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Kampf der Dämonen

Am nächsten Morgen war Lucas auf dem Heimweg sehr schweigsam, aber es war kein freundliches Schweigen, sondern ein eisiges, verbissenes. Er bestand darauf, aufzubrechen, bevor alle anderen aufstanden. Rosie musste alles zweimal sagen, und wenn sie dann zu ihm durchgedrungen war, sah er sie mit umnebeltem Blick an.

»Was ist denn los mit dir?«, sagte sie. »Pflegst wohl noch immer deinen Kater?«

»Nein«, erwiderte er schroff und schob missmutig seine Hände in die Taschen. »Mir geht es gut.«

»Was hattest du denn mit Jon zu schaffen?« Sie vermochte kaum die Eifersucht aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Wie besonders muss man denn sein, um sich seiner geheimen Clique anschließen zu dürfen?«

»Mein Gott, Rosie, bist du besessen? Es gibt wichtigere Dinge als die Frage, ob es dir gelingt, Jon aufzureißen!« Dieser Ausbruch erschreckte sie. Dann fragte er sie unvermittelt: »Findest du, dass ich ihm ähnlich sehe?«

»Jon?«, fragte sie verblüfft. »Nicht wirklich.«

»Habe ich irgendeine Ähnlichkeit mit Lawrence?«

»Nein. Warum solltest du auch?«

»Weil … letzte Nacht, ich …« Lucas blieb stehen, setzte sich auf einen Fels und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. Er seufzte und stammelte und dann brach die Geschichte aus ihm heraus. Rosie hörte sie sich ungläubig an. »Ich muss Mum fragen, ob das stimmt«, endete er gequält.

Sie starrte ihn an und ihr wurde schwindelig bei dieser Vorstellung. »Nein, das kann unmöglich sein.«

»Wieso sollte Lawrence mir dann so eine faustdicke Lüge auftischen?«

»Ich weiß es nicht! Aber überleg doch mal – du kannst Mum doch nicht fragen, ob sie eine Affäre hatte!«

Lucas sah sie verzweifelt an. »Nein, du hast recht, das kann ich nicht. Das ist zu furchtbar.«

Sie schwiegen, aber nach einiger Zeit meinte Rosie: »All diese seltsamen Andeutungen, die Sapphire letzte Nacht machte …« Sie starrten einander an.

»Nein. Wie konnte Sapphire es vor mir wissen? Das ist nicht fair. Aber das spräche dafür, dass es die Wahrheit ist.«

»Komm schon«, beruhigte sie ihn. »Vermutlich ist es nur ein Missverständnis.«

Sie zwängten sich durch die Hagedornbüsche in Oakholmes Garten, wo sie auf Jessica stießen, die die Vögel im weichen Morgensonnenschein mit Brotkrumen fütterte. Anmutig lief sie mit nackten Füßen in ihrem langen Rock umher, ihr Haar ein wirrer goldener Schleier. Sie winkte und rief ihnen zu, in die Küche zu kommen, wo sie gerade Kaffee einschenkte.

Als sie an dem großen Kieferntisch Platz nahmen, setzte Lucas sich dicht neben Rosie und verhielt sich ganz still, als erwartete er, dass ihm gleich jemand eine Erklärung abverlangen würde. Jessica sah ihre Tochter fragend an, die den Blick aber bloß ausdruckslos erwiderte. »Alles in Ordnung mit euch beiden?«, fragte Jessica. »War’s denn eine gute Party? Ist es spät geworden?«

»Es war seltsam«, erwiderte Rosie, als Lucas den Mund nicht aufmachte. »Was aber für die Wilders vermutlich ganz normal ist.«

Lucas stierte vor sich hin, während seine Finger seinen Kaffeebecher umschlossen. »Hat dir jemand was getan?«, erkundigte sich Jessica jetzt mit mehr Nachdruck. Dabei berührte sie sein Handgelenk, doch er entzog es ihr.

»Nein.« Er kaute auf seiner Unterlippe, seufzte und sagte: »Ich hatte bloß einen verrückten Traum.«

Rosie schlug das Herz bis zum Hals. Sie schüttelte den Kopf, aber er achtete nicht auf sie. »Ja.« Er sah seiner Mutter in die Augen. »Ich habe geträumt, ich sei Lawrence Wilder begegnet, und er hat mir erzählt, dass er mein Vater sei. Was war denn das für ein Traum?«

»Ein absolut lächerlicher«, sagte Rosie.

Jessica lachte. Bestürzung verdunkelte ihr Gesicht. »Ach, du meine Güte«, hauchte sie.

»Es war doch nur ein Traum oder, Mum?« Lucas sah sie eindringlich an. »Aber warum sollte er in einer Angelegenheit wie dieser lügen?«

»Ach, du mein Güte«, sagte Jessica wieder. »Erzähl weiter.«

Lucas beschrieb, dass er in die Küche hinuntergegangen und dort im Dunkeln einem Mann begegnet sei, dann von dem surrealen Gespräch. Langsam kehrte Farbe in sein Gesicht zurück und es brabbelte fast aus ihm heraus, so sehr erleichterte ihn dieses Geständnis. »Ich sag’s dir, es war wie in Star Wars: ›Ich bin dein Vater, Luke‹, nur ohne die Kostüme und das laute Schnaufen. Aber wieso sagt er so etwas? Ich begreif es nicht.«

»Dieser Mistkerl«, flüsterte Jessica. »Er hatte kein Recht dazu. Das hätte nicht passieren dürfen.«

»Mum?«, sagte Rosie erschrocken.

»O Gott.« Jessica schob ihren Stuhl zurück, stand auf und drehte ihnen den Rücken zu. Hielt sich die Hand vor den Mund, ließ sie dann aber wieder sinken. Sie lief auf und ab und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

Während Rosie ihre Mutter aufgewühlt von einem inneren Kampf hin und her laufen sah, legte sich Fassungslosigkeit wie eine Kruste um ihr Herz. »Er hatte kein Recht dazu … Lucas, ich wollte es dir immer sagen, aber der Zeitpunkt war jedes Mal unpassend. So hätte es nicht passieren dürfen, du hättest es von mir erfahren sollen, nicht von ihm.«

Rosie und Luc starrten sie an und sahen eine andere Person. Sie kehrte zum Tisch zurück und betrachtete sie ernst und eindringlich. Ihrem Blick war die Verzweiflung anzusehen, als sie leise sagte: »Es tut mir so leid.«

»Nein«, sagte Lucas, dessen Gesicht sich vor wütender Qual verzog. Als hätte er alles verloren, sagte er: »Ich will nicht Lawrence’ Sohn sein. Ich möchte Dads Sohn sein.«

»Aber das bist du doch auch in jeder anderen Hinsicht, bis auf –«

»Was ist passiert?«, fragte Rosie kleinlaut. »Hattest du eine Affäre?«

Jessica senkte ihren Blick. »Ich habe einen fürchterlichen Fehler gemacht.«

»Und der bin ich, nicht wahr?«, schrie Lucas und sprang auf. »Ein fürchterlicher Fehler?«

»Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint.« Dann hielt Jessica seine Hände und versicherte ihm, wie sehr sie ihn liebe, wobei er sich ihr aber zu entreißen versuchte, bis alle drei in Tränen ausbrachen. Schrecklich.

»Rosie«, sagte Jessica grimmig. »Lass mich mit Lucas ein paar Minuten allein.«

Ein Schrecken wie dieser brachte die ganze Welt ins Wanken. Rosie saß auf einem Stuhl am Fenster ihres Zimmers und weinte ein wenig, ohne genau zu wissen, warum. Lucas war noch immer ihr Bruder, keiner war gestorben. Doch es fühlte sich ganz danach an.

Nach einer Stunde hörte sie das Klicken ihrer Tür und Jessicas Schritte auf dem Teppich. »Ist alles in Ordnung mit dir, mein Schatz?«

»Ist mit Lucas alles in Ordnung?«, fragte Rosie und drehte sich um. »Das ist doch die Frage.«

Jessica hockte sich auf die Bettkante und sah sie an. »Noch nicht, aber ich hoffe, er beruhigt sich. Wir sind doch noch immer alle dieselben.«

»Sind wir das? Gott sei Dank.« Rosie wäre gern wütend gewesen, aber ihre Verwirrung war zu groß.

Jessica hakte sanft nach: »Und wie wütend bist du auf einer Skala von eins bis zehn?«

»Um die neun«, sagte Rosie. »Ist schon gut, Mum, ich werde dich nicht anschreien.«

»Du hast jeden Grund dazu.«

»Ja, aber wir lösen doch Probleme nicht mit Schreien, oder? Wir sind zivilisiert. Aber … ich kann es nicht glauben. Dad verehrt dich.«

»Und ich verehre ihn.«

»Wie konntest du dann?«

»Manchmal ist das nicht genug.« Jessica richtete ihren Blick auf ihre nackten Füße und rieb einen am anderen. »Wenn einem alles zu perfekt erscheint, wird man leicht ruhelos. Es gab vor langer Zeit einen Moment, da war ich nicht richtig bei mir und habe erst danach bemerkt, wie sehr ich Bron doch noch liebte.«

»Und dieser Moment – ohne Einzelheiten bitte –, was führte dazu?«

Jessica sah sie mit festem Blick an. »Es gibt nichts, was ich zu meiner Entschuldigung anführen könnte. Ich war impulsiv und selbstsüchtig, mehr nicht.«

Rosie war dankbar, dass sie nicht ausführlicher darauf einging. »Weiß Dad Bescheid?«

»Ja. Er hat es immer gewusst.«

»Und hat dir vergeben?«

»Später dann.« Jessica lächelte matt. »Er ist ein guter Mann. Er hat ein Herz so weit wie die Erde. Und beschloss auf der Stelle, Luc wie seinen eigenen Sohn aufzuziehen. Daran hat er sich immer gehalten.«

»Und Luc kann unter gar keinen Umständen von ihm sein?«

»Nein. Er war in der fraglichen Zeit ein paar Wochen geschäftlich unterwegs, deshalb …«

»Wann wolltest du es uns erzählen?«

»Ich weiß es nicht. Es war einfacher, es vor mir herzuschieben. Wieso es zum Problem machen und Luc das Gefühl geben, dass er anders war? Dieser verdammte Lawrence! Aber der Fehler liegt bei mir. Dass ihr es auf diese Weise erfahren müsst, war wirklich das Letzte, was ich mir gewünscht habe, aber es sollte wohl so sein. Mea culpa, es tut mir so leid.«

»Meine Wut ist jetzt auf Pegelstand sechs gesunken«, murmelte Rosie. »Sapphire hat gestern Nacht Andeutungen gemacht, gemeint, wie ähnlich Jon und Luc sich doch seien. Sehr seltsam. Als ich nachzufragen versuchte, was sie damit meinte, sah sie uns ernst an und erteilte uns eine Lektion über Gespräche, die wir mit den Eltern führen sollten.«

Jessica stöhnte. »Das ist ja großartig, Sapphire weiß also Bescheid.«

»Vermutlich wissen in Cloudcroft bis auf Luc und mich alle Bescheid.«

»Nein. Nur Phyll und Comyn, und sie würden es nie weitertragen. Ob Lawrence es seinen eigenen Söhnen erzählt hat – ich habe keine Ahnung.«

»O Gott.« Rosie wurde schlagartig klar, dass die Schockwelle sich ausbreiten würde. Sam bekäme dadurch noch mehr Munition geliefert und Jon einen Grund mehr, sie zu verachten. »Erinnerst du dich an den Rat, den du mir gegeben hast, Mum … hinsichtlich unserer Macht, unsere Fruchtbarkeit zu kontrollieren? Wenn es also ein Unfall war – warum hast du beschlossen, ein Kind von Lawrence zu bekommen?«

Die Frage hing schwer zwischen ihnen.

»Das kann ich nicht beantworten«, sagte Jessica mit belegter Stimme. »Ja, ich ließ es geschehen, aber bis zum heutigen Tag habe ich keine Ahnung, warum. Ein Impuls. Als hätte Lucas darauf bestanden, geboren zu werden, und ich nicht den Willen gehabt, dies zu verhindern. Und wer wollte schon auf ihn verzichten müssen?«

»Keiner«, sagte Rosie emphatisch.

Jessica hielt den Kopf schief. »Kannst du mir verzeihen?«

»Sofern Lucas es kann.« Sie ging zu ihrer Mutter und schloss sie in ihre Arme. »Es ist kein Weltuntergang.«

Sie hielten einander lang umschlungen. »Du bist ein wunderbares Mädchen, Rosie. Auf jeden Fall hast du Auberons freundliches Herz. Ich muss ihn anrufen, und dann ist da noch Matthew … Nun komm schon, der Tag wartet.«

Rosie erhob sich, zwar ruhiger jetzt, aber noch immer erschüttert. »Mum … dein, äh, Moment mit Lawrence … das ist nicht der Grund, weshalb Ginny ihn verlassen hat, oder?«

Eine lange Pause. Schließlich antwortete Jessica, die bereits auf dem Weg zur Tür war: »Sagen wir mal so, es hat die Situation nicht verbessert.«

Später fand Rosie Lucas, weil sie dem Geräusch eines Tennisballs folgte, den er gegen die Garagenwand schlug. Er grinste sie an, wandte sich gleich darauf aber wieder ab und knallte den Ball nur umso heftiger dagegen.

»Hör auf«, sagte sie und zog ihn am Arm. Sie ging mit ihm in eine Laube mit einer von Moos bedeckten Sonnenuhr und einer Steinbank und ließ ihn neben sich Platz nehmen. »Wie verlief dein Gespräch mit Mum?« Er wandte sich seufzend ab. »Na komm schon, wir müssen reden.«

»Wozu soll das gut sein?«, fragte er. »Mum meint, sie kann es mir leichter machen, aber das kann sie nicht. Ich dachte, ich wüsste, wer ich bin, und jetzt … ich fühle mich elend.«

»Es war unglaublich grausam von Lawrence, es dir auf diese Weise zu sagen. Warum hat er das getan?«

Lucas zuckte mit den Schultern. »Es war das erste Mal, dass er mir je allein begegnet ist, und er hatte auch schon einiges getrunken. Jedenfalls war er ehrlich. Womit ich nicht klarkomme, ist der Betrug.« Er saß auf der Kante der Bank, auf der er sich mit seinen Händen abstützte, sein dunkles Haar fiel nach vorne. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Lawrence war nicht zu leugnen, wie sie fand, die langen Gliedmaßen und die hagere Gestalt. »Ich will mir nicht vorstellen, wie es passiert ist.«

»Ich auch nicht«, sagte sie, und sie schwiegen, entschlossen, nicht darüber nachzudenken. »Nur Mum weiß es und sie sagt nichts.«

Lucas kaute an seinem Daumennagel. »Willst du wissen, was ich vergangene Nacht mit Jon gemacht habe? Wir haben versucht, durch die verschlossenen Tore in die Anderswelt zu gelangen.«

Ihr fiel die Kinnlade herunter, zugleich jagte ihr Jons Name einen Stromschlag durch den Körper. »Was? Wie?«

»Nicht im wörtlichen Sinn.« Er lachte verschämt. »Gewissermaßen in … Trance.«

»Und ist es dir gelungen?«

»Nein. Ich glaube, er erwartete von mir, dass ich unglaubliche Visionen habe aufgrund meines alten Bluts und so.« Lucs Kopf sank tiefer. »Glaubst du denn, er weiß, dass wir …? Mein Gott, ich kann’s gar nicht aussprechen. Brüder. Ist das der Grund, weshalb er mehr von mir erwartet? Ich wollte ihm gefallen. Weiß selbst nicht, warum. Er hat etwas an sich …«

»Ja«, sagte Rosie hilflos. »Ich weiß.«

»Aber wenn es ihm doch niemand gesagt hat … wird er jetzt wütend sein? Wird er auch weiterhin mit mir befreundet sein wollen?«

Rosie nahm seine Hand. »Es gibt niemanden, der nicht mit dir befreundet sein möchte, Luc. Wenn er das anders sieht, ist es sein Schaden.«

Er grinste und war für einen kurzen Moment wieder ganz der Alte. »Danke. Ich wette, du hast Mum bereits verziehen, habe ich recht?«

»So gut wie«, sagte Rosie. »Warum?«

»Weil dir das ähnlich sieht. Du bist verdammt noch mal ein Engel.«

»Kannst du ihr denn verzeihen?«

»Ich weiß nicht. Sie und Dad haben mich mein Leben in dem Glauben führen lassen, ihr Kind zu sein, jetzt finde ich heraus, dass ich jemand ganz anderer bin.« So hatte sie ihn noch nie erlebt: verzweifelt, verloren und plötzlich älter. »Was verdammt noch mal soll ich jetzt empfinden oder tun? Was sage ich heute Abend zu Dad?«

»Um Dad brauchst du dir keine Gedanken zu machen, der kommt damit klar«, sagte sie entschieden.

»Er vielleicht, aber ich?« Jessica durchschritt die vertrauten Räume von Oakholme und dabei ging ihr all das durch den Kopf, was sie Rosie erzählt hatte oder auch nicht. Im Schlafzimmer öffnete sie eine Schatulle mit ihrem Albinit-Armband und ließ die funkelnden Edelsteine durch ihre Hand gleiten. Dieses Armband hatte sie nach Lucas’ Geburt von Lawrence bekommen.

Auberon wusste davon. Er hatte von ihr nie verlangt, es zurückzugeben, und sie hatte im Gegenzug darauf verzichtet, es zu tragen. Es war kein Geschenk der Zuneigung – das entsprach nicht Lawrence’ Stil –, sondern eine Art von respektvollem Abschied. Typisch für Lawrence: keine Worte, nur kalte Juwelen – aber er erkannte Lucas damit wenigstens an.

Musik war Jess’ Lebenselixier gewesen, die Bühne ihr Zuhause, ihr Leben die Leidenschaft für ihre Lieder. Das alles vermisste sie, als sie mit zwei kleinen Kindern ans Haus gebunden war. Manchmal hatte sie das Gefühl, ihr wahres Ich verloren zu haben. Was nicht daran lag, dass Auberon sich nicht mehr um sie bemühte, ganz im Gegenteil, er liebte sie viel zu sehr und beschützte sie wie ein rohes, in Seidenpapier gewickeltes Ei. Dagegen rebellierte ihr Vogelgeist. Sie wünschte sich nicht jemanden, der sie beschützte, sondern jemanden, der sie bewunderte und mit roher Lust begehrte.

Es geschah während einer frostigen Phase in Lawrence’ und Virginias wechselhafter Beziehung … Während eines elysischen Rituals zur Feier der Frühlingsfülle mit Tanz und zu viel Honigwein … Jessica hatte zufällig mit Lawrence getanzt und der Tanz hatte sie beide in heiße Erregung versetzt, was sich keiner von beiden zuzugeben traute.

Es kam oft vor, dass Paare im Wald verschwanden, nicht notwendigerweise mit ihren üblichen Partnern. Auberon jedoch verspürte diesen Drang nicht so stark, er blieb lieber im Zentrum des Geschehens. In jener Nacht jedoch rebellierte Jessica gegen sein Anstandsgefühl. Anstatt an seine Seite zurückzukehren, streifte sie durchs Waldgebiet und begegnete Lawrence dort wieder. Er stand allein vor einem Baum, als hätte er auf sie gewartet.

Zu behaupten, sie sei verhext gewesen, wäre eine lahme Erklärung. Betrunken war sie allerdings. Keine Worte, nur ein Blick rücksichtsloser Geilheit, der sie einte. Und dann ab in die Büsche mit ihrer torfigen Erde, dem duftenden Farn und dem frischen Gras, Wolken, die über die Sterne segelten, zitternde Äste und durch die Nacht jagende Eulen, während sie einander verschlangen.

Es war unglaublich gewesen.

Eine Sache hatte sie immer für sich behalten, weil Auberon auch nie danach gefragt hatte – obwohl er es offenbar wusste: dass es nämlich nicht bei diesem einen Mal geblieben war. Mein Gott, es waren viele Male in diesem Sommer. Die Überschneidung mit Auberons langer Geschäftsreise hatte alles erleichtert. Es war so aufregend, zu erleben, wie Lawrence’ steinkaltes Äußeres für sie auftaute. Wie im Rausch hatte sie sich ihm völlig hingegeben und auch noch das letzte Tor in ihr geöffnet, sodass eine Empfängnis unvermeidbar war, als wollte sie ihn für immer in sich behalten. Die Erinnerung daran trieb ihr noch immer die Schamesröte ins Gesicht.

Aber es war pure Lust. Zärtlichkeit war Lawrence fremd. Am Ende erschöpfte die Lust sich an ihrer arktischen Kälte. Und sie begriff schließlich, was sie wirklich wollte, und Auberon hatte geduldig auf ihre Rückkehr gewartet.

Noch immer stellte sie sich die Frage, wie sie so wahnsinnig gewesen sein konnte, Luc zu empfangen – und Lawrence dazu zu bringen, mitzuspielen, denn das hatte er getan. Eitelkeit? Sieh doch, wie schön wir sind, sollten wir nicht ein Kind haben? Oder waren es Elfenmächte, die im Dunkeln wirkten und deren sie sich gar nicht bewusst waren? Nein, damit entzog man sich der Verantwortung. Tatsache war, Lucas war da, und daran wollte sie auf keinen Fall etwas ändern.

Würdevoll bis zum Äußersten hatte Virginia Jessica niemals darauf angesprochen, aber die kalte Überheblichkeit in ihrem Blick sagte alles. Weitere sieben Jahre mussten vergehen, bis sie Lawrence dann tatsächlich verließ, aber sicherlich war ihre zerbrechliche Beziehung dadurch zusätzlichen Belastungen ausgesetzt gewesen.

Nein, egal was Jess zu ihren Kindern sagte, eine akzeptable Erklärung konnte sie ihnen nicht bieten.

Merkwürdigerweise nahm es Matthew, der an diesem Nachmittag nach Hause kam, am schwersten. Er wurde blass, als seine Eltern es ihm stockend beibrachten. Während sie in steifer maßvoller Würde verharrten, war er den Tränen nah. Rosie, die sich neben Lucas auf dem Wohnzimmersofa zusammengerollt hatte, schaute hinaus in den Sommerabend und wäre am liebsten geflüchtet.

»Wisst ihr, was? Irgendwie wusste ich es«, sagte Matthew verkrampft.

Lucas stöhnte. »Was meinst du damit?«

»Du siehst aus wie Lawrence. Sieht das denn keiner? Und ich wusste immer, dass da was war, ein verborgenes Geheimnis. Da wir Elfenwesen sind, ist nichts wirklich offen, immer muss es darunter neue Schichten geben. Warum können wir nicht normal sein?«

»Was auch immer Normalsein bedeutet«, warf Jessica mit gesenktem Blick ein, die Arme vor der Taille verschränkt. »Ich habe keine Rechtfertigung für das, was geschehen ist … in der Anderswelt passieren manchmal Dinge, die nicht sein sollten.«

»Wie gut nur, dass diese verdammten Tore zu sind!« Matthew wandte sich an Auberon. »Und was ist mir dir, Dad? Möchtest du Lawrence nicht am liebsten die Zähne einschlagen?«

Auberon zeigte keine Regung, aber Rosie sah, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. »Auf diese Art pflegen wir die Dinge nicht zu regeln.«

»Wer ist wir? Die edlen Vaethyr? Wir benehmen uns nicht besser als die Menschen! Warum hast du ihn nicht umgebracht?«

»Wir sind frei in unseren Entscheidungen«, sagte Auberon. »Wir besitzen einander nicht. Merkst du nicht, dass deine Mutter und ich schon vor Jahren in diesem Punkt Frieden geschlossen haben?«

»Ich spreche doch nicht von Mum! Ich spreche von Lawrence Wilder, der mitten in der Nacht den armen Luc mit so was überfällt! Wirst du ihm das durchgehen lassen?«

Rosie spürte die in der Luft liegende Spannung – ein Draht, der gleich reißen würde. Jessica ging einen Schritt auf ihn zu und sagte mit bebender Stimme: »Ich weiß, Matt, du bist aufgebracht –«

»Ich bin aufgebracht? Was ist mit Luc? Du hast uns gerade etwas erzählt, wodurch all das, was ich als gegeben hingenommen hatte, vernichtet wird! So viel also zu unserer perfekten Familie! Lawrence wird sich schieflachen! Herrgott!«

Einen kurzen Moment lang herrschte tödliche Stille. Der ganze Raum bebte. Dann zersprang Glas. Auberon hatte sich nicht von der Stelle bewegt, aber eine Tiffanylampe, auf einem Tisch vier Schritte von ihm entfernt, war zu Bruch gegangen und hatte sich als Splitterregen in Regenbogenfarben im Raum verteilt. Die Glühbirne zerbarst. Der schwere Fuß schlug auf dem Teppich auf.

Alle zuckten zusammen. Matt schrie vor Schmerz auf, hielt sich eine Hand vors Gesicht und ließ sich neben Lucas fallen. Rosie sah Blut zwischen seinen Fingern hervorquellen. Eine Glasscherbe hatte seine Lippe getroffen. Er zuckte zusammen, als er die Wunde untersuchte, und betrachtete dann das Blut an seinen Fingerspitzen. Jessica wollte ihm besorgt zu Hilfe eilen, aber Auberon bannte ihn mit festem Blick.

»Und damit hast du genau ins Schwarze getroffen. Lawrence attackiert meine Familie, weil er eifersüchtig auf uns ist. Er kann seine Familie nicht zusammenhalten, also versucht er meine auseinanderzureißen. Würde ich jetzt da hinaufstürmen, um ihn zur Rede zu stellen, empfände er dies als Sieg. Deshalb werde ich keine Rache üben. Jess kam zu mir zurück und ich habe seinen Sohn und werde ihm niemals zeigen, dass er uns verletzt hat. Das ist meine Rache.«

»Gut, aber du hast eben mehr Größe als ich, Dad«, brummelte Matt. »Ich würde Kleinholz aus ihm machen.«

»Willst du endlich aufhören, Matt?«, stöhnte Lucas. »Mach doch nicht alles noch schlimmer.«

Erschüttert stand Rosie auf und begann die Glasscherben aus dem Teppich zu ziehen. Als sie ein leises Klopfen an der Eingangstür hörte, eilte sie in den Flur, um aufzumachen. Vor der Tür stand Matthews Freund Alastair und sah sie verdutzt an, als sie öffnete. »Oh, Matt hat uns gar nicht gesagt, dass du kommst«, sagte sie.

»Ich wusste es selbst nicht«, sagte Alastair. »Ich bin nur vorbeigekommen, um ihn zu fragen, ob er Lust auf ein Bier hat.« Er warf einen fragenden Blick auf die Glasscherben in ihrer Hand und hob seinen Kopf, als er hinter der halb geöffneten Tür die erhobenen Stimmen hörte. »Habe ich einen unpassenden Moment erwischt?«

Rosie seufzte und verzog den Mund zu einem halben Lächeln. Was für eine Erleichterung, ein anderes und freundliches Gesicht zu sehen. Sie kannte Alastair nicht gut, aber er schien immer gut gelaunt zu sein und er war das genaue Gegenteil von Jon: rotblond und ein breites, lächelndes Gesicht mit Sommersprossen, haselnussbraunen Augen und hellen Wimpern. Auf seine sportliche Art sah er nicht schlecht aus. Ihr gefiel sein Aberdeenakzent.

»Wir haben nur eine Familienkrise«, sagte sie verlegen. »Normalerweise sind wir nicht so.«

»Ich weiß.«

»Das geht sicherlich vorbei, aber …«

»Weißt du was, ich gehe lieber. Sag ihm, dass ich hier war.« Er blieb aber stehen und sah sie an. »Du wirkst sehr aufgewühlt, Rosie.«

»Es ist einfach unglaublich«, sagte sie und hatte plötzlich einen rauen Hals, »wie ein paar Worte dein Leben aufwühlen können, dich herumwirbeln und dann in eine Welt fallen lassen, die sich vollkommen von der unterscheidet, in der du zu leben glaubtest. Was soll man da machen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er verdutzt. »Du solltest es denen, die dich so aufgebracht haben, heimzahlen, aber noch schlimmer. Triff sie dort, wo es wehtut. Ich schlage für gewöhnlich auf eine Wand ein und verletze mich dabei nur selbst, aber …« Er ließ den Satz mit einem unsicheren Halbgrinsen unvollendet. »Alles okay mit dir?«

»Nicht wirklich«, sagte sie. »Hast du was dagegen, wenn ich stattdessen mit dir in den Pub gehe?«

Nach zwei großen Gläsern Wodka-Tonic erzählte sie Alastair, worum es in dem Streit gegangen war, und beobachtete dann seine Reaktion. Er war offensichtlich überrascht und wurde still und sein Blick unstet. Dann schüttelte er den Kopf, trank einen Schluck Bier und sagte: »Deine Familie ist umwerfend.«

»Dass wir Mum verzeihen, meinst du? Könntest du das nicht?«

»Oh, vermutlich könnte ich es. Es schmerzt, als stäche jemand zu, ich kenne das. Eine Ex von mir, früher, sie …« Sein Zögern weckte Rosies Mitgefühl. »Egal, sie war es nicht wert, dass man ihr verzieh. Aber jemand wie deine Mutter, wie könnte ein Mann ihr nicht verzeihen?«

Rosie seufzte erleichtert und fühlte sich wieder auf sicherem Boden. »Ich wünschte, Matt hätte es ebenso gut aufgenommen. Er schiebt alles, was schiefgeht, darauf, dass wir … anders sind.«

»Das kapiere ich nicht. Ihr seid eine großartige Familie.«

»Ich weiß.« Die Bewunderung in seinem Ton amüsierte sie und ihr wurde warm ums Herz. »Und Matt weiß das auch. Im Grunde seines Herzen will er nur das Beste für uns, aber er meint, uns ständig sagen zu müssen, wie wir uns zu verhalten haben, selbst unseren Eltern, obwohl er sich irrt und das auch weiß.« Sie wartete, bis Alastair ihr den nächsten Drink geholt hatte, und fuhr dann fort: »Ich werde dir sagen, wie er ist. Matthew ist wie ein Junge aus einer exzentrischen Künstlerfamilie, der sich ihrer jedoch schämt, weil er selbst am liebsten Großstädter im Anzug wäre.«

Über dieses Bild mussten sie beide lachen.

»Deine Eltern machen auf mich einen ganz normalen Eindruck«, sagte Alastair. »Sie sind wenigstens zusammen.«

»Deine nicht?«

Er bekam wieder den stillen Blick und unter seinem fröhlichen Äußeren kam die Traurigkeit zum Vorschein. »Vater ist inzwischen tot. Mutter ist schon längst mit irgendeinem anderen Typen weg. Das ist Geschichte. Matthew und eure Leute sind mir mehr Familie, als meine das jemals für mich war.«

»O Alastair, das ist aber nett.«

»Dann sind deine Eltern also mal Hippies gewesen?«

»Kein Zweifel«, kicherte Rosie, »aber das meine ich nicht mit ›anders sein‹. Nimm einfach mal an, wir kämen aus einem anderen Land, und obwohl wir seit Jahrhunderten Briten sind, praktizieren wir noch immer die alten Bräuche. Und das findet Matt nervig und rückständig, das ist alles.«

»Ja, das sagt er auch, aber ich weiß nicht so genau, was er damit meint.« Alastair beugte sich neugierig vor. »Also, was habt ihr für einen geheimnisvollen Hintergrund? Irisch, rumänisch, wikingisch? Seid ihr russische Emigranten oder sogar noch was Romantischeres?«

»Noch besser, wir sind das Feenvolk«, sagte Rosie und lachte noch lauter. »Oje – Matt hat dir wirklich nichts erzählt, oder?« Und plötzlich erstarb ihr Lachen.

Später schlüpfte Lucas durch die Lücke in der Hecke, wo Jon bereits auf der anderen Seite auf ihn wartete. Seine Umrisse waren im Zwielicht weich, er hatte die Hände in die Taschen geschoben und sein Haar wehte um seine Schultern. »Hey«, begrüßte Lucas ihn.

»Hey«, sagte Jon. »Alles okay mit dir?«

»Ich musste da raus. Ich, äh … hab was rausgefunden.«

»Ich auch.« Sie sahen einander an. »Über meinen Vater und deine Mutter?«

»Hm, ja, genau«, sagte Lucas verlegen.

»Lass uns gehen«, sagte Jon. Sie schlugen den schmalen Fußweg ein, der zu den Grenzen von Oakholme und weiter zum Dorf führte. »Sie haben es mir erzählt, als ich aufgestanden bin. So um die Mittagszeit. Ich glaube nicht, dass Dad es jemals zugegeben hätte, wenn Sapphire ihn nicht dazu gezwungen hätte. Offensichtlich wusste sie es schon seit einer Ewigkeit. Ich wette, er hat es auch Sam bisher noch nicht erzählt, aber er braucht nicht glauben, dass ich ihm das abnehme.«

»Bist du wütend?« Lucas’ größte Angst war die, von Jon abgelehnt zu werden.

»Nein. Sauer auf meinen Vater, mehr nicht.«

»Es ist furchtbar«, sagte Lucas. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie meine Mutter …«

»Wieso nicht? Sie ist unglaublich hübsch«, meinte Jon schalkhaft. »Vater sagt, meine Mutter wisse es, schwört aber, es sei nicht der Grund dafür gewesen, dass sie uns verlassen hat. Er meinte, er sei nicht stolz auf das, was passiert ist, aber er schäme sich auch nicht dafür. Scham sei etwas für Menschen.«

»Ja klar, er ›schämt‹ sich also nicht und muss sich deshalb erst betrinken und es mir im Dunkeln sagen«, meinte Lucas seufzend.

»Wenigstens hat er’s endlich getan.« Jon lächelte. »Er und Sapphire können es gar nicht erwarten, dich kennenzulernen. Ist das nicht gruselig?«

»Es ist verrückt.«

»Das Komische ist, als sie es mir erzählten, hat es mich nicht überrascht«, fuhr Jon fort. »Es war, als hätte ich es immer gewusst. Ich fühle mich dir verbunden. Wir sind Brüder.«

Lucas lachte. »Ja, das sind wir.«

»Ich bin froh darüber, du nicht? Ich habe einen Bruder bekommen, mit dem ich tatsächlich was anfangen kann. Wenn ich zurück aufs College gehe, solltest du mitkommen.«

Ihr Weg führte sie zu der Hochebene über Cloudcroft, dem Kamm namens High Warrens. Unter ihnen lagen die Hügel und Senken der Landschaft von Charnwood mit Felsen, die sich rau in den wilden Himmel erhoben. Auf der anderen Seite des Tals konnten sie das Dach von Stonegate Manor sehen, links daneben das Felsmassiv von Freias Krone.

Lucas musste an seine Eltern denken: eine Mutter, die er nicht mehr kannte, einen Vater, der gar nicht wirklich seiner war. Er legte seinen Kopf in den Nacken mit dem Gefühl, dass ein heftiger Windstoß ihn schwerelos in den Himmel heben könnte. »Ich fühle mich seltsam«, sagte er. »Als würde ich nirgendwo mehr dazugehören. Abgesehen von Rosie könnte ich sie alle hinter mir lassen.«

»Sie zählen nicht mehr«, sagte Jon. »Es gibt jetzt nur noch dich und mich. Wir haben viel Wichtigeres zu tun.«

Jon ergriff seine Hand und zog ihn gewaltsam in die Schattenreiche. Im ozeanischen Licht betraten sie eine Birkenlichtung mit einem breiten Baumstumpf in der Mitte, auf deren einer Seite sich ein steiler Abhang befand, der wie ein Pferdehuf geschwungen war. Die Bäume bewegten sich so fließend wie Unterwasserkorallen. Jon erklomm den Abhang und bückte sich dabei hier und da, um Wildpflanzen im Gras zu untersuchen. Lucas folgte ihm wie im Traum, getragen von einem Gedanken: Wir sind Brüder, derselbe Samen verbindet uns.

Jons geisterhafte, anmutige Gestalt übte einen zunehmenden Zauber auf ihn aus. Plötzlich erkannte er, warum Rosie in seinem Bann stand, wenn auch auf andere Weise. Mit seiner schmalen Gestalt, den langen Beinen und dem in Wellen herabfallenden Haar sah er aus wie die geheimnisvolle Essenz einer Anderswelt, die sich auf qualvolle Weise dem Zugriff entzog.

»Wusstest du, dass die in den Schattenreichen gesammelten Pflanzen andere Eigenschaften haben als die auf der Oberflächenwelt?« Jon wandte sich ihm zu und zeigte ihm einen schwarzen Giftpilz mit gewölbter Kappe. Die Oberfläche war so samtig wie Moleskin mit einem fransigen Rand, der über violette Lamellen hing.

»Nein, wusste ich nicht.«

»Ich habe schon mit allen möglichen Pflanzen experimentiert.« Jon lehnte sich an einen Baum und stützte einen Fuß auf einen bemoosten Stein. »Hast du dich nie gefragt, warum ich auf der Schule so beliebt war? Ich hatte immer die besten Drogen.« Er grinste und seine Zähne leuchten weiß im Dunkel. »Wenn wir schon nicht physisch die Großen Tore durchdringen können, dann sollten wir wenigstens in der Lage sein, unseren Geist und unsere Essenz hindurchzuschicken.«

»Hat Lawrence dich je dabei erwischt?«

»Noch nicht. Sam allerdings schon, und er ist ausgerastet, aber er kann mich nicht davon abhalten. Es ist unser Geburtsrecht, Luc. Mein Vater kann nicht über die inneren Reiche verfügen, sie gehören ihm nicht. Wir sind Schamanen und wir können unseren eigenen Zugang zu ihnen finden.« Er brach ein Stück von dem Pilz ab und hielt es ihm lockend hin. »Wie sieht es aus, bist du bereit für einen neuen Versuch?«

Lucas sah ihn an und sagte nichts. Die Angst wand sich in ihm wie eine Schlange.

»Menschenwesen kann man als Seher nicht gebrauchen, und ich selbst bin auch nicht viel besser«, fuhr Jon fort, »aber du bist was Besonderes. Ich weiß, dass dir der Durchbruch gelingen wird, wenn man dir die richtige Substanz, die richtige Anleitung gibt. Ich glaube an dich. Bleibt das unser Geheimnis?«

Luc holte tief Luft. Dann legte er die Angst wie einen Umhang ab und warf sie weg. Er wollte es. Er wollte, dass sein neuer Bruder ihn akzeptierte, wollte Jon beweisen, dass er mutig war und ihn nicht enttäuschen würde. Das im Entstehen begriffene Geheimnis zwischen ihnen war das Wunderbarste, was er je erfahren hatte. Die Welt bebte vor Zauberkraft.

Er schaute tief in Jons Augen und ließ sich dann das schwarzviolette Fleisch geben. »Traumblätterpilz?«

»Der hier heißt Teufelsschlafmütze«, antwortete Jon mit einem Lächeln, als Jon den schwammig und bitter schmeckenden Pilz auf seine Zunge legte und ihn, ohne zu zucken, langsam kaute und hinunterschluckte. Nach dem Sturm war nichts mehr, wie es vorher war. Er zog vorüber, aber die Wahrheit hatte Rosies Welt eine andere, spitzere Form verliehen.

Jessica liebte Auberon und doch hatte sie mit einem anderen Mann geschlafen. Während Rosie noch ein Kleinkind war, hatte ihre Mutter sich aus nur ihr bekannten Gründen von Auberon abgewandt und den kalten, verrückten Lawrence umschlungen. Lawrence und Jessica nackt wie Marmor im frostigen Mondlicht, leidenschaftlich ineinander verschlungen … Rosie wand sich, so peinlich war ihr die eigene Vorstellungsgabe. Warum, warum?

Alles war wieder friedlich, aber die Anspannung, die man begraben hatte, war wie eine physische Kraft, die sie hinausdrängen wollte. Also unternahm Rosie in der Dämmerung lange Wanderungen ums Dorf, erklomm die Hänge, bis sie zitternd auf den High Warrens stand und dem Wind trotzte. Von hier oben konnte sie ganz Cloudcroft sehen, seine Häuser, die sich scheinbar planlos entlang der Straßen reihten, die sich in allen Richtungen in die Hügel von Charnwood hinaufwanden. Das Dorf war ein verschwommener dunkler Fleck mit Lichtpunkten, die Wälder und Hügel eine undeutliche blaugraue Masse. Heute Abend hing der Himmel tief und wurde am Horizont von den Lichtern Leicesters, Loughboroughs und Ashvales orange beleuchtet.

Sie war in Sorge, Alastair zu viel anvertraut zu haben. Drei große Wodkas und schon waren ihr Wörter wie Elfenwesen herausgerutscht. Alastair war ein aufmerksamer Zuhörer gewesen, und das hatte ihr geschmeichelt, zumal Jon ihr seine Aufmerksamkeit versagte. Ihre Sorge war nur, Matthew könnte sie in Stücke reißen, weil sie zu viel verraten hatte.

Sie atmete ein. Die Luft roch herb wie Metall, die Nacht war kalt, wild und dräuend. Sie spürte die geschlossenen Tore. Zwar hätte sie nicht benennen können, was genau sie fühlte, aber es war wie ein Druck, ein blinder Fleck in der Wahrnehmung, Leere, wo etwas Reichhaltiges und Festes hätte sein sollen.

Die großen Feste, wie ihre Eltern sie gefeiert hatten, gab es nicht mehr. Elfenwesen versammelten sich zwar noch in kleinen Grüppchen, um dieser Anlässe zu gedenken, und bei der jährlichen Landwirtschaftsausstellung von Cloudcroft im Mai hielten sie auch nach wie vor ihren karnevalsartigen Umzug ab, der Tanz der Tiere genannt wurde – aber der Höhepunkt, der zeremonielle Eintritt in die Spirale, fehlte. Diese Ereignisse waren nicht mehr als wehmütige Tribute an das, was hätte sein sollen. Und man kam sich dabei vor, als würde man mit Geschenken zu einer Party kommen, aber dann vor verschlossenen Türen stehen, fand Rosie.

Angst durchwehte sie. Wir brauchen Elysium, hatte ihre Mutter gesagt. Der Stier Brewster war aufgrund des Mangels zugrunde gegangen, und die Vorstellung, es niemals zu Gesicht zu bekommen, machte ihr das Herz schwer … Dann fiel ihr ein, was für ein düsteres Gesicht ihr Vater gemacht hatte, als er sagte, er glaube Lawrence. Die Großen Tore waren zu Barrikaden geworden, hinter denen eine grauenhafte, unaussprechliche Bedrohung lag. Wie wäre es wohl, dennoch einen Schritt in die Anderswelt zu setzen und der Gefahr ins Auge zu blicken …

Der Wind blies heftiger und brachte den Geruch von Regen mit. Sie schlang sich den Schal doppelt um den Kopf und zog ihre Handschuhe an, ehe sie mit dem Abstieg begann. Zweige schlugen ihr entgegen. Als sie die ersten Häuser und den Schutz der Straßenlampen erreichte, fiel der Strom aus. Die Welt verwandelte sich in wirbelnden Regen und Dunkelheit.

Fluchend eilte Rosie weiter, kaum dass sie den Weg unter ihren Füßen erkennen konnte. Es gruselte sie und sie verlor die Orientierung. Sie hätte nicht sagen können, ob sie sich auf der Oberflächenwelt oder in den Schattenreichen bewegte, und irgendwo im Sturm knurrte ein Tier …

Direkt neben ihrem Ohr.

Sie blieb wie angewurzelt stehen. Sie war umgeben von brodelnden Wolken, in denen grelle Blitze zuckten. Dann platzte die Wolke auf wie eine Frucht und es fielen zwei dämonische Ungeheuer mit Stachelschwänzen heraus, die kreischend und knurrend mit ihren Fangzähnen und Klauen übereinander herfielen. Gelbe Feuer umloderten sie.

Rosie kämpfte sich eine mit Gras bewachsene Böschung hinauf, die zwischen dem Fußweg und den Häusern lag. Dort stand eine Esche, hinter deren Stamm sie sich versteckte, um von dort aus den Kampf der Kreaturen zu beobachten. Regen und Blut glänzten auf ihren Schuppen. Der gelbe Hass ihrer Augen verriet, dass es ein Kampf auf Leben und Tod war.

Also gut, sagte sie sich. Ich befinde mich definitiv in den Schattenreichen und brauche nur einen Schritt zur Seite zu treten, um wieder in die Oberflächenwelt zurückzugelangen … Aber sie schaffte es nicht.

Der Kampf dieser Ungeheuer musste doch das ganze Dorf wecken. Ihr Kreischen war ohrenbetäubend. Einer der Dämonen stürzte und der andere warf sich auf ihn und durchstach mit seinen gekrümmten Klauen die gepanzerte Kehle seines Feindes. Das Geschrei hörte auf. Der Schweif des Siegers schlug aus, schabte über den Kies des Fußwegs und bohrte sich in die Erde.

Die gruseligen Feuer erloschen. Jetzt konnte Rosie überhaupt nichts mehr sehen und wagte sich auch keinen Schritt weiter. Wartete der Dämon wütend und hungrig vielleicht noch dort im Dunkel? Sie sah einen schwachen Lichtschein über regennassen, schuppigen Hinterbacken, als der Sieger vom Körper seines Rivalen abließ.

Als die Straßenlampen und Hausbeleuchtungen wieder angingen, zuckte Rosie zusammen. Sie betrachtete den Kampfplatz. Da war nichts zu sehen.

»Schön«, murmelte Rosie und rannte, den Kopf vor dem Regen eingezogen, den Rest ihres Wegs nach Hause. »Also gut. Genau das meint Matthew wohl. Man geht in die Schattenreiche und schon sieht man Dinge, die man nicht sehen sollte. Wir werden langsam verrückt. Deshalb hat er sich von der Anderswelt abgewandt und lebt auf der Oberfläche, um sich vor dem Wahnsinn zu retten. Gut. Ich hab’s verstanden.«

Selbst ihr eigener Garten wirkte heute Nacht bedrohlich, und sie hastete über den Eingangsweg, als lauerten ihr Gespenster im Gebüsch auf. Das warme Licht von Oakholme fiel nach draußen. Aber als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, kam eine bleiche Hand aus dem Dunkel und packte sie am Arm.

Rosie stieß einen kurzen unverhohlenen Schrei aus.

»Rosie, tut mir leid«, flüsterte ein dünnes Stimmchen. »Ich bin es nur.«

Ein bleiches Gesicht bewegte sich in den Lichtkegel der Verandalampe. Es war Faith. Sie war nass bis auf die Haut, das Haar klebte ihr am Kopf und Regen tropfte über ihr schmales Gesicht.

»O Mann«, keuchte Rosie. »Warte erst mal, bis mein Herz wieder zu schlagen anfängt. Meine Güte.« Sie holte tief Luft. »Was ist denn los? Alles okay mit dir?«

Faith war ganz offensichtlich nicht okay. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. »Meine Eltern«, flüsterte sie. »Sie haben sich gestritten, so schlimm wie nie … Die Polizei und der Krankenwagen mussten kommen und … ich glaube, mein Vater ist tot.« Faith taumelte auf sie zu und Rosie fing sie auf. »Ich kann nicht dorthin zurück, Rosie. Kann ich bei dir bleiben, nur für eine Nacht? Ich will wirklich keine Umstände machen. Nur für heute Nacht.«