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Nicht ganz Narnia

Jon. Jon. Rosie schrieb seinen Namen immer und immer wieder in schnörkeliger Kugelschreiberschrift. Jon & Rosie, Rosie & Jon.

Erste Liebe, unerwiderte Liebe – das war eine heftige Droge. Hätte sie gewusst, dass über dem Rest ihrer Schulzeit der Schatten der Enttäuschung läge, hätte ihr dies auf der Stelle das Herz gebrochen; aber diesen Gedanken ließ sie nicht zu. Denn jeder Tag brachte neue Hoffnung, ihn zu sehen oder auch noch im kleinsten Blick oder Lächeln, die sie von ihm erhaschte, Bände zu lesen.

Jon war freundlich zu ihr, aber immer zerstreut, als hätte er ständig Wichtigeres zu tun. Er ließ sie nicht näher an sich heran. Rosie redete sich ein, dass er einen großen geheimen Schmerz verbarg. Wenn er sich ihr damit anvertrauen könnte, würde alles Trennende einstürzen und sie würden sich Händchen haltend ihre Geheimnisse zuflüstern.

»Was meinst du, Mel, ist er schwul?« Sams boshafte Enthüllung ließ ihr keine Ruhe.

Mel war so verdutzt, dass sie nicht gleich antworten konnte. »Was? Auf keinen Fall.«

»Und woher willst du das wissen?«

»Weil jemand nicht schwul ist, nur weil er lange Haare hat und ein Angeber ist, Rosie«, sagte Mel im Brustton der Überzeugung. »Wir müssen nur dafür sorgen, dass er dich bemerkt.«

Mel hatte leicht reden. Mit ihrem sonnenblonden Haar war sie eine strahlende Erscheinung und konnte wählen und verwerfen wie eine Prinzessin. Rosie hingegen fand sich so unsichtbar wie der Erdgeist, der sie war. Wenn sie an Jon dachte, sah sie ihn immer gedankenverloren und mit wehendem Haar, das ihm auf die knochigen Tänzerschultern fiel, durch die Schulkorridore von ihr wegeilen. Er hatte inzwischen eine Clique von Gefolgsleuten um sich versammelt. Rosie versuchte sich dieser Gruppe anzuschließen, aber sie war immer nur am Rande dabei und fand nicht den Zugang zum inneren Kreis. Und das verletzte ihren Stolz. Sie kam sich idiotisch vor, wie ein Fan, der einem Filmstar auflauert, doch sie konnte nicht aufhören von ihm zu träumen.

Sam indessen musste nur noch ein Jahr auf der Schule herumbringen. Er hing mit einer wilden Horde herum, und obwohl Rosie versuchte ihm aus dem Weg zu gehen, musste sie jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, feststellen, dass er sie aus der Ferne beobachtete. Er war wie ein Panther auf der Pirsch, leise und raubtierhaft, eine schwarz-weiße Schnitzerei aus Eis.

Er hatte sich eine Freundin aus einer üblen Gegend von Cloudcroft gesucht, ein stämmiges Geschöpf mit ebenholzfarbenen Haaren und Tattoos am ganzen Körper. Mel gab ihr den Spitznamen Pitbull. Jedes Mal, wenn Rosie ausging, schien Sam ihr mit seiner Gang aufzulauern. Er selbst stand dann über das Mädchen mit dem eckigen Gesicht und den kurzen, geraden Stirnfransen gebeugt, während alle anderen drohend in Rosies Richtung glotzten.

»Er versucht dich eifersüchtig zu machen«, sagte Mel eines Tages.

Entsetzt antwortete Rosie: »Niemals. Er versucht mir Angst zu machen. Er hat einmal zugegeben, dass er meine Familie hasst. Und jetzt muss er mich noch mehr hassen, weil ich mich ihm gegenüber behaupte.«

»Dann ignoriere ihn«, riet Mel ihr. »Lass uns mal überlegen, wie wir dich und Jon zusammenbringen.«

Wie üblich rissen diese Worte die Wunde in ihr wieder auf. »Ich glaube nicht, dass es so weit kommen wird.«

»Dann gibt es aber auch noch jede Menge anderer Jungs, die nicht so selbstverliebt sind, du brauchst ihnen nur eine Chance zu geben.«

»Die sind mir aber egal. Du weißt ja gar nicht, was ich für ihn empfinde.«

Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte das Bild ihres perfekten Seelenfreundes, das sie in Jons klaren braunen Augen, seiner scheuen Anmut und den langen Künstlerhänden sah, nicht abschütteln. Sie brauchte ihn nur zu sehen und schon fing alles wieder von vorne an.

Was für ein Drama. Mel probierte die Jungs aus wie Schuhe, aber wenn Rosie liebte, dann war das für immer.

Rosie wurde sechzehn, das Alter der Erkenntnis und der Initiation. Die Tore blieben jedoch geschlossen, es gab für sie keine magische Einweihungszeremonie, das Leben ging weiter wie zuvor.

In jenem Sommer gaben sie und Lucas nach den Abschlussprüfungen auf Oakholme eine Party. Für Rosie war es ein Vorwand, Jon einzuladen – aber zu ihrer Bestürzung tauchte Jon gar nicht auf. Stattdessen kam Sam, obwohl er nicht eingeladen war. Als sie ihn nach draußen führte und ihm kühl erklärte, dass er und seine Gang nicht willkommen waren, ging er einfach, verzog zwar süffisant das Gesicht, gab aber doch nach.

»Einen Versuch war’s wert, Süße«, sagte er und zog dabei eine Braue hoch.

Als Rosie am nächsten Abend allein von Mel nach Hause ging, löste sich eine stämmige Gestalt aus dem Schatten einer Hecke und stellte sich ihr in den Weg. Es war Sams Freundin, die Bikertussi, ganz Muskeln und schwarzes, mit Nieten besetztes Leder. Sie war nicht größer als Rosie, könnte sie aber so leicht knicken wie einen Strohhalm.

»Halt du dich bloß fern von Sam«, sagte sie.

Rosie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Die kurvige Straße war verlassen. »Ich war überhaupt nicht in Sams Nähe«, protestierte sie.

»Gestern Abend hab ich dich mit ihm gesehen.«

»Ja, da hab ich ihm gesagt, er soll verschwinden!«

Das schien den Pitbull nur noch wütender zu machen. Sie kam drohend und mit kaum beherrschter Gewalt auf Rosie zustolziert. »Ich durchschau dein Spiel. Jedes Mal, wenn Sam und ich draußen sind, drehe ich mich um und sehe dich. Du glaubst wohl, du kannst ihn mir wegnehmen. Aber er ist mit mir zusammen, du Miststück.«

»Ja, du reiches Miststück«, sagte eine andere Stimme hinter Rosie, und dann tauchten zwei Spießgesellinnen des Pitbulls auf, beide groß und kräftig wie Bodyguards.

Rosie bekam es mit der Angst. Sie wusste, dass es um sie geschehen war und sie sich mit keinem Wort würde retten können. »Ich will deinen blöden Freund nicht!«, zischte sie.

Der erste Schlag beförderte sie in die Arme der Bodyguards. Als der zweite folgte, versuchte sie diesem mit einer Drehung auszuweichen und stürzte dabei zu Boden, wo sie sich die Hände auf dem Kies aufscheuerte. Nach einem Tritt in die Nieren blieb ihr die Luft weg. Vor Fassungslosigkeit über das, was ihr geschah, wie gelähmt, fragte sie sich, welchen Nutzen ihr Erbe hatte, wenn es ihr nicht einmal die Kraft verlieh, sich selbst verteidigen zu können. Noch mehr Tritte folgten. Außer Atem, voller Blutergüsse und hilflos rollte sie sich zusammen und versuchte sich außer Reichweite zu rollen. Da packte eine Hand sie am Kragen und zog sie hoch, bis sie halb stand. Ihre Beine gaben nach. Sie schmeckte Blut.

Der Pitbull verpasste ihr einen Schlag in den Magen.

Als sie zusammenbrach, ließ sie sich instinktiv seitwärts in die Schattenreiche fallen. Die Welt wurde lavendelfarben und wie von Spinnennetzen umwoben. Die drei Frauen gingen weiterhin auf sie los, aber ihre Schläge waren weich wie Seide. Auch schienen die Mädchen viel weniger Substanz zu haben, waren kleiner und blasser. In Trance, kontrolliert von einem tieferen Selbst, pflanzte Rosie ihre Füße in den Boden und stand auf.

Was sahen ihre Angreiferinnen? Etwas Durchsichtiges, stellte sie sich vor, wild und wölfisch mit Zweigen statt Haaren, das sich wie ein Gespenst zwischen ihnen erhob. Sie erstarrten. Rosie hörte, wie eins der Mädchen sagte: »O Mann.«

Der Pitbull holte zu einem letzten Schlag aus, in dem genug Kraft steckte, sie wieder auf Hände und Knie zu zwingen. Dann stürmten die Angreiferinnen in ihren gummibesohlten Stiefeln davon, der Pitbull schrie noch über die Schulter: »Du lässt die Finger von meinem Kerl, du verdammter Freak!«

Als sie sich hochrappelte, wobei der verspätet einsetzende Schock sie fast noch einmal zu Boden warf, flüsterte eine sanftere Stimme über ihr: »Alles in Ordnung mit dir, Mädchen?«

Sie blickte hoch und sah das Blättergesicht der Grünen Frau hoch oben in den Ästen der Alten Eiche. Das dürfte sie gemeint haben, als sie vom Blut an ihrem Baum sprach – eine Warnung, dass sie keine Gewalt in der Nähe ihrer geliebten Eiche duldete. »Tut mir leid«, brachte Rosie mit erstickter Stimme heraus.

»Du gehst jetzt nach Hause«, sagte die Dryade freundlich. Sie schien nicht verärgert zu sein. »Geh schon. Ich kann meinen Baum nicht verlassen, aber ich passe auf, dass du gut nach Hause kommst.«

Ihren Eltern erzählte Rosie, sie sei in ein Dornengestrüpp gefallen. Sie schienen es ihr abzunehmen. Am nächsten Tag marschierte sie hinauf nach Stonegate Manor und präsentierte sich Sam, der ihr die Tür aufmachte, mit einem blauen Auge und aufgerissenen Händen. Ungläubig und mit offenem Mund hörte er sich an, was sie ihm in schroffem Ton erzählte.

»Pfeif bloß deine Bodyguard-Tusse zurück«, schloss sie ihren Bericht wutschäumend und marschierte davon, ohne ihm die Chance zu einer Antwort zu geben.

»Rosie!«, rief er ihr hinterher, aber sie ging einfach weiter. Ausnahmsweise fühlte sie sich stark und furchtlos und es war ein gutes Gefühl.

Als sie in dieser Nacht im Bett lag, musste sie an die Grüne Frau und Jon denken und daran, was es bedeutete, als Elfenwesen in der Menschenwelt gefangen zu sein. Ein goldener Sommermond schimmerte durch die Vorhänge. Und wenn nun sie und ihre Brüder – und auch Jon und Sam – niemals die Spirale betreten und an den Erfahrungen teilnehmen konnten, die ihre Eltern gemacht hatten?«

Eine Erinnerung kam hoch: Sie war etwa sieben Jahre alt und saß auf Brewsters breitem Rücken, der sich sanft wie ein Lamm von Comyn auf der Koppel herumführen ließ. Als Kinder hatten sie die Farm oft besucht. Sie erinnerte sich, dass ihr Vater und ihre Brüder unter sonnenbeschienenen Bäumen saßen und zusahen. Und während sie ihre Runden drehten, sagte ihr Onkel: »An manchen Leuten werden dir gewisse Dinge auffallen, Rosie. Erwachsene etwa, die nicht älter zu werden scheinen. Bei uns gibt es keine gemütlichen grauhaarigen Großmütter, nein, unsere Großeltern sehen so frisch aus wie unsere Eltern, bis sie einfach verschwinden. Rätselhaft, oder?«

Rosie war verstört gewesen. Waren die Erwachsenen, an die sie sich noch schwach erinnern konnte und die sie als kleines Kind abgöttisch geliebt hatte, womöglich ihre Großeltern gewesen? Man hatte ihr nur erzählt, dass sie jetzt weit weg wohnten. Ihr Onkel fuhr fort: »Du brauchst deswegen keine Angst zu haben, Mädchen, es liegt daran, dass wir Vaethyr sind und keine Menschen. Deine Familie lebt in der Menschenwelt, aber du wirst den Ruf der Anderswelt spüren, das Bedürfnis, wie ein wildes Tier unter dem Sternenzelt umherzuwandeln. Du wirst erfahren, wie es ist, sowohl Jäger als auch Meute zu sein und die rohe Flanke deiner Beute aufzureißen …«

An dieser Stelle war ihr Vater neben ihnen aufgetaucht und sagte: »Das reicht, Comyn.«

Er hatte wütend geklungen. Ihr Onkel hatte daraufhin gebrummt: »Du hast kein Recht, deine Kinder vor der Wahrheit darüber, was sie sind, zu bewahren«, worauf Auberon erwidert hatte: »Und es ist nicht deine Aufgabe, ihnen irgendwas zu erzählen, das überlässt du lieber mir und Jess.«

Seltsam, dass ihr diese Erinnerung heute Abend kam. Die Nachricht von Brewsters Tod im Winter vor zwei Jahren hatte sie sehr traurig gemacht. Hatten ihre Großeltern es geschafft, die Spirale zu erreichen – die musikalischen Eltern ihrer Mutter, Auberons Bauernfamilie –, oder waren sie auf der Erde gefangen? Würde auch die Grüne Frau sterben, wenn alle Verbindungen zur Spirale dahinschwanden? Sie musste an das schreckliche Bild denken, dass sie nach Hause kam und Oakholme verlassen vorfand, weil die Eltern ohne ein Wort verschwunden waren. Solange die Tore geschlossen blieben, hatten Jessica und Auberon wenigstens keinen Grund zu verschwinden.

Als sie im Bett lag, ließ sie ihr Bewusstsein in die Schattenreiche eintauchen, und ihre Wahrnehmung veränderte und vertiefte sich wie das honigfarbene Mondlicht im Zimmer. Es war ganz leicht. Solange die Schattenreiche Oakholme noch derart üppig umgaben, konnte doch noch nichts Schlimmes passiert sein, oder?

Ihr ins Licht getauchtes Schlafzimmer glänzte, als wäre es von goldenem Tau überzogen. Sie erhob sich und ging zu ihrem Schrank, in dem sich aber keine Kleider befanden, sondern ein gewundener Gang aus dunklem Walnussholz, der in eine Kammer führte, wo sich ein schimmernder Baum durch die Dielenbretter reckte und im Gewölbe der Zimmerdecke verschwand.

Im Bewusstseinszustand der Verzauberung umkreiste Rosie den Baum und kletterte über seine Wurzeln. Die Blätter waren grüne Lichtschuppen und der Stamm silbern und dick, runde Auswüchse, glatt wie Seide, quollen daraus hervor und fühlten sich warm an. In ihrem seltsamen Wachtraum strich sie mit ihren Fingern über die Rundungen und legte ihren Kopf an seine silberne Rinde. Während sie, den Stamm mit ihren Armen umschlingend, ihren ganzen Körper dagegendrückte, schien dessen Wärme sie zu erfüllen und sich perfekt dem seltsamen Drang anzupassen, der sie antrieb.

Rosie zerfloss schwebend und schwer atmend zu goldenem Feuer. Die Schattenreiche zerplatzten weich wie Seifenblasen. Keuchend erwachte sie in ihrem Bett, wo sie zuckend mit nach hinten geworfenen Händen lag. Einmal musste sie nicht an Jon denken, sondern gab sich dem schlichten Wunder der Ekstase hin. Sie schob eine Hand zwischen ihre Schenkel, damit das Gefühl anhielt.

Was dort hinter ihrem Kleiderschrank lag, war zwar nicht gerade Narnia, gehörte aber ihr. War ihr wunderschöner geheimer Baum der Erkenntnis.

Schultrimester und Jahreszeiten rauschten vorbei. Rosie sah Sam nie wieder in Begleitung des Pitbulls. Das Mädchen weilte noch immer im Dorf – hielt aber sicheren Abstand zu Rosie –, Sam aber war weggegangen. Gerüchten zufolge zog er als Rucksacktourist durch Europa. Lawrence war darüber offenbar nicht gerade erfreut. Rosie wusste ihre Empfindungen nicht recht einzuordnen, doch vor allem war sie erleichtert.

Kraft und Erdung fand sie in ihrer Liebe zu den Blumen, der Erde und allem Lebendigen. Sie war eine wahre Elysierin, eine geborene Gärtnerin. Um sich mit der Erde zu verbinden, musste sie in die Natur gehen, in den grünen Wald, zu den silbernen Seen, wo Weiden ihre Spiegelbilder küssten, musste sich aufsaugen lassen vom Fels und der feuchten, wurmigen Erde … um neu erschaffen wiederaufzuerstehen. Sie kümmerte sich um Oakholmes weitläufige Gründe, redete sanft mit den scheuen Elementargeistern, die ihr beim Arbeiten aus den Zweigen zuguckten. Sie begann den vernachlässigten Rosengarten wieder neu anzulegen, angetrieben von der Idee eines heiligen Ortes. Jedes Mal, wenn sie an der Alten Eiche vorbeikam, verneigte sie sich und grüßte die Grüne Frau, obwohl Luc sie aufzog und die Dryade selbst sich nur selten blicken ließ. Doch es war eine Frage des Respekts.

Mit achtzehn ging sie mit einem guten Zeugnis von der Schule ab und bekam einen Platz auf dem College für Gartenbau. Jon besuchte nun die Kunstakademie in Nottingham, sodass Rosie ihn nur selten zu Gesicht bekam, doch ihre Obsession hielt an. Der Gedanke, keine erneute Chance zu bekommen, war kaum auszuhalten.

Eines Tages im August kam Lucas atemlos zu ihr gerannt. »Ich bin im Dorf gerade Jon begegnet«, sagte er. »Er feiert seinen Geburtstag am nächsten Samstag mit einer Party. Alle sind eingeladen – seine Freunde vom College, von der Schule und aus dem Dorf. Möchtest du hingehen?«

Fast hätte Rosie Nein gesagt. Sie ärgerte sich über die Woge des Verlangens und die Herzklopfen verursachende Erregung, die sie erfasste. Wenn Jon sie sehen wollte, wusste er, wo sie wohnte, außerdem hatte er seit vier Jahren eine offene Einladung. Sie brauchte sich nicht noch mehr selbst zu demütigen, indem sie auf diese verdammte Party ging. Aber, überlegte sie hilflos, aber … wenn nun dieses Mal …?

Jedes Mal, wenn sie Stonegate betrat, war es anders. Diesmal wurde aus dem Haus ein trüber, verrauchter Morast aus Heranwachsenden im Kerzenschimmer, durchtränkt vom Geruch verschütteten Biers. Im großen Saal wurde getanzt, die Gäste saßen auf den Treppenstufen und entlang der Galerien. Einzelne Grüppchen zogen sich in die Schlafzimmer zurück, im weihrauchgeschwängerten Wintergarten auf dem Dach erzählte man sich Spukgeschichten. Ein paar Türen waren verschlossen, aber von Jons Eltern war nichts zu sehen. Mel, Faith und Rosie mussten zugeben, dass es eine verdammt gute Party war.

Abgesehen davon, dass Jon unerreichbar war.

Wohin auch immer Rosie sich im Haus begab, er war woanders. Kaum war sie in seine Nähe vorgedrungen, da schien er auch schon zu etwas Aufregenderem aufzubrechen. Schließlich landete sie auf dem Teppich in seinem Zimmer, trank Apfelwein aus der Flasche und ließ sich ihre Ohren von Indiemusik zudröhnen. Bald fing das College an. Dies könnte ihre letzte Chance bei ihm sein. Und sicherlich ihre einzige Chance, sein Schlafzimmer von innen zu sehen.

Wie betrunken Jon wohl sein müsste, um sie plötzlich verführerisch zu finden? Wie betrunken müsste sie sein, um alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und sich ihn zu schnappen?

Faith, die neben ihr saß, trank Limonade und war offensichtlich überfordert, Mel knutschte in einer Ecke mit einem Jungen, den sie erst seit ein paar Minuten kannte. Andere lagen ausgestreckt auf dem Boden und auf dem Bett. Für eine Unterhaltung war es viel zu laut. Es war dunkel im Schlafzimmer, nur vom Korridor fiel trübes Licht herein, und dort sah sie Jon stehen und sich angeregt mit jemandem unterhalten, umgeben von einem halben Dutzend seiner Freunde. Neid packte sie. Was trieben sie in ihrem geheimnisvollen Zirkel bloß? Kiffen, Politisieren, Flaschendrehen?

Rosie sah, dass es Lucas war, mit dem Jon sich unterhielt. Schwankend erhob sie sich, um zu ihrem Bruder zu gehen, aber in den vier Sekunden, die sie brauchte, um den Flur zu erreichen, waren bereits alle verschwunden.

Lucas sah Rosie in der Tür, wo voller Hoffnung ihr Gesicht aus dem Dunkel auftauchte, und er hätte gern auf sie gewartet, aber es war zu spät. Jon und die anderen, die nichts mitbekamen, zogen ihn mit sich, und der Moment, wo er etwas hätte sagen können, war vorüber.

Draußen umfing sie die Sommernacht mit einem kühlen Lüftchen. Jon führte die Gruppe durch ein Gewirr aus Rhododendren und Birken auf einen Bergkamm, wo ein Fels vulkanischen Ursprungs aus dem Heidelandgras ragte. Unter dem Felsen befand sich eine flache Mulde. Der säuerliche Geruch von zertretenem Gras und Farn lag in der Luft. Eichen rauschten vor dem mitternächtlichen Himmel.

Lucas kannte diesen Platz. Freias Krone. In der Mulde breitete Jon ein rotes Samttuch auf dem Boden aus und nahm darauf im Schneidersitz Platz. Mit seinen wehenden Haaren, die auf sein indisches Patchworkoberteil fielen, sah er aus wie ein schöner Schamane, ätherisch und in sich ruhend.

Zu seiner Schar gehörten vier junge Männer und drei Mädchen aus Jons College, alle menschlicher Abstammung, soweit Luc das einschätzen konnte. Manche hatten Musikinstrumente dabei. Aufmerksam saß Lucas in dem Kreis und beobachtete Jon. Alle verstummten in Erwartung einer Zeremonie. Jon zog ein Päckchen bräunlicher, ledriger Scheiben heraus, Pilzkappen. Er legte sie auf einen roten Emailleteller, holte ein Taschenmesser heraus und schnitt jede davon in sechs dicke Scheiben. Dann ließ er den Teller kreisen, als lägen Hostien darauf. Lucas beobachtete, wie die anderen sich etwas von dem Zeug nahmen und es sich mit andächtig geschlossenen Augen auf ihre Zungen legten. Als der Teller bei ihm ankam, zögerte er.

Jons Blick traf seinen. »Nimm nur«, sagte er.

»Was ist das?« Gleich darauf kam er sich wie ein Idiot vor, jetzt hatte er sich als unbedarfter Neuling geoutet.

»Traumblätterpilz«, sagte Jon und sah ihn dabei eindringlich an. »Der wächst in den Schattenreichen. Er öffnet die Pforten der Wahrnehmung. Starkes Zeug. Hast du Angst?«

»Nein«, beeilte Lucas sich, ihm zu versichern. Er nahm eine dicke Scheibe und legte sie sich auf die Zunge. Sie schmeckte modrig und bitter und fühlte sich an wie Gummi, aber auch ein wenig schleimig. Es schüttelte ihn beim Kauen und er schluckte sie schnell hinunter. Da er sie beinahe unzerkaut schluckte, hätte er sie fast wieder erbrochen. Nur Stolz und Panik hielten sie unten. Alle saßen im Schneidersitz, hatten die Augen geschlossen und warteten darauf, dass die Wirkung einsetzte. Gegen seine Übelkeit ankämpfend wartete Lucas mit ihnen.

Ein Kelch mit klebrigem Wein machte die Runde, darauf folgte ein stinkender Joint. Jon begann, belaubte Zweige zu einer groben Form ineinanderzustecken: eine Spirale, die durch ein Pentagramm führte. Einer der Studenten spielte auf der Flöte, während ein Mädchen mit stachelig abstehenden Haaren auf einer Bodhrán den Rhythmus trommelte.

Nichts passierte. Lucas fühlte sich unwohl in dieser absurden Situation und wünschte sich, Rosie wäre dabei. Er wusste selbst nicht, warum Jon ihn sympathisch fand. Sie waren sich auf der Treppe begegnet und Jon hatte ein Gespräch mit ihm begonnen, wobei er ihn eindringlich angeschaut hatte – als hätte er plötzlich Lucs Existenz wahrgenommen.

Es geschah nichts, aber ihm fiel auf, wie weich sich der Boden anfühlte, bröckelig, als könnte er den Raum zwischen den einzelnen Atomen spüren wie Erdkrumen auf einem Spinnennetz. Er legte sich hin, um das Gefühl ganz auszukosten. Der Himmel war das Gesicht einer Gottheit mit blauschwarzer Haut und Sternenströmen als Haare. Estel, die Herrin der Sterne, schaute auf ihre winzigen Körper herab, die sich wie eine Opfergabe auf dem Hügel darboten.

Plötzlich verstand Lucas die Schattenreiche als einen Zustand veränderten Bewusstseins und Gegenentwurf zu einer physischen Anderswelt. Aber ja! Wieso war er da nicht schon früher draufgekommen. Die Menschen um ihn herum wurden undeutlich, aber Jon glühte rot und golden wie eine religiöse Ikone.

Freias Krone war riesig und leuchtete, war überzogen von silbrigen Schneckenspuren. Diese Spuren waren Runen, die auf der Oberfläche schimmerten. Alles um ihn herum verlor sich im Dunkel, aber die Felsen wurden immer wuchtiger, und er hörte, wie es in ihnen rumorte. Gewaltige Zähne mahlten wie Mühlsteine, wie russische Puppen, die eine in der anderen steckten.

Lucas spürte das Mahlen in seinem Körper. Der ganze Fels drehte sich und bohrte sich in die Erde wie eine sich durch Fels fressende Maschine. Unter ihm kippte der Boden weg und er wurde in den strudelnden Wirbel gezogen. Mit einem Schrei fiel er mitten durch die Schattenreiche und hinein in eine Kluft aus Feuer und dampfendem Eis … durch einen endlosen Bogenkorridor, bis er vor sich eine riesige Mausoleumstür aus Granit sah. Sie war so real, dass er die auf ihrer Oberfläche eingravierten Spiralen und Runen erkennen konnte. Er lief Gefahr, daran zu zerschmettern – wenn dies geschähe, das wusste er, wäre es sein Tod.

Weißes Licht knisterte um ihn herum. Er spürte die heftige Erschütterung, als die Tür einen Spalt weit aufging – und alles noch schlimmer machte. Dahinter hauste etwas Fürchterliches, so gigantisch und blendend, dass man blind davon wurde.

Er spürte den immensen Druck der Fluten, die danach verlangten, sich ihren Weg zu bahnen – nur dass diese Flut nicht aus Wasser bestand, sondern aus Schatten, absoluter Dunkelheit und blendendem Feuer. Als er darauf zustürzte, wusste er, dass er seine ganze Willenskraft daransetzen musste, das Tor wieder zu schließen, trotz der Gewissheit, dass der Aufprall ihn töten würde. Doch lieber sterben, als zuzulassen, dass diese entsetzliche Gewalt über die Welt hereinbrach.

Er kämpfte, versuchte es mit Schattenboxen, verdrehte die Finger zu magischen Zeichen, aber nichts half und er konnte sich einfach nur hilflos fallen lassen. Dann tauchte aus dem wirbelnden Chaos ein bleiches, schreckliches Gesicht auf. Es war weit weg, aber riesig – schaute ihn finster mit Augen an, in denen der Wahnsinn loderte, griff nach ihm – und er wusste nur, dass er die Tore zuschlagen musste, bevor dieses Entsetzliche durchbrach –, und plötzlich war es gar nicht mehr weit weg, sondern von menschlicher Größe und ganz nah. »Lucas«, zischte ihm eine Stimme ins Ohr.

Mit einem Schrei kehrte sich ihm das Innerste nach außen, als er sah, dass das über ihm aufragende Schreckensgesicht das von Lawrence Wilder war.

Als er zu sich kam, lag er flach auf der Couch. Er keuchte, ihm war schwindelig und er hatte Bauchschmerzen. Sapphire Wilder beugte sich über ihn und wischte ihm seinen Mund mit einem feuchten Tuch ab.

»Alles ist gut, Lucas. Kannst du mich hören? Schlag die Augen auf, so ist’s gut.«

Lucas schaffte es, sich aufzusetzen. Seine Glieder waren wachsweich. Die Wände um ihn herum glühten rot und golden. Er hatte keine Ahnung, wo er war, aber darauf kam es nicht an. Er hatte die Tore geschlossen, war hart aufgeprallt und lebte. Sapphire gab ihm ein Glas Wasser und er trank, hustete, trank wieder. Er zitterte heftig.

»Guter Junge.« Sapphire wandte sich ab und fragte: »Hat er was genommen?«

Jon stand als verschwommene Gestalt neben der Tür. Er zuckte mit den Schultern. »Nur, wenn er was genommen hat, bevor er herkam.« Dabei sah er Lucas ruhig an, als wollte er jeglichen Widerspruch unterbinden.

»Komisch, er schien mir nicht der Typ zu sein, der Drogen nimmt.«

»Das sehe ich genauso«, sagte Jon. »Er hat Cola getrunken. Vielleicht hat jemand was reingetan.«

»Das wäre allerdings gravierend«, sagte sie und wandte sich wieder Lucas zu. Warm lagen ihre Hände mit den langen Fingernägeln auf seinen und sie verströmte einen frischen, exotischen Duft. »Wie fühlst du dich, mein Lieber?«

»Ganz okay«, sagte Lucas. Er wusste, dass er nichts verraten durfte. Die Welt fühlte sich scharf an wie Glas. »Tut mir leid, Mrs Wilder.«

»Ich denke, du solltest einen Arzt aufsuchen.«

»Nein! Nein, ich möchte meine Eltern nicht beunruhigen. Ehrlich, es war nur Apfelwein. Es wird mir gleich wieder besser gehen.«

»Apfelwein? Jon, auf dieser Party sollte es nur antialkoholische Getränke geben. Das hatten wir vereinbart.«

Jon verdrehte die Augen. »Ein paar haben welchen eingeschmuggelt. Mein Güte, wir sind schließlich alle über achtzehn.«

»Lucas nicht. Egal, darum geht es nicht. Wir hatten eine Vereinbarung: Ich hab mich nicht eingemischt, solange alle sich gut benahmen.« Sie betrachtete Lucas, der den Kopf schief hielt, sodass seine hübsche Mähne ihm über die Schulter hing. Der Edelstein an ihrer Kehle barg ein ganzes Universum winziger Regenbogen. »Doch als Teenager macht man eben manchmal Dummheiten und da brauchen die Eltern ja nicht unbedingt jedes peinliche Detail zu erfahren, nicht wahr?« Sie erhob sich. »Jon, passt du bitte auf ihn auf, während ich Tee koche?«

Jon stellte sich neben die Tür, die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans eingehakt, und wartete, bis seine Mutter gegangen war. Dann kam er zur Couch und betrachtete Lucas mit dunklen, eindringlichen Augen. »Alles okay mit dir?«

»Ich weiß nicht.«

»Mir wurde beim ersten Mal, als ich sie genommen habe, auch übel«, sagte Jon mit einem schiefen Grinsen.

»Sorry«, sagte Lucas, weil er sich für sein uncooles Verhalten entschuldigen wollte. »Ich komme mir wie ein Idiot vor.«

»Das macht doch nichts.« Jon hockte sich auf die Armlehne der Couch und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Mein Vater darf nichts von den Pilzen erfahren. Versprich mir, dass du es keinem erzählst. Er würde ausrasten. Versprichst du mir das?«

»Ich verspreche es dir«, sagte Lucas bestürzt. »Ich hätte auch so nichts gesagt.«

»Du kennst ihn nicht. Er ist fürchterlich, wenn er wütend ist. Er hat mir verboten, auch nur an die Tore zu denken, geschweige denn einen Versuch zu unternehmen, einen Blick auf die andere Seite zu werfen. Wenn er dahinterkäme, was wir getan haben, brächte er mich um.«

Lucas sah ihn erschrocken an. Gleichzeitig zog ihn das Leuchten von Jons Gesicht und die unglaubliche Textur seines Haars an, das an Bronze und Kupfer erinnerte. »Das ist ja furchtbar.«

Jon zuckte mit den Schultern. »Wir müssen vorsichtig sein, das ist alles.«

»Ging es darum?«, fragte Lucas. »Ging es um den Versuch, einen Blick hinter die Großen Tore zu werfen?«

»Ja, du weißt schon, durch Visionen.«

»Das hast du nicht gesagt.«

Jon grinste. »Ich weiß. Es ist besser so. Sonst erfinden die Leute Sachen, um Eindruck auf mich zu machen. Was hast du also gesehen?«

Lucas zögerte. Er mochte Jon und wollte ihm gefallen. »Es war ein ziemliches Durcheinander. Ich stürzte hinunter. Die Felsen wurden silbern, öffneten sich und ließen mich durch, aber dann prallte ich auf dieses große Steintor …« Seinen Albtraum wollte er nicht beschreiben. Das ergab alles keinen Sinn und die Angst saß ihm noch in den Gliedern. »Ich weiß, das klingt alles eher dürftig.«

»Nein, das ist wirklich interessant. Du hast mehr gesehen, als ich jemals sehe, obwohl ich es immer und immer wieder versucht habe. Es gibt Kräfte, die wollen uns aufhalten, und wir müssen lernen, ihre Täuschungen zu durchschauen.«

»Und deine menschlichen Freunde … sehen die denn irgendwas?«

Jon zuckte die Achseln. »Nicht wirklich. Menschen haben kein Gespür dafür. Weißt du, sie berichten, allen möglichen exotischen Quatsch gesehen zu haben, aber nichts Reales

»Warum gibst du dich dann mit ihnen ab?«

Er antwortete darauf mit einem schiefen Lächeln. »Ich genieße es, der Guru zu sein. Das macht mich zu was Besonderem. Und man weiß ja nie, vielleicht hat einer von ihnen tatsächlich eine Offenbarung. Aber wir sind anders, Luc. Wir sind Elfenwesen und darauf eingestimmt; es ist bereits in uns vorhanden und wartet nur darauf, in die richtigen Kanäle gelenkt zu werden. Wir können es irgendwann noch mal versuchen, wenn du Lust dazu hast?«

»Hier kommt der Tee.« Sapphire kam fröhlich mit einem Tablett ins Zimmer. Jon erhob sich und legte dabei eine Fingerspitze auf seine Lippen. »Möchtest du sonst noch etwas, Lucas?«

Er lächelte, dankbar für ihre Zuwendung. »Es wäre schön, wenn Sie meine Schwester herholen könnten.«

Rosie schaute auf ihre Uhr. Eine halbe Stunde nach Mitternacht. Mel war mit ihrer neuesten Eroberung verschwunden, Faith in einer Ecke eingeschlafen und Rosie langweilte sich. Es lagen noch ein paar knutschende Pärchen und halbe Schnapsleichen im Raum, niemand, mit dem man sich wirklich hätte unterhalten können. Offenbar ging man davon aus, dass die Gäste über Nacht blieben, aber Rosie wäre lieber nach Hause gegangen. Doch Jessica wäre sicherlich sauer, wenn sie mitten in der Nacht den Berg hinunterliefe und Lucas zurückließ. Sie seufzte. Vielleicht fände sie Jons Partymeute ja im Wintergarten, aber bei ihrem Pech würde Sam sich bestimmt ausgerechnet diese Nacht aussuchen, um wieder nach Hause zu kommen, und liefe ihr in einem der dunklen Korridore über den Weg. Wenn ihr nichts Schlimmeres begegnete.

Und dann kam ihr Traum durch die Tür.

Jon stand an der Türschwelle. Er kam auf sie zu, ohne einen anderen anzusehen, sein Haar fiel ihm flammend auf die Schultern und sein Gesicht glänzte ernst im Halbdunkel.

»Könntest du bitte mitkommen, Rosie? Ich muss mit dir reden.«

»Klar«, sagte sie mit vorgetäuschter Nonchalance.

Schweigend führte er sie über die Gänge, in denen sie sich jedes Mal verirrte. Ihr Herz hüpfte vor Freude. Sie spürte Jons Lebendigkeit so warm und seidig, dass sie Mühe hatte, ihn nicht anzufassen. Mel hätte sich diese Chance nicht entgehen lassen, aber Rosie war so nervös, dass sie sich sicher war, es zu vermasseln.

»Was ist denn?«, erkundigte sie sich leichthin, um das Schweigen zu brechen.

»Lucas ist krank geworden«, sagte Jon. »Er musste sich übergeben und ist irgendwie ohnmächtig geworden. Jetzt scheint er wieder okay zu sein, aber er hat nach dir gefragt.«

Rosie wurde das Herz schwer. Ihr Traum war zerbrochen und Angst füllte die Leere. »Was ist mit ihm?«

»Zu viel Apfelwein, sagt er.«

»Dieser Blödmann!«

Jon führte sie zu einer Treppe, die sie bisher noch nie entdeckt hatte, und begleitete sie in den ersten Stock. Auf dem Treppenabsatz hüllte der Duft von Blumen und Kerzen sie ein. Alles war in Elfenbeinfarbe und Zartgrün gehalten, an den Wänden hingen japanische Kalligrafien.

»Er ist hier drin«, sagte Jon und lächelte entschuldigend, als er die Tür zu einem Wohnzimmer mit zwei Sofas öffnete, das ganz in Rot und im chinesischen Stil ausstaffiert war.

Sie war wütend, aber als sie den zitternden Lucas sah, der bleich wie ein Gespenst war und von Sapphire umsorgt wurde, schmolz sie dahin. »Was soll denn das?«, fragte sie und setzte sich neben ihn. »Du kannst dich doch nicht volllaufen lassen wie ein Wikingergott. Außerdem bist du noch gar nicht alt genug.«

Er lächelte sie matt an. »Ich weiß. Versprichst du mir, dass du unseren Eltern nichts erzählst?«

»Es tut mir wirklich sehr leid, Mrs Wilder«, sagte Rosie verlegen, weil sie sich verantwortlich fühlte. »Normalerweise weiß er sich zu benehmen.«

»Das ist doch nicht deine Schuld, meine Liebe. Das gehört leider alles zum Erwachsenwerden dazu.«

Jon sagte: »Ist es in Ordnung, wenn ich wieder gehe, Sapphire? Ich sollte mich um die anderen kümmern.«

Sapphire wandte sich ihm kühl zu und sagte: »Deine Gäste werden jetzt sicherlich nach Hause oder zu Bett gehen wollen. Kümmere dich um sie und ich sehe nach den beiden hier.«

»Danke.« Und sehr zu Rosies Bedauern schlüpfte Jon hinaus. Er war offensichtlich erleichtert, flüchten zu können, und nicht im Entferntesten daran interessiert, Zeit in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Nichts hatte sich verändert. In ihr starb ein kleines Stück ab.

»Ich könnte meinen Vater anrufen und ihn bitten, uns abzuholen«, schlug sie vor.

Als Sapphire sich daraufhin gelassen vorbeugte, hatte Rosie das merkwürdige Gefühl, in einem goldenen Käfig gefangen zu sein. Ihre weiche Stimme hatte einen verzaubernden Klang. »Das ist nicht nötig. Wir wollen Lucas doch nicht in Schwierigkeiten bringen, oder?«

»Dad ist kein Unmensch«, erwiderte Rosie scharf. »Er würde sich ein bisschen aufregen, aber dann wäre es auch wieder vergessen.«

»Peinlich ist es aber doch«, warf Lucas ein. »Ich würde ehrlich gesagt lieber hierbleiben, Rosie. Mir geht’s gut.«

Sie seufzte, weil sie beim Gedanken an eine lange ruhelose Nacht in diesem Haus ein nervöses Kribbeln verspürte. Was anderes wäre es natürlich, wenn sie die Nacht eng umschlungen mit Jon verbrächte, doch diesen Gedanken verdrängte sie schnell wieder. »Hauptsache, du fühlst dich wieder besser.«

»Ich habe Kamillentee gemacht«, sagte Sapphire und schenkte welchen aus einer Teekanne mit Bambusgriff ein. »Es ist schön, mal Gelegenheit zu haben, dich besser kennenzulernen. Wir haben uns noch nie richtig unterhalten, nicht wahr?«

»Nein, nicht wirklich«, sagte Rosie zögernd. Sapphire war so charismatisch und souverän. Sie füllte den Raum mit ihrer Präsenz wie Jasminduft, und Rosie war noch immer nicht davon überzeugt, dass sie menschlicher Natur war. Bei einigen Elfenwesen ließ sich das nur schwer feststellen, wie Auberon ihnen erzählt hatte. Sie hielten ihre Aura so fest verschlossen, dass man sie nicht spüren konnte. Wieso sollte jemand wie Lawrence auch eine Menschenfrau heiraten?

»Ich freue mich immer, eine so glückliche Familie zu sehen, in der sich alle sehr nahezustehen scheinen«, fuhr Sapphire fort und reichte Rosie eine Tasse mit Untertasse. »Leider mussten Jon und Sam auf die Nähe ihrer Mutter und ein richtiges Familienleben verzichten. Ich versuche, das jetzt wiedergutzumachen.«

»Äh-ja. Ich kann mir ein Leben ohne unsere Mum nicht vorstellen.« Sie trank den brühheißen mit Honig gesüßten Tee, um ihr Unbehagen zu kaschieren.

»Du bist offenbar von der vorsichtigen Sorte, Rosie?«, meinte Sapphire lächelnd. »Du gibst nicht viel preis von dir. Ich hoffe, du wirst dich öffnen, wenn wir uns erst mal kennen. Leider sind Lawrence und ich mit dem Schmuckgeschäft viel zu beschäftigt gewesen, um wie geplant ein gesellschaftliches Leben zu führen, aber das würde ich gern ändern.«

»Oh … ich weiß, dass mein Dad und Mr Wilder sich kennen, aber wir haben ihn nie oft zu Gesicht bekommen – ich meine, wir wissen zwar nicht, was unsere Eltern so machen, das ist eine andere Welt.« Rosie lächelte matt.

»Aber ihr steht doch Jon und Sam ziemlich nah?«

»Nein, wir hatten nie Gelegenheit dazu. Sie waren auf dem Internat und …«

»Ja, das ist so schade. Sam ist natürlich ein Kapitel für sich, aber du und Jon, ihr scheint doch gut miteinander auszukommen, nicht wahr, Lucas?«

»Ja, er ist toll«, sagte Lucas mit verdutzter Miene.

»Er mag dich wirklich sehr, mein Lieber. Ich denke, Jon und Lucas gleichen sich wie ein Ei dem anderen, findest du nicht, Rosie?« Sapphire zeigte beim Lächeln ihre blendend weißen Zähne. »Ein paar wirklich gut aussehende junge Männer.«

Lucas wand sich und wurde rot. Unter anderen Umständen hätte Rosie das zum Lachen gebracht. Sie sagte: »Das ist mir noch gar nicht aufgefallen, aber Sie haben vermutlich recht.«

Sapphires Lächeln wurde wissend und vertraulich. »Natürlich ist dir das aufgefallen. Frauen bemerken so etwas. Wir verstehen Dinge auf einer tieferen Ebene, Dinge, die oberflächlich nicht offensichtlich sind.«

Es folgte ein merkwürdiger Moment, während dessen Sapphires Blick forschend, andeutend und beobachtend auf Rosie verweilte, um deren Reaktion zu verfolgen. Irritiert runzelte Rosie die Stirn. Sapphire fing das Signal auf und der forschende Blick verschwand.

»Wisst ihr, meine Lieben«, wechselte sie geschickt das Thema, »wenn es eins gibt, wozu ich jungen Leuten rate, dann zum Gespräch mit den Eltern. Aufrichtige Kommunikation ist der Schlüssel zum Glück.«

»Wir unterhalten uns mit ihnen«, sagte Rosie, besorgt darüber, dass Sapphire ein Problem vermuten könnte, wo gar keines bestand. »Sie sind fantastisch.«

Sapphires perfekte Augenbrauen zuckten und ihre vollen rosa Lippen teilten sich. »Gut«, meinte sie lächelnd. »Wir unterhalten uns ein andermal weiter. Jetzt solltet ihr aber schlafen. Wir haben zwar viele freie Zimmer, aber nicht viele mit richtigen Betten darin. Lawrence’ Exfrau hatte nicht viel übrig für Häuslichkeit und Gastfreundschaft, wie ihr vermutlich gemerkt haben werdet. Werdet ihr auf diesen Sofas hier klarkommen? Ich bringe euch Decken und Kissen. Auf diese Weise kannst du deinen Bruder im Auge behalten.«

»Vielen Dank«, sagte Rosie. »Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.«

»Aber gern, meine Lieben.« Sapphire hauchte ihnen einen Kuss zu.

Lucas war mit Jon auf dem Dachboden. Das geflügelte Wesen war vor ihnen – kein Gemälde, sondern lebendig – und es versteckte sein Gesicht in seinen Händen. Von Zeit zu Zeit schluchzte es leise und gequält.

Auch Sapphire war dabei und beugte sich über den Kopf des Engels. Zwischen den sich auftürmenden Schatten war sie kaum zu sehen. »Das ist Sache deines Vaters«, sagte sie.

»Wir müssen es freilassen«, sagte Lucas verzweifelt. »Ihr könnt es hier nicht gefangen halten, das ist falsch, das ist grausam!«

»Ich kann nichts dagegen tun«, sagte Sapphire. Sie legte ihre Hand unter das Gesicht des Wesens und fing eine große glänzende Träne auf. Als sie diese in die Höhe hielt, sah Lucas, dass es ein tränenförmiger Elfenstein war. »Hierher kommen die Albinitsteine. Es sind die Tränen des gefangenen Gottes.«

»Warum weint er?«, wollte Jon wissen.

»Wegen all der unerwiderten Liebe, mein Lieber«, sagte Sapphire.

Lucas schreckte mit Herzklopfen aus diesem schrecklichen Albtraum auf. Er brauchte einige Zeit, bis er wieder wusste, wo er war. Er schaute hoch an die Decke und überlegte, ob sich der Dachboden über ihm befand und der Engel noch immer dort oben war und weinte.

Er versuchte wieder einzuschlafen, aber der Raum drehte sich und er fiel wieder in den steinernen Kiefer der Tore. Seine Schwester schlief tief und fest. Durstig und ausgehungert beschloss Lucas, sich auf den Weg in die Küche zu machen.

Rosie regte sich nicht, als er sich aus dem Zimmer schlich. Auf Zehenspitzen und barfuß trat er im Pyjama hinaus auf den Korridor und tastete sich hinunter zum Zwischengeschoss, wo kaltes Mondlicht die lange Galerie erhellte. Rosie klagte immer, dass dieses Haus sich bewegte und einem Streiche spielte, aber er empfand es als überaus solide, wie eine Festung.

Teppiche kitzelten an seinen Füßen, die Treppenstufen waren kalt und wachsglatt, dann folgten die Steinfliesen des großen Saals, auf denen man wie auf Eis ging. Die Halluzinogene waren noch immer in seinem Kreislauf aktiv und alle seine Sinne reagierten überempfindlich. Vielleicht träumte er immer noch.

Die Küche war teuer renoviert worden und roch nach frischem Holz – Sapphires Werk. Mondlicht fiel rautenförmig auf helles Holz und schwarzen Marmor. Unter einem Fenster entdeckte er die Spüle, hielt seinen Mund unter den Wasserhahn und trank einen großen Schluck Wasser. Dann tastete er mit seinen Händen über die Arbeitsfläche, bis er eine Bonbondose aus Porzellan fand.

Als er den Deckel entfernte, schienen ihm menschliche Gehirne entgegenzuquellen – oder Pilzköpfe. Er zuckte zurück. Nein, es waren nur Haferkekse. Er nahm sich eins und es schmeckte köstlich.

Beim Essen grübelte er über Jon nach – welche Absichten er in Wahrheit damit verfolgte, psychedelische Pilze zu verteilen –, aber er konnte nicht klar denken. Das Mondlicht war dicht wie Kristall und die Dunkelheit fühlte sich auf seiner Haut pelzig an. Nichts war, wie es sein sollte. Nur die mehlige Wärme von Hafer auf seiner Zunge verankerte ihn in der Wirklichkeit.

Dann berührte ihn etwas im Dunkeln.

Um seine Schenkel schlich ein Schatten, der nach den Krümeln schnüffelte, die er fallen ließ. Er versuchte ihn mit seinem Knie zu vertreiben, aber er traf nur Luft. Der Schatten hatte weder Masse noch Geruch, aber er war da. Kein Tier, sondern etwas Geschmeidiges und Hungriges, dessen Berührung sich wie feuchtes Leder anfühlte.

Lucas war wie versteinert. Sein Arm streckte sich nach der Wand aus, bis er einen Lichtschalter fand. Grelles Licht blendete ihn, doch er sah, dass zu seinen Füßen kein Dämon saß.

Aber da war ein Mann im Raum mit ihm.

In der Mitte der Küche stand eine Kochinsel, und der Mann befand sich dahinter und starrte ihn an. Bleiche Haut straffte sich über harten Knochen, das schwarze Haar war nach hinten gekämmt, die schmalen Augen farblos. Das Gesicht aus seinem Rauschgiftalbtraum. »Schalt das Licht aus«, zischte er.

Erschrocken gehorchte Lucas. Jetzt blendete ihn die Dunkelheit. »Ich … ich … Es tut mir leid, Mr Wilder«, stieß er hervor. »Ich wusste nicht, dass Sie … Ich werde gehen.«

»Nein.« Eine Hand fiel auf Lucas’ linke Schulter und ließ ihn zusammenzucken, als hätte er einen Stromschlag bekommen. »Es ist gut, Lucas.« Lawrence’ tiefe, ruhige Stimme kam rollend aus der samtigen Dunkelheit. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Es tut mir leid.«

»Schon okay.« Er wusste, dass Lawrence spürte, wie er zitterte, aber er konnte es nicht unterdrücken.

Eine weitere Hand tauchte hinter ihm auf, um auch noch seine rechte Schulter zu packen. »Ist alles in Ordnung mit dir? Atme mal tief durch. Ich hab gehört, das soll helfen.«

Lucas zitterte und wäre am liebsten im Boden versunken. Als die Schockwelle verebbte, schlug auch sein Herz wieder langsamer.

»Konntest wohl auch nicht schlafen?«, fragte Lawrence und klang dabei recht freundlich.

»Nein, Sir«, murmelte Lucas. »Ich hatte Hunger.«

»Natürlich. Bedien dich. Ich wollte gerade Tee kochen.«

Die schweren Hände fielen von ihm ab. Lawrence stand als Schattenriss vor dem Fenster, füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Dann lehnte er sich neben Lucas über die Arbeitstheke und verfiel im Dunkeln in das merkwürdigste Schweigen, das Lucas je erlebt hatte. Er wusste nicht, wie er entkommen sollte. Wieder spürte er den greifenartigen Schatten, der sich durch den Raum bewegte. Wortlos, weil er Angst hatte, etwas zu sagen, starrte er darauf und versuchte ihn zu sehen.

»Es ist nur ein Disir«, sagte Lawrence. »Sie sind so etwas wie Wachhunde, aber nur, um zu warnen, nicht, um jemandem wehzutun. Ich befehlige sie, da der offizielle Disir-Hüter mich verlassen hat, aber das heißt nicht, dass ich sie hierhaben will, diese mir auferzwungenen Insignien meines Amts. Wächter oder Spione?«

Wäre Lucas ein Mensch gewesen, wäre er sicherlich zu der Überzeugung gelangt, dass Lawrence durch und durch wahnsinnig war. Da sie jedoch beide Elfenwesen waren, empfand er ihn nur als teilweise wahnsinnig. »In unserem Haus habe ich noch nichts Derartiges gesehen«, sagte er. »Auch nicht in den Schattenreichen.«

»Nun, da kriegst du sie auch nicht zu Gesicht«, sagte Lawrence freundlich. »Deine Familie ist glücklich und heil und lebt so, wie es sich für Geschöpfe des Äthers schickt: mit den Wurzeln in der Erde und ihren Zweigen im Licht. Solche Spukgestalten suchen dein Zuhause nicht heim.«

»Ich – ich sollte wieder zu Bett gehen.«

»Nein, bleib. Lass uns Tee trinken und reden.« Man konnte sich Lawrence’ Ton unmöglich widersetzen. Er schenkte kochendes Wasser in Becher. »Ich trinke meinen mit einem Schuss Whiskey. Möchtest du auch einen? Gegen den Schrecken?«

Lucas hustete. »Nein – nein danke.«

»Nur einen Tropfen. Du bist doch kein Kind mehr.«

»Oh, äh – also gut, danke Sir.« In Lucas keimte ganz unschuldig der Verdacht, dass dies für Lawrence nicht der erste Drink an diesem Abend war.

»Du bist sechzehn, nicht wahr?«

»Ja.« Der Tee war schwarz, süß und brannte heiß in seiner Kehle. Wenn Rosie am Morgen seinen Atem roch, würde sie durchdrehen. Doch Lucas hatte das Gefühl, als würde dieser Morgen niemals kommen. Denn sicherlich würde Lawrence Wilder sein Blut trinken oder ihn ersticken.

»Sechzehn. Alt genug für die Initiationsriten. Alt genug, Wissen zu empfangen. Ich gehe davon aus, dass dein Vater ein sehr schlimmes Bild von mir gezeichnet hat.«

»Nein, überhaupt nicht«, sagte er. »Ich hatte immer den Eindruck, dass er Sie bewundert – zwar widerwillig, aber immerhin.«

Lawrence lachte bellend. »Das ist ja toll. Dein Vater – wie immer der Diplomat, der Philanthrop, das Rückgrat unserer Gemeinschaft. Typisch dein Vater …«

Wieder Schweigen. Der Tee mit Schuss trieb Lucas noch weiter weg von der Realität. Er beobachtete den herumschweifenden Disir und wartete darauf, dass Wilder weitersprach.

»Die Sache ist nämlich die – und man sollte dir das erzählen, denn du bist jetzt alt genug, zu erfahren, was deine reizende Familie zweifellos für immer unter den Teppich zu kehren versucht hat: Eigentlich bin ich dein Vater.«

»Sie sind was?« Lucas musste unfreiwillig lachen. Lawrence lachte auch und dabei verzog er fröhlich sein kaum sichtbares Gesicht.

»Du bist mein Sohn, lieber Junge. Nicht der von Auberon. Meiner.«