleineren Festen oft geziert und war manchmal gar nicht erst erschienen. Dies war auch der Grund dafür, dass man ihn fürchtete und ihm mit Ablehnung begegnete. Auberon hatte zwar Grund genug, ihn zu hassen, aber in jüngeren Jahren waren er und Lawrence Freunde gewesen. Er hatte Lawrence in Augenblicken der Schwäche erlebt, die Hass unmöglich machten.

Zweimal hatte Lawrence die Großen Tore für den Ritus der Sommersterne geöffnet. Beim ersten Mal, vor neunzehn Jahren, war Liliana noch dabei gewesen, um ihn zu unterstützen. Beim zweiten Mal, vor zwölf Jahren … ja, da er hatte beunruhigt gewirkt. Schloss man persönliche Angelegenheiten oder Lampenfieber einmal aus und nahm es stattdessen als ein Omen, dann bekam sein verbissenes Auftreten damals eine neue Bedeutung.

Beim dritten Mal – die ihnen vor der Nase verriegelten Tore, die auf sie gehetzten Disir, der unnachgiebige Lawrence.

Auberon spürte, wie ein Beben, einer dunklen Welle gleich, die Wurzeln der Erde und auch seinen Körper erfasste. Er öffnete die Augen und schmeckte Erde wie Tod in seinem Mund. In diesem Moment wusste er, dass Lawrence die Wahrheit sagte. Dieselben Felsen, die mit den Toren verbunden waren, drängten ihm diese Erkenntnis auf. Eine amorphe Gefahr schlummerte in der Spirale, ein gestaltloser Schrecken, den er nicht begreifen konnte … das Bild war verschwunden und ließ nur eine dunkle Spur der Angst zurück.

Seufzend setzte Auberon seinen Weg fort. Er musste an die anderen Vaethyr-Gemeinden rund um die Welt denken, deren Netzwerk ein zartes Gespinst mit Verbindungsknoten war, die sich um Tore konzentrierten, und diese Tore wurden allesamt von den Großen Toren Cloudcrofts kontrolliert. Die Elfenbevölkerung der Erde war gering und meist viel zu weit weg, um Lawrence Ärger zu machen. Die Mehrheit traute ihm noch immer, auch wenn die Handlungen ihres Torhüters ihnen Anlass zur Sorge gaben.

Schließlich war es Lawrence’ Aufgabe, wachsam zu sein, eine Bedrohung zu spüren, die noch kein anderer Vaethyr wahrnahm. Es war seine Fähigkeit und seine Pflicht. Wenn er diesen sich verdichtenden Schatten von Anfang an gespürt hatte … nun, sein Verhalten entschuldigte es nicht, aber erklären vermochte es vieles.

Auberon kletterte über die fünf Sprossen des Tores an der Weide, um nach Brewster, dem massigen Stier, zu sehen. Die Weide war leer. Die Farmgebäude tauchten auf der Hügelkuppe auf. Während Auberon sich ihnen näherte, kam Comyn ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. Mit seiner Bekleidung, einem grünen gewachsten Mantel mit Kappe, entsprach er nicht nur dem Bild des Farmers, sondern fügte sich auch ganz natürlich in die Landschaft ein. Seine Gummistiefel hinterließen tiefe Abdrücke im Schlamm.

»Hast du bei deinem vollen Terminplan also doch noch einen Moment Zeit gefunden?«

Auberon hatte inzwischen gelernt, keinen Anstoß an der unverblümten Art seines Schwagers zu nehmen. »Du sagtest, ich solle auf ein Schwätzchen vorbeikommen. Hier bin ich. Geht es darum, gemütlich eine Tasse Tee zu trinken, oder handelt es sich um etwas Ernstes?«

»Es ist etwas Ernstes«, erwiderte Comyn.

Er führte Auberon über den Hof zu einem Stall. Drinnen stank es nach den Ausdünstungen von Rindern. Hinter den Gittern einer Box stand Brewster, Comyns ganzer Stolz und Freude, der prächtige braune Bulle, der nicht nur auf Zuchtschauen triumphiert, sondern Comyn als Zuchtbulle auch ein Vermögen eingebracht hatte. Der Betonboden war sauber gefegt und darauf war frisches goldenes Stroh ausgestreut worden. Brewster jedoch stand mit gesenktem Kopf und glanzlosen Augen da. Sein Fell war matt, seine Muskeln ausgezehrt. Auberon war entsetzt bei diesem Anblick.

»Er stirbt«, sagte Comyn. »Wir haben ihn stabil gehalten, aber in den letzten paar Tagen …« Seine Hände schnitten durch die Luft, um seinen plötzlichen Verfall zu demonstrieren.

»Was sagt der Tierarzt?«

»Hoffnungslos. Wir haben alles versucht. Er ist am Ende.«

»Aber er ist ja mittlerweile auch schon ein ziemlich alter Knabe«, wandte Auberon vorsichtig ein.

Comyn betrat die Box und streichelte Brewsters einst massigen Nacken. Der Bulle schnaubte und drehte ihm seine trüben Augen zu. »Er ist kein sterblicher Bulle, Bron. Er kam mit mir aus den inneren Reichen. Ein Hochzeitsgeschenk meines Clans.«

Auberon hatte schon immer auf der Oberflächenwelt gelebt. Und dieser Hof war seit Generationen im Besitz seiner Familie gewesen. Comyn hingegen war ein in der Spirale geborener Aelyr. Er entstammte einem eleusinischen Clan namens Fheylim, einem zähen, wilden dunkelhaarigen Volk, mit denen auch Auberons Familie verwandt war. Was ihn und Comyn zu entfernten Vettern machte.

Vor langer Zeit, während des Sonnwendrituals in Elysium, hatte Phyllida Comyn kennengelernt und ihn dann mit in die Oberflächenwelt gebracht. Da Auberon sein eigenes Geschäft hatte und kein Verlangen verspürte, Bauer zu werden, hatte er seine Eltern gebeten, Comyn an seiner statt den Hof zu überlassen. Trotz dieses Geschenks – oder vielleicht auch deswegen – sah Comyn ein wenig verächtlich auf ihn herab, einen Elysier, der sein bäuerliches Erbe ausgeschlagen hatte, um Häuser für Menschen zu bauen. Aber Auberon versuchte diese Sticheleien zu ignorieren.

»Ich weiß«, sagte Auberon und beugte sich über das oberste Geländer der Box. »Brewster strahlt eine solche Kraft aus, als wäre er der Archetyp eines Bullen.«

»Genau das ist er auch.« Comyn streichelte die Flanke, die sich wie ein Blasebalg bewegte. »In den Mythen der Menschen wimmelt es nur so von Stieren. Er ist die Sonne, das Feuer des Lebens. Rate mal, seit wann es mit seiner Gesundheit bergab ging?«

Auberon atmete geräuschvoll aus. »Seit Lawrence die Tore schloss?«

»Ganz genau. Brewster hat seit nunmehr fünf Jahren kein Gras Elysiums mehr zu fressen bekommen und das ist das Ergebnis. Wie lange dauert es noch, bis auch wir dahinschwinden?«

Phyllida kam aus dem Dunkel des Hofs herein. Ihr Haar, das auf den Kragen ihrer Wachsjacke fiel, loderte im gleißenden Licht des Stalls.

»So stehen die Dinge, Bron«, sagte sie. »Meine Fähigkeit, Diagnosen zu stellen und zu heilen, ist auch nicht mehr so intuitiv, wie sie das mal war. Ich habe das Gefühl nur noch eine halbe Ärztin zu sein. Wir nehmen die Energien der Spirale, die uns über die Menschen erheben, so lange als gegeben hin, bis sie verschwinden.«

»Alles ist beeinträchtigt«, sagte Comyn wütend. »Alles.«

»Ich weiß«, sagte Auberon, »aber wir sind stark. Wir haben noch immer die Schattenreiche. Selbst wenn Lawrence das Portal für die nächsten fünfzig Jahre geschlossen hält, werden wir überleben.«

»Als was?« Comyn sah ihn an. »Als Sterbliche ohne Erinnerung? Ohne Chance auf Wiedergeburt, nur der schlichte alte Tod? Ist es das, was er will? Ist es das, was du für deine Kinder willst?«

»Nein, aber es gibt Schlimmeres, als auf dieser Welt zu leben –«

Comyn fiel ihm knurrend ins Wort. »Es ist unser Geburtsrecht als Elfenwesen, uns frei zwischen allen Reichen hin und her bewegen zu können – ungeachtet der Regeln, die die selbst ernannten Paragrafenreiter des Spiral Court uns auferlegen wollen. Wenn er diese Tore nicht freiwillig öffnet, Bron, egal was es mit diesen angeblichen Gefahren auf sich hat, wird er irgendwann keine Wahl mehr haben. Wir werden ihn zwingen.«

»Nein.« Auberon machte eine beschwichtigende Geste. »Ich kann dich verstehen, aber ihn zu zwingen, wäre falsch. Was wir auch von Lawrence halten mögen, er handelt zu unserem Schutz. Gut möglich, dass er schon morgen die Tore wieder öffnet.«

»Für Brewster käme das dann aber einen Tag zu spät«, murmelte Comyn. »Warum verteidigst ausgerechnet du ihn? Hast du Angst vor ihm? Freust du dich etwa, dass deinen Kindern ihr Geburtsrecht verwehrt wird und sie zu menschlichen Drohnen werden?«

»Natürlich nicht!« Gegen seinen Willen war Auberon wütend. »Aber welchen Grund sollte Lawrence haben, uns anzulügen?«

»Wer weiß?«, brauste Comyn auf und schlug mit seiner flachen Hand auf das Geländer. Brewster schnaubte und ein kleines Flämmchen loderte auf, als er seinen großen Schädel mit den ausladenden Hörnern herumschwang. »Es waren Konflikte wie dieser, die zu unserem Untergang führten und dafür sorgten, dass unser Einfluss auf die menschliche Geschichte geringer wurde. Jetzt leben wir im Geheimen, wie Flüchtlinge! Wenn es nach mir ginge, bräuchten wir keinen Torhüter und auch keine Tore. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich meinem Bullen beim Sterben zusehe, ohne das Undenkbare zu denken? Wenn wir den allmächtigen Lawrence Wilder absetzen müssen, dann tun wir das eben!«

Auberon wartete, bis Comyn mit seinem Ausbruch fertig war. »Nein«, sagte er entschlossen. »Wenn wir das tun, setzen wir womöglich genau die Gefahr frei, die Lawrence fürchtet. Dann könnte die Spirale womöglich auf immer für uns verloren sein.«

»Für meinen Geschmack ist das ein bisschen viel ›könnte‹ und ›möge‹, was wir da befürchten müssen«, grummelte Comyn.

»Er sagt die Wahrheit, Comyn. Die Gefahr ist real. Wir müssen ihm vertrauen.«

»Nun, ich sage, zum Teufel mit der Gefahr«, zischte Comyn. »Nur her damit.«

»Und da würde ich dir auch recht geben, aber ich habe Kinder, an die ich denken muss.«

»Ist etwa dieser langsame, schleichende Tod besser als ein rascher, gewaltsamer?« Comyn atmete durch seine Zähne aus, sein Zorn schien zu verrauchen. »Die Vaethyr vertrauen dir, Bron. Wenn du uns nicht hilfst, wer dann?«

»Genau das versuche ich zu tun«, erwiderte Auberon. »Um einen Konflikt abzuwenden und mit Lawrence in freundlichem Gespräch zu verbleiben. Wenn wir ihn vorschnell zum Feind erklären, was zum Teufel macht das für einen Sinn? Wir werden das nur durch Verhandeln lösen können, nicht durch Krieg.«

Sanft warf Phyllida ein: »Er hat recht, Com.«

»Ich weiß.« Comyn wandte sich Brewster zu und strich ihm sanft über seinen eingefallenen Brustkorb. Phyll beobachtete ihn mit ernster und verzweifelter Miene. »Keine Sorge, Bron, ich trage die Geduld der Berge in mir.« Seine Stimme wurde schwer vor Schmerz. »Ich werde nichts überstürzen. Aber verzeihen werde ich ihm das nie.«

»Das mit Brewster tut mir leid. Wirklich leid.«

Alle schwiegen. Als Comyn sich umwandte, glänzten Tränen in seinen Augen. Noch nie in seinem Leben hatte Auberon ihn weinen sehen.

»Wir warten auf den Schlachter«, sagte er. »Willst du mit uns warten?«

Nachdem Sam gegangen war, nahm Rosie das Kristallherz und hielt es ans Licht. Sie war sich sicher gewesen, dass sie enttäuscht sein würde – ein Anhänger aus Glas. Doch das funkelnde Feuer verzauberte sie von Neuem.

Ob sie es wieder tragen und vor ihrem lieben Vater so tun könnte, als hätte sie es die ganze Zeit besessen? Merkwürdig, dass Sam es die ganzen Jahre aufbewahrt hatte. Vielleicht stünde ihm eine Elstermaske besser zu Gesicht als die eines Falken.

Als Jessica zurückkam und ihr den Arm um die Schulter legte, steckte sie es schnell ein. »Gehe ich recht in der Annahme, dass der berüchtigte Sam für dich schwärmt?«

Der Körper ihrer Mutter war warm und strahlte Geborgenheit aus und ihr Haar duftete köstlich. »Und offenbar auch für dich«, sagte Rosie. »Wahrscheinlich für jedes weibliche Wesen, das nicht schnell genug davonrennen kann. Hast du gehört, warum er von der Schule geworfen wurde?«

Jessica nickte. »Wirklich schade, dass er sich so entwickelt hat. Ein so gut aussehender Junge und zu mir war er unglaublich charmant. Ich möchte ihn nicht aufgrund dessen verurteilen, was man so über ihn hört, aber du tust gut daran, zu ihm auf Distanz zu gehen.«

Rosie biss sich auf die Lippe. Ihre früheren Begegnungen mit Sam hatte sie nie zugegeben. Hätte sie das getan, wäre ihre Mutter vermutlich weniger entspannt gewesen. »Ich habe keine Angst vor ihm.«

»Das brauchst du auch nicht. Vergiss nie, dass wir Elfenwesen sind«, ergänzte Jessica bestimmt. »Egal wie menschlich du aussiehst oder dich fühlst, dein Herz ist elfisch. Wenn du dich bereit fühlst für einen Freund –«

»Ach, Mum.« Beschämt versuchte sie sich aus der Umarmung ihrer Mutter zu lösen, aber Jessica hielt sie fest und sah ihr vollkommen ernst in die Augen, von gleich zu gleich.

»Wenn du dazu bereit bist, Rosie, denk dran, wer du bist. Nichts vermag dir diese Kraft zu nehmen. Anders als die Menschen verfügen wir über die bewusste Kontrolle über gewisse körperliche Prozesse. Das ist unsere Macht.«

Verlegen erinnerte Rosie sich an all die Gespräche – eher mit Tante Phyll als mit ihrer eigenen Mutter – über das Verschließen ihrer eigenen inneren Kammern, die Kontrolle der Lust und das Ausscheiden schützender Säfte, welche mikroskopische Eindringlinge jeglicher Art abzuwehren vermochten. Sie hatte gelernt, sich ihres eigenen Körpers bewusst zu werden, bis es so instinktiv wurde wie Atmen. »Ich weiß. Ich hatte eine gute Lehrerin.«

»Du kannst also wählen, wen immer du willst – aber keiner vermag gegen deinen Willen in dich einzudringen, dich zu infizieren oder zu schwängern. Du hast die Macht darüber.«

Die Küche schwand und sie waren zwei Kriegerköniginnen in einer älteren, lebendigeren Welt. Rosie spürte den Feuerschein, den sie in sich trug, als wäre ihr Rückgrat aus Gold. Eine Handvoll exzentrischer Erinnerungen – ihre Mutter, die sie im Morgengrauen mit nach draußen nahm, damit sie im Tau badete oder sich lachend und ekstatisch unter dem Vollmond niederlegte – fielen ihr jetzt wieder ein. Es ging dabei darum, die Elfennatur zu erhalten, ungeachtet der männlichen Grenze der Tore. Sie spürte überall um sich herum grüne Blätter, Blumen und Efeu, die ins Haar ihrer Mutter gewunden waren. Sie fühlte sich wahrhaft anders.

»Elfenwesen bestehen aus mehreren Schichten«, fuhr Jessica fort. »Auf der Oberflächenwelt haben wir unsere menschliche Gestalt, ihr entsprechen die verwandelten Formen, die wir in den Schattenreichen oder der Spirale annehmen. Dann gibt es unseren Kern oder die Essenz, dem auf der Menschenebene Herz, Seele und Geist entsprechen, wobei bei uns noch der Instinkt dazukommt, unser Gefühl für den Fluss dessen, was richtig oder falsch ist. Und dann gibt es noch die Fulgia – die Schattenseele, die in der Spirale wohnt und uns immer mit dieser verbindet. Sie vermag eine rauchartige Tierform anzunehmen, wenn wir sie überhaupt jemals zu Gesicht bekommen.«

»Meine wäre dann ein Fuchs«, meinte Rosie lächelnd.

»Nicht unbedingt. Weißt du, dein Blutreich bestimmt nicht zwangsweise deine elementaren Neigungen oder deinen Charakter. Ich bin elysischer Abstammung wie dein Vater, aber ich fühle mich als Sibeylanerin, angezogen von der Luft, den Vögeln, der Musik …«

»Dann ist deine also ein Vogel?«

»Oh.« Jessica sah sie verdutzt an. »Sie lässt sich nur sehr schwer deutlich erkennen und die Fulgia ist etwas sehr Persönliches. Du kannst sie dir als einen Führer vorstellen, als den Teil von dir, der alles am besten weiß … normalerweise.« Ihr Blick schweifte ab. »Dass wir die inneren Reiche nicht besuchen können, um diese Energien aufzufrischen, ist hart für uns. Also müssen wir uns mehr Mühe geben, unsere Elfenseite hier auf Erden zu hegen. Das Animalische, das Göttliche und Elementare genauso wie das Menschliche zu nähren. Wir kennen diesbezüglich keine Unterschiede.«

»Ich habe das Gefühl, das alles zu kennen«, sagte Rosie. »Es ist wie ein Traum, den ich vergessen hatte, bis du mich daran erinnert hast.«

»Ja«, sagte Jessica traurig, »genauso ist es.«

»Jetzt, wo wir den Sex abgehandelt haben, können wir auch über den Tod sprechen?«, sagte Rosie trocken, aber ernst. »Ich sehe keine weißhaarigen, gebückt gehenden Elfenwesen. Was ist mit deinen Eltern?«

Ihre Mutter ließ traurig die Schultern hängen. »Bei einigen Elfenwesen funktioniert die Aufzucht der Kinder wie bei den Vögeln: Man wirft sie beizeiten aus dem Nest und schwingt sich in die Lüfte. Sobald Phyll und ich alt genug waren, waren sie nur noch unterwegs und tourten mit ihrem Orchester. Cello und Erste Geige. Das Haus war immer erfüllt von Musik … aber sie waren viel zu früh weg. Vielleicht bin ich deshalb so besitzergreifend bei meinen Kindern, und Phyll hat erst gar keine bekommen. Sie sind gar nicht so alt, aber … Hat dein Vater darüber nicht mit dir gesprochen?«

»Nein, hat er nicht. Aber ich glaube nicht daran, dass wir unsterblich sind.«

»Nichts ist unsterblich, mein Schatz. Nenn uns halb sterblich. Wir altern nicht, aber wir werden weniger und nach und nach zur Spirale hingezogen. Wir müssen dorthin. Deshalb verschwinden die Älteren auch. Sollten meine Mutter und mein Vater sich entschließen zu gehen, bezweifele ich allerdings, dass wir das erführen. Sie verlieren sich tief im Herzen der Spirale und werden einer Verwandlung unterzogen. Gut möglich, dass sie in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder erscheinen, oder auch für ein oder zwei Jahrhunderte in ihrer Elementargestalt verharren oder völlig neu wiedergeboren werden.«

Rosie nahm das in sich auf und fand, dass es sich trostlos anhörte und nicht gerade beruhigend. Sie hatte plötzlich das beängstigende Bild vor Augen, eines Tages nach Hause zu kommen und Oakholme verlassen anzutreffen, weil ihre Eltern einfach weg waren … »Und was ist, wenn ein Verrückter mit einer Axt einbricht und mir den Kopf abschlägt?«

Jessica zog eine Grimasse. »Dann stirbst du und hinterlässt eine Sauerei auf meinem Fußboden, aber dein Wesen reist ins Zentrum der Spirale und wird früher oder später in neuer Gestalt wiedergeboren. Dabei musst du dich nicht notwendigerweise an das erinnern, was du einmal warst. Das hängt von der Willenskraft des jeweiligen Individuums ab.«

»Klingt beängstigend. Eine Art Reise ohne richtige Gestalt, mit offenem Ende.«

»Aber es ist auch aufregend. Ich habe mal ein Lied gesungen, in dem es genau darum ging: ›Küss den Spiegel.‹«

»Ich höre dich manchmal in meinem Kopf singen, Mum. Vielleicht bin ich ja verrückt, aber es ist sehr tröstlich. Ich wünschte, du würdest noch singen. In Wirklichkeit, meine ich.«

Jessica sah sie aus schmalen Augen an. »Ich kann nicht. Ich habe meine Stimme verloren. Und du bist reizend, aber seltsam – ein wahres Elfenwesen. Hast du sonst noch eine Frage, Liebes?«

»Ja. Die Initiation?«

»Nein. Nicht heute. Erst in zwei Jahren.«

»Und werden die Tore bis dahin wieder offen sein?«

»Wer weiß?« Die Augen ihrer Mutter trübten sich, wie sie das auch bei ihrem Vater gesehen hatte. »Ich weiß es nicht.«

»Alles, was du mir erzählt hast, Mum, drehte sich um die Anderswelt und darum, dass man in der Spirale ein und aus geht«, sagte Rosie. »Aber das können wir nicht mehr. Was geschieht stattdessen? Wir sterben einfach, Ende der Geschichte? Matthew mag das ja herbeiwünschen, aber ich nicht. Ich will die Reise.«

Als Sam im Dunkeln den Berg hinauftrottete, schaute er zurück und sah die Lichter in den Fenstern von Oakholme schimmern. Um ihn herum stob Eis durch die Luft, er war nass und ihn fror, aber es kümmerte ihn nicht. Er hatte nur einen einzigen Gedanken »Rosie, Rosie, Rosie …«, und der ergab keinen Sinn.

Er war sich nicht sicher, wann es passiert war. Dass sie eine hübsche Figur hatte, war ihm natürlich nicht entgangen, als er sie beim Betreten des Festsaals erblickt hatte. Doch als er sie dann in seinem Zimmer antraf – das war es. Gerade noch war sie eine verzogene Fox gewesen, die man verspotten und quälen konnte. Gleich darauf hatten ihn ihr pflaumenroter Mund und die glutvollen Augen und das prächtige burgunderfarbene Haar und ihr furchtloser Geist überwältigt und dafür gesorgt, dass jedes Fitzelchen Vernunft in einer Sturzflut des Verlangens aufging.

O ja. Das war hochtrabend, aber absolut wahr. Hoffnungslos. Jedes Wort, das er gesagt hatte, hatte nur dafür gesorgt, dass sie ihn umso mehr hasste. Er konnte machen, was er wollte, jedes Mal, wenn er seinen Mund aufmachte, steckte er bis zum Hals in der Klemme. Und dabei wusste er nicht mal, warum er ständig an sie denken musste.

In der Nähe des Herrenhauses hörte er etwas im Gebüsch links vom Haus. Still wie eine Eule verharrte er und hielt Ausschau, bis er einen sich bewegenden Schatten sah. In einiger Entfernung folgte er diesem den Berg hinauf, schlich dann näher heran, bis er sich auf dem Gipfel befand, auf Armeslänge von ihm entfernt. Die Gestalt lehnte im Schneidersitz mit geschlossenen Augen an der Felswand von Freias Krone. Sam biss sich auf die Unterlippe. Dann streckte er den Arm aus und packte die Gestalt an der Schulter.

Jon stieß einen erstickten Schrei aus und sprang so ungestüm auf, dass er fast vom Boden abhob. »Mensch, Sam!« Sein Haar war nass vom Schneeregen und hing ihm in Strähnen ins Gesicht, seine Haut war eiskalt.

»Was zum Teufel treibst du hier, du Trottel?«, fauchte Sam ihn an.

»Was glaubst du wohl?«, erwiderte Jon wütend. »Lass mich in Ruhe.«

»Vorher muss ich aber noch ein paar Dinge klarstellen«, sagte Sam. »Erstens, wie verdammt noch mal willst du in die Anderswelt sehen, wenn du mich noch nicht einmal wahrnimmst, obwohl ich nur fünf Zentimeter von dir entfernt bin?«

»Verpiss dich.«

»Zweitens, wenn Vater dich hier erwischt, bringt er dich um.«

Bei diesen Worten leuchtete Jon noch bleicher im Dunkeln. »Du wirst es ihm aber nicht sagen, Sam.«

»Nein, aber eines Tages wird er dich erwischen. Sollte er glauben, dass du versuchst die Tore zu öffnen, bei Gott, dann wünschst du dir, du wärest nie geboren.«

»Ich habe nicht versucht die Tore zu öffnen«, rechtfertigte sich Jon und sah dabei aus wie ein triefnasser Engel. Sam sah Kratzer auf seinen Händen und seinem Gesicht. Auf dem Boden lag ein aus dornigen Zweigen zu einer Rune geflochtener Kranz.

»Nicht? Dann lass das Beweismaterial nicht herumliegen.«

Er kickte das Ding weg, sodass es im Farn landete und auseinanderfiel. »Hey!«, rief Jon und versuchte es zurückzuholen. Sam hatte keine Mühe, ihn mit einer Hand davon abzuhalten.

»Du gehst jetzt rein, bevor du dir hier den Tod holst.«

»Du verstehst das nicht«, sagte Jon wütend. »Ich habe nicht versucht hindurchzukommen. Ich wollte nur …«

»Was?«

»Mutter sehen. Sehen, wo sie ist.«

Jetzt legte Sam eine Hand an Jons Kehle und drückte ihn zurück an den Fels. »Du verdammter Idiot. Du glaubst, sie ist hier durchgegangen? Wie denn und warum? Wieso gerade hier?« Er ließ los und schubste Jon weg. Die Berührung sollte Jon nur aufrütteln, nicht verletzen. Sam entfernte sich ein paar Schritt weit, um sich zu beruhigen, dann kam er zurück und sagte: » Und … hast du Erfolg dabei gehabt?«

»Nein.«

»Nein. Weil sie tot ist.«

»Sie ist nicht tot!«, rief Jon. »Wie kannst du nur so etwas sagen?«

»Sie muss tot sein«, sagte Sam ruhig. »Niemals hätte sie uns verlassen, ohne in all den Jahren etwas von sich hören zu lassen, es sei denn, sie ist in der Zwischenzeit gestorben. Selbst wenn sie in der Spirale wäre, hätte sie uns nicht einfach vergessen. Das willst du einfach nicht wahrhaben.«

»O doch, sie hätte uns vergessen«, antwortete Jon giftig. »Wir sind ihr nämlich völlig egal.«

Er zuckte zusammen, als sein Bruder erneut auf ihn losging, aber Sam ließ seine Hand sinken und seine Wut wie den Schneeregen in Nichts zerrinnen. Als er sich abwandte und ging, rief Jon ihm mit gequält klingender Stimme hinterher. »Du bist derjenige, der es nicht wahrhaben will: Sie hat sich nie um uns gekümmert.«