~  10  ~
Der September wird zauberhaft sein

»Es geht ihm den Umständen entsprechend gut«, sagte Rosie. »Er hält sich recht tapfer.«

Normalerweise rief Lawrence sie an, um sich ihren Erfahrungsbericht anzuhören. Diesmal – sie besuchte Sam seit nunmehr sechs Monaten – hatte er sie nach Stonegate eingeladen und sie in sein Arbeitszimmer gebeten, wo er hinter seinem Schreibtisch saß, vor sich ein kleines schwarzes Samttablett mit Edelsteinen. Während Rosie sich in ihrem Bericht auf dem sicheren, banalen Boden des Gefängnisalltags bewegte, konnte sie anhand der Schatten und tiefen Furchen in Lawrence’ Gesicht sehen, dass Lawrence alles andere als gefasst war.

»Und Sie möchten ihn auch gern weiterhin besuchen?«, fragte er.

»Wenn Sie beide das wollen, ja.«

»Ich bin Ihnen unbeschreiblich dankbar«, sagte Lawrence. »Besitzen Sie denn einen Albinitstein, Rosie?«

»Äh, nein. Die sind ziemlich teuer und ich trage auch nicht viel Schmuck …«

»Suchen Sie sich einen aus«, forderte er sie auf und schob ihr das Tablett hin. Die geschnittenen Edelsteine funkelten in allen Regenbogenfarben wie Schmetterlingsflügel. »Dieser Stein hat ungewöhnliche Eigenschaften. Wenn Menschen ihn tragen, bleibt die Farbe bestehen, aber an Elfenwesen reagiert er auf höchst interessante Weise. Die Mine ist erschöpft, und das bedeutet, dass sie weiterhin im Wert steigen werden.«

»Nein«, sagte sie verblüfft. Reisespesen waren eine Sache, aber Edelsteine von einem Mann anzunehmen, der einmal der Liebhaber ihrer Mutter gewesen war? »Nein, nein, nein. Danke. Das kann ich nicht annehmen.«

Er nickte. »Ich verstehe. Sollten Sie es sich anders überlegen, sagen Sie mir Bescheid.«

Auf ihrem Rückweg durchs Haus schaute Rosie sich in dem höhlenartigen Flur um und spürte Dumannios in der Luft, eine brennende Kälte voll geisterhafter Schatten. Hier also war es, wo Sam … das wollte sie sich lieber nicht ausmalen.

Und was Sapphire betraf, wie sollte Rosie es anstellen, auf der Suche nach belastendem Beweismaterial im Umfeld von Stonegate herumzuwühlen, und wonach sollte sie überhaupt suchen? Sam hatte es nie wieder angesprochen, aber es war ihr nicht aus dem Kopf gegangen.

Seufzend betrat sie die Küche und lief dort direkt Sapphire in die Arme. »Rosie, ich habe uns Kaffee gekocht«, sagte sie und lächelte dabei freundlich und einladend. »Wir trinken ihn im Garten. Wie ich weiß, sind Sie eine Gartenexpertin, und ich brauche Ihren Rat bei den Azaleen.«

Ihre Stimme war samtig und ihre Finger lagen weich auf Rosies Arm, als sie über die weite Rasenfläche schritten, bis sie außer Sichtweite des Hauses und inmitten von Bäumen und Büschen waren. Sapphire trug einen pastellfarbenen Hosenanzug aus weich fließender Seide und einen einzigen runden Elfenstein um ihren Hals. Sie untersuchten die Pflanzen und tranken ihren Kaffee, und Rosie fragte sich, was eigentlich dahintersteckte.

Doch sie spielte mit und meinte: »Ihre Azaleen sind ganz wunderbar. Wenn Sie möchten, könnte ich den pH-Wert des Bodens testen, aber ich finde, dass sie recht gesund aussehen.«

Sapphire nahm ihr den leeren Becher ab und stellte ihn zusammen mit ihrem ins Gras. »Ich würde gern Pflanzen oder Blumen ziehen, die so beeindruckend sind, dass sie es in die Landwirtschaftsausstellung von Cloudcroft schaffen. Ich freue mich jedes Jahr auf diese kleine Landwirtschaftsausstellung im Mai. Und dieser Umzug am Ende – der erinnert mich an den Karneval von Rio. Jedes Jahr ist er anders.«

»Rio? Sind Sie schon mal dort gewesen?« Gegen ihren Willen nutzte sie die Chance, ein wenig zu schnüffeln.

Sapphire lächelte geheimnisvoll, antwortete aber nicht darauf. »Was Sie für uns tun, indem Sie Sam besuchen, ist wirklich wunderbar. Ich muss Sie um Verzeihung bitten, Rosie.«

»Wofür?«

»Dass ich Lawrence überredet habe, die Sache mit Lucas zu klären. Ich wollte wirklich nur helfen und die Wahrheit musste ans Licht kommen, aber ich möchte mich für den Kummer entschuldigen, den das hervorgerufen haben muss.«

»Es wäre sicherlich keine schlechte Idee gewesen, erst mit meinen Eltern zu sprechen«, erwiderte Rosie steif.

»Genau das hatte ich von Lawrence erwartet, aber er ist unberechenbar. Es tut mir unendlich leid.« Sapphire löste plötzlich ihren Elfensteinanhänger und hielt ihn Rosie hin. »Hier, ich möchte, dass Sie ihn bekommen. Ein Friedensangebot. Albinitsteine passen viel besser zu Ihnen als zu mir.«

»O nein!« Während Rosie erschrocken Sapphires Hand wegschob, leuchtete der Stein kurz violett auf. »Nein, bitte nicht, Sie brauchen mir nichts zu geben.«

»Oh, haben Sie die Farbveränderung bemerkt? Sie sind ein Elfenwesen wie Lawrence und ich bin Ihnen so nah, aber ich kann nicht in Sie hineinsehen.« Sie bekam einen gierigen, sehnsüchtigen Ausdruck.

»Warum möchten Sie denn in mich hineinsehen können?«, fragte Rosie mit großen Augen.

»Ich meine das natürlich nicht wörtlich, meine Liebe. Mein Problem ist, dass ich gerne meinem Mann helfen würde, aber um das zu tun, müsste ich die Elfenwesen verstehen. Ich bin eine Außenseiterin.« Sapphire hakte Rosie unter und schlenderte langsam mit ihr über Graspfade, die zwischen Rhododendronlauben hindurchführten. »Sie werden es mir nicht glauben, aber ich habe die Armut kennengelernt, Rosie. Ja, ich kenne Rio, ich bin in Brasilien aufgewachsen. Meine Mutter war Bedienstete auf einer großen Rinderranch und besaß nichts. Der Besitzer lud seine reichen Freunde ein, die dann auch übernachteten, und einer von ihnen schwängerte meine Mutter. Sie gab wirklich ihr Bestes für mich, aber sie war nicht gesund und starb, als ich fünf Jahre alt war.«

»Das tut mir aber leid.«

»Das braucht Ihnen nicht leidzutun. Ich hatte großes Glück. Der Mann, der mich gezeugt hatte, kehrte zurück und zog mich buchstäblich aus dem Schmutz. Er brachte mich nach Amerika, zahlte für meine Ausbildung. Seine eigenen Kinder waren schon längst erwachsen und aus dem Haus, wissen Sie, also war ich seine kleine Prinzessin. Ein Heiliger war er natürlich nicht, aber ich vergötterte ihn. Er war mein König. Doch dann wurde er mir genommen.« Sapphire strich sich den dunklen Wasserfall ihrer Haare aus dem Gesicht. »Elfenwesen nahmen ihn mir. Er war ein harter Geschäftsmann, der keine Sentimentalität kannte, und doch war er besessen von geheimnisvollen Wesen, von denen all die Geschichten über Elfen, Engel und Halbgötter rühren. Er war unermüdlich in seiner Suche nach ihnen und kam jedes Mal mit vor Aufregung feurigem Blick zurück, um bald darauf wieder zu verschwinden. Als Heranwachsende musste ich ihm versprechen, dass ich, sollte ihm etwas zustoßen, seine Suche fortführen würde. Ich wollte einfach wissen, was das für Geschöpfe waren, die ihn so faszinierten. Bald schon arbeitete ich für Wilder Jewels und lernte Lawrence kennen. Jedoch …«

Sapphire hielt wehmütig inne. Rosie glaubte, unter ihrer glänzenden Schale echte Verletzlichkeit aufblitzen zu sehen. »Vermutlich habe ich mich – lange nachdem seine erste Frau verschwunden war, wie ich hinzufügen muss – tatsächlich in den Glanz von Lawrence verliebt. Doch obwohl ich jetzt mit einem Elfenwesen verheiratet bin, sehe ich euch immer noch nur von außen.«

»Und was sehen Sie?«, fragte Rosie misstrauisch.

»Da bin ich mir nicht sicher.« Sapphire presste die Lippen zusammen. »Ihr habt so viel Masken, eine alltägliche, eine glanzvolle, eine animalische … eine Maske unter der anderen, aber wer weiß schon, was wirklich darunter steckt? Besteht ihr vielleicht nur aus Masken? Ich habe mir so leidenschaftlich wie jedes Elfenwesen gewünscht, dass die Großen Tore aufgehen und der Verwandlungszauber herausströmt.«

»Tatsächlich?« Rosie lachte nervös. »Hat Lawrence Ihnen denn nichts erzählt?«

»Er hat es mir gesagt, aber woher soll ich wissen, dass es die Wahrheit ist? Ich dachte, Sie könnten mir zu Einsichten verhelfen, die es mir ermöglichen, ihm zu helfen.«

Der Elfenstein schimmerte in Sapphires manikürten Fingern. Rosie fragte sich, welche Geheimnisse sie sich mit dem Stein zu erkaufen erhoffte. »Ich bin eine Vaethyr, ich lebe auf der Oberfläche«, sagte sie. »Ich bin nie durch die Tore gegangen. Ich verfüge über keine verborgenen Geheimnisse oder Zauberkräfte. Ich bin praktisch ein Mensch.«

»Keine Magie? Komm schon. Ihr habt doch alle diesen Glanz an euch, selbst Sie, Rosie, auch wenn Sie sich dessen nicht bewusst zu sein scheinen. Alles, was Elfenwesen anfassen, wird zu Gold, und sie können sich in Wirklichkeiten bewegen, die Menschen gar nicht wahrnehmen. Keine Zauberkräfte?« Sie hielt ihren Blick unverwandt auf Rosie gerichtet, warm, fordernd und mit der Drohung, ihn nicht abzuwenden, ehe sie irgendwelche Enthüllungen ausplauderte. Doch dann brach sie seufzend ab und ließ ihre Hand fallen. »Verzeihen Sie mir bitte, meine Liebe. Ich hätte Sie nicht so in Verlegenheit bringen dürfen. Sie müssen es mir nachsehen, dass die Faszination meines Vaters derart auf mich abgefärbt hat. Sollte ich Ihnen zu neugierig erscheinen, dann müssen Sie mir glauben, dass dahinter nur Liebe steckt.«

»So ein Blödsinn«, sagte Sam, als Rosie ihm bei ihrem nächsten Besuch von dieser Begegnung erzählte. Sein Gesicht hob sich in geisterhaft leuchtendem Weiß vor dem dunklen, von Spinnweben beherrschten Hintergrund ab. An diesem Tag manifestierte Dumannios sich besonders heftig und verzerrte den Raum so, dass er einer verfallenen, rußgeschwärzten viktorianischen Fabrik voller Säulen und Bögen und Geister ähnelte. Und wie sehr sie sich auch anstrengte, es gelang ihr nicht, wieder in die Realität einzutauchen.

»Ich gebe nur wieder, was Sapphire gesagt hat«, erwiderte sie. »Was bringt es denn, mich um Informationen zu bitten, wenn du sie mir dann nicht abnimmst?«

»Süße, ich meinte doch, dass sie Blödsinn erzählt, nicht du.«

»Ich weiß«, sagte Rosie schmallippig. »Und ich meinte, dass du keine Mutmaßungen anstellen solltest. Du kannst nicht wissen, ob sie nicht doch die Wahrheit sagt.«

»Also, Agentin Fox, irgendwelche anderen Neuigkeiten von jenseits der feindlichen Linien?«

»Das ist nicht fair, Sam!«, regte Rosie sich auf. »Ich erzähle deinem Vater nur ganz banale Sachen. Nichts, was zu Auseinandersetzungen führen könnte. Erwarte von mir nicht, dass ich für dich spioniere – das kommt nämlich überhaupt nicht infrage!«

»War ein Scherz«, sagte er sanft. »Ich weiß und ich entschuldige mich. Ich wollte doch nur wissen, wie es meinem Vater geht.«

»Tut mir leid.« Rosie schauderte und schlang ihre Arme um ihren Körper. »Dieser Ort macht mich heute ganz verrückt. Lawrence geht es gut, aber er macht einen fürchterlich angespannten Eindruck, was er aber, wie das seine Art ist, hinter würdevoller Zurückhaltung verbirgt. Es war wirklich gruselig, wie er und Sapphire mir die Albinitsteine aufzudrängen versuchten.«

Sam sah sie mit schiefem Kopf an. »Hast du sie angenommen? Ich weiß doch, wie gern du Glitzerschmuck magst.«

»Natürlich nicht! Lawrence wollte mich belohnen, aber ich will keine Dankbarkeit. Und was Sapphire und ihren Versuch betrifft, mich zu bestechen, damit ich ihr die Elfenwesen näherbringe …«

Sam atmete aus und lehnte sich zurück. »Diese rührselige Geschichte über Armut in Brasilien – die ist mir neu.«

»Wirklich? Sie schafft es jedes Mal, mich irgendwie ganz kirre zu machen. Und sieht mich dabei mit ihrem Machtblick an.«

»Mit was?«

»Du weißt schon, dieser herablassende Blick, der sagt: ›Ich bin hier der Boss, vergiss das bloß nicht.‹ Aber darunter machte sie einen wirklich verlorenen Eindruck. Überfordert, obwohl sie es zu verbergen versucht.«

»Das bedeutet nur, dass sie auch eines dieser Elfenwesen-Groupies ist«, meinte Sam mit zynischem Grinsen. »Ein sehr versiertes, aber dennoch ein Groupie – wie Faith und dein rothaariger Freund?«

»Wenn du es so ausdrücken musst«, stöhnte Rosie. »Wieso hab ich mich nur auf diese infernale Dreiecksbeziehung eingelassen? Lawrence verlangt von mir, dass ich über dich berichte, du möchtest, dass ich die beiden beobachte, und Sapphire versucht mir Geheimnisse über Lawrence zu entlocken! Für deine Familie bin ich nichts weiter als eine Mittlerin.

»Du könntest uns allesamt zum Teufel schicken.«

»Könnte ich.«

Sie sahen einander finster an und sie erkannte im grünblauen Schillern seiner Augen nur Feindseligkeit – als hätte er eine Maske abgenommen und den Dämon darunter offengelegt. Dann brach er den Blickkontakt ab. Ohne Vorwarnung gelangte der Besuchsraum auf langsame und verstörende Art zitternd wieder in die Realität zurück.

»Aber du wirst es nicht tun, oder?«, sagte Sam, halb flehend, halb feststellend. »Ich glaube, du findest zu viel Gefallen daran, Agentin Fox.«

Die Teilnehmer am Tanz der Tiere wirbelten kostümiert als Feuervögel, die einen chaotische Balztanz vollführten, über die Dorfwiese. Organisiert wurde er von Phyll und Comyn, die dazu nur Elfenwesen auswählten, ohne auf das Murren der Dorfbewohner einzugehen, die von elitärem Gehabe sprachen. In früheren Jahren hätte die Prozession hinauf zu Freias Krone und nach Elysium geführt. Da ihnen dies jetzt verwehrt war, mussten sie sich damit begnügen, einmal rund um Cloudcroft zu ziehen und dann wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren, dem in Schiefer und Granit gehaltenen Pub namens Green Man.

Jessica warf ihren Kopf in den Nacken und genoss die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Sie saß mit Faith – die kurz vor der Niederkunft stand – auf dem Rasen vor dem Pub und ihre Schultern berührten sich leicht. Auberon, Matthew und Alastair waren im Pub, um Getränke zu holen; Rosie und Lucas, Phyll und Comyn befanden sich irgendwo unter den kostümierten Tänzern.

Jedes Jahr um den ersten Mai wimmelte es in Cloudcroft von Besuchern, die wegen der alljährlichen Landwirtschaftsausstellung kamen. Comyn stellte mehrere Weiden für Zelte und Arenen zur Verfügung, in denen Rinder, Schafe und Pferde gezeigt, Turnierkämpfe abgehalten und Raubvögel vorgeführt wurden. Dampfmaschinen und Traktoren tuckerten in glanzvoller Würde umher. Unter heißen Zeltplanen welkten Riesenexemplare von Gemüse vor sich hin. Es gab Maibaum- und Moriskentänze, eine Blaskapelle, Imbissbuden, ein Zelt, in dem Ale ausgeschenkt wurde – sämtliche Traditionen eben, die man sich von einer englischen Landwirtschaftsausstellung erwartete.

Am meisten freute Jessica sich immer auf den Abend, wenn die Hauptveranstaltungen zu Ende waren und die Besucher alle zum Green Man strömten, um den Tanz der Tiere zu verfolgen. Seit Jahrhunderten verkleideten sich Vaethyr mit Masken und Kostümen, um in einer Prozession ums Dorf zu tanzen. Für die Zuschauermenge war es ein Fruchtbarkeitsritus, einer der wenigen, die in England noch lebendig waren. Von der tieferen Bedeutung wussten sie nichts, den Bezug nämlich zur Reise ins Innere der Spirale, zurück zum Herzen, zu ihrem wahren Wesen …

Aber jetzt drehte sich alles nur noch um die Vorstellungen. Entmutigt nahmen jedes Jahr weniger Vaethyr daran teil. Ohne den wahren Höhepunkt der Parade – die Reise nach Elysium, nachdem die Menschenmenge wieder fort war – fühlte sich alles hohl und leer an.

Früher hatte Jessica die Lieder gesungen und die Musiker des Tanzes der Tiere angeleitet. Doch nach ihrer Affäre mit Lawrence hatte sie damit aufgehört. Keiner hatte ihr das nahegelegt, am wenigsten Auberon. Nachdem sie ihn derart verletzt hatte, verlor sie einfach die Freude am Singen und daran, sich in der Öffentlichkeit hervorzutun.

»Verändern sie denn tatsächlich ihre Gestalt, Jessica?« Faiths Frage war so vorsichtig gestellt, dass Jessica einen Moment brauchte, sie als solche zu erkennen. »Die Elfenwesen beim Tanz? Unter ihren Kostümen?«

Jess lachte. »Das ist das Geheimnis. Weil sie kostümiert sind, weiß das keiner.« Als sie das brennende Interesse in Faiths Augen sah, gab sie nach und antwortete ausführlicher. »Nun, ich habe mich nicht verändert. So gut wie nicht. Wenn du allerdings die Schattenreiche betrittst, könntest du eine Art Veränderung wahrnehmen.«

»Wie meinst du das?«

»Einige Elfenwesen verändern sich dramatisch, andere kaum. Es heißt, diese ›Veränderungen‹ seien verschiedene Aspekte von uns, die zwar immer präsent, aber nur unter gewissen Umständen sichtbar sind.«

»Etwa in den Schattenreichen?«

»Genau. Oder vielleicht auch in einem Zustand erhöhter Gemütserregung. Und einige von uns, wie Phyll und ich, verändern sich so gut wie gar nicht, aber auch das ist in Ordnung. Wir sind, was wir sind. Hat Matthew dir denn nichts davon erzählt?«

Seufzend blickte Faith auf die Wölbung ihres Leibes. »Ich darf nicht darüber reden, weder mit ihm noch mit dir. Er wird wütend, sobald ich es versuche.«

»Ich weiß, er hält dich davon ab, zu unseren privaten Treffen zu kommen«, sagte Jess. »Das ist nicht richtig von ihm. Doch du solltest dich nicht so von ihm beherrschen lassen. Hab keine Angst, auch deine eigene Meinung zu vertreten.«

»Das sagt Rosie mir auch immer, aber ich mache mir Sorgen … er könnte mich für eine Schwindlerin halten.«

Ihr Auftreten hatte nichts mehr von der nervösen, geretteten Waise von einst. Faith hatte sich verändert, sie war ruhiger und unabhängiger geworden. Wenn sie solche Bemerkungen fallen ließ, dann nicht aus ängstlicher Unsicherheit, sondern weil sie darüber gebrütet und sich Gedanken gemacht hatte.

»Wieso?«, fragte Jess ungeduldig. »Weil du kein Elfenwesen bist? Aber er hat doch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er kein Elfenwesen zur Frau haben wollte. Dafür könnte ich ihm wirklich eine scheuern, denn es ist eine lächerliche Unterscheidung. Oder mir selbst zum Vorwurf machen, dass er eine Frau bevorzugt, bei der er nicht Gefahr läuft, dass sie in der Anderswelt verschwindet oder mit Lawrence Wilder schläft.« Sie sah, wie Faiths Wangen sich röteten. »Wie auch immer, er hat dich erwählt. Also hör bitte auf, dir Gedanken zu machen, meine Liebe. Aber jetzt bin ich diejenige, die dich herumkommandiert. Tut mir leid.« Sie nahm Faith kurz in den Arm. »Ich weiß, dass du bei deinen Eltern viel durchmachen musstest, aber das ist vorbei. Du bist jetzt bei uns.«

Faith runzelte die Stirn. Darüber hatten sie in der Vergangenheit schon oft gesprochen, aber es nagte an ihr, als gäbe es da etwas, was sie nicht in Worte zu fassen vermochte. »Wenn meine Eltern miteinander stritten, waren sie wie besessen. Als würde etwas – aus Du… Dumannios? – von ihnen Besitz ergreifen. Meine Mutter hat auf Stonegate geputzt. Wäre es möglich, dass dort ein böser Geist in sie gefahren ist? Und wenn er nun Auswirkungen auf das Baby hat?«

»Das kann unmöglich sein, meine Liebe.« Jessica biss sich auf die Lippe. Die einzigen Geister, die auf Stonegate in Faiths Mutter gefahren waren, sagte sie sich, waren Whiskey und Wodka. »Ist es das, was dich bedrückt? Hat Matt dir mit irgendwelchen Geschichten Angst gemacht?«

»Nein. Tut mir leid. Muss wohl an meinen Hormonen liegen.« Alastair kam mit einem Tablett voller Getränke auf sie zu, während Faith fortfuhr: »Ich suche ständig nach Gründen, warum sie so und nicht anders waren, aber es gibt keine – sie waren einfach schreckliche Menschen mit einem Alkoholproblem. Ich möchte bloß eine gute Mutter sein und nicht versagen.«

»Hey, wenn du gerade über Eltern sprichst, die Versager sind, darf ich mich anschließen?«, sagte Alastair freundlich und setzte sich links neben Jessica ins Gras. »Du bist so nett und ruhig, Faith, ich dachte immer, deine Leute seien genauso.«

»Nein, sie waren laut – immer betrunken und haben die ganze Zeit gestritten. Sie nannten mich eine Missgeburt, weil ich in der Schule hart arbeitete und mich mit Rosie anfreundete. Sie dachten, ich wollte was Besseres sein. Gott sei Dank werde ich nie wieder in dieses Leben zurückkehren.«

»Dann ist das also der Grund, weshalb du so still bist – man hat dich immer nierdergeplärrt, was?«, sagte Alastair. »Meine Eltern hätten einfach nie zusammenkommen dürfen. Dad war ein armer Teufel und Mutter hat ständig gedroht, uns zu verlassen. Ich dachte immer, das sei meine Schuld, und wenn ich mich nur besser benehmen würde, würde sie bei uns bleiben.«

»Genau das habe ich auch immer gedacht!«, rief Faith. Matthew kam mit einem Bier in der Hand herbeigeschlendert und lehnte sich nickend an einen Baum, als hätte er die Geschichte seines Freundes schon öfter gehört.

»Aber es spielte keine Rolle, wie gut ich mich betragen habe«, sagte Alastair, »sie ist trotzdem gegangen. Sie hatte lauter flüchtige Männerbekanntschaften und alle außer ihr selbst waren ihr völlig gleichgültig.« Er seufzte und ergänzte dann fröhlich: »Aber ich habe es ihr heimgezahlt. Ich habe ihr Schoßhündchen zerquetscht.«

Faith und Jess starrten ihn an.

»Nicht absichtlich!«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Ich muss etwa elf gewesen sein – ich ging zu dem Haus, wo sie mit ihrem zwielichtigen Typen wohnte. Dieser Typ hatte ein Motorrad und ließ mich damit herumspielen – aber es war zu schwer für mich und kippte um. Landete direkt auf diesem verdammten kleinen Terrier. Er war auf der Stelle tot. Mein Gott, hat die gejammert, als hätte ich ihr Baby umgebracht. Nachher wurde mir klar, dass ich sie damals zum ersten Mal überhaupt hatte leiden sehen. Ich sah sie an und dachte: Endlich weißt du, wie ich mich gefühlt habe, als du fortgingst. Ich schwöre, sie hat diesen Hund mehr geliebt als mich. Das hat sie mich auch nie vergessen lassen. Ich habe dann beschlossen, sie einfach in Ruhe zu lassen. Als mein Dad starb, war’s das – ich zog nach England und sah sie nie wieder.«

»Das ist aber eine traurige Geschichte, Alastair.« Faith blinzelte gegen ihre Tränen an.

»Ich finde sie zum Totlachen«, sagte Matthew grinsend. »Okay, ich weiß, dass das nicht lustig ist, aber wenn ich mir das Gesicht des Terriers vorstelle, als das tonnenschwere Motorrad auf ihn drauffällt – also wenn das nicht lustig ist. Das ist unser Alastair – sieht harmlos aus, aber für Haustiere ist er eine tödliche Gefahr.«

»Halt ihn bloß von unserer Katze fern«, bemerke Jessica trocken.

Die Tänzer kehrten zurück, der Umzug war zu Ende. Zwei der Lyon-Schwestern schritten vorbei, sie waren in hauchdünnen roten Stoff gekleidet und genossen ganz offensichtlich die Aufmerksamkeit. Matthew beobachtete sie und meinte höhnisch: »Mein Gott, werden wir uns denn nie von den kitschigen alten Traditionen verabschieden?«

Schon als kleiner Junge hatte Matthew seine Aversion gegen elfische Dinge deutlich gemacht. Ich frage mich, ob wir ihm wohl mit irgendwas Angst gemacht haben, überlegte Jessica, ohne dass wir es überhaupt bemerkten. »Danke – diese kitschigen Traditionen sind Teil unseres Erbes«, sagte sie und trank den Weißwein, den Alastair ihr mitgebracht hatte. »Etwas, womit wir unsere Identität lebendig halten.«

Matthew schüttelte den Kopf. Er hatte den ganzen Nachmittag im Ale-Zelt zugebracht und redete nun noch freier heraus als sonst. »Aber du siehst immer nur die schöne Seite, Mum. Dad wollte nie, dass wir durch die Tore gehen, wegen all der schrecklichen Dinge, die uns auf der anderen Seite widerfahren könnten. Und weißt du was? Ich kann ihm nur zustimmen. Sieh dir doch an, was das mit den Leuten macht, entweder werden sie verrückt wie Lawrence oder sie landen im Knast wie Samuel.«

»Oh, als würde das bei Menschen nie vorkommen?«, erwiderte Jessica mit hochgezogenen Brauen. »Wir können aber auch absolut geerdet und liebenswert sein wie dein Vater und Rosie und Luc.«

»Ja genau. Tut mir leid, aber keiner, der einigermaßen bei Verstand ist, hängt mit Jon Wilder rum. Und was ist mit Rosie, der es offenbar nicht reicht, in ihn verknallt zu sein, sondern die außerdem noch diesen Blödsinn mit den Gefängnisbesuchen machen muss?« Matthew fing einen Blick von Alastair ein, woraufhin ihm wohl bewusst wurde, dass seine ablehnende Haltung gegenüber Rosie wohl nicht die beste Idee war. »Ja, ich weiß, es ist ganz reizend von ihr, aber sie sollte sich nicht für diese Leute zur Sozialarbeiterin machen. Sie ist zu gutmütig und schadet sich damit nur selbst.«

»Mir gefällt es auch nicht, dass sie dorthin geht, aber sie hört nicht auf mich«, meldete sich Alastair zu Wort.

»Ich will damit ja nur sagen, dass du jedes Mal, wenn du die Elfenwesen kritisierst, deine eigene Familie kritisierst«, sagte Jessica.

Matthew kniete sich neben die beiden Frauen ins Gras und legte einen Arm um seine Mutter und einen um Faith. »Nein, das tue ich nicht. Ich meine das doch nicht so, Mum. Du bist umwerfend und fantastisch und Rosie ebenso. Ihr seid wahre Feenprinzessinnen und das ist auch okay so. Aber das gilt nicht für mich und Faith. Stimmt doch?« Dabei streichelte er mit zärtlicher Hand den gewölbten Leib seiner Frau. Sie lächelte. »Uns reicht die Oberflächenwelt.«

Rosie kam aufgeregt und außer Atem in ihrem Feuervogelkostüm angerannt, ohne zu ahnen, was gerade gesprochen wurde. Jessica musste lächeln, als sie sah, mit welch liebevoller Leichtigkeit sie und Alastair sich umarmten. Vernünftiges Mädchen, das mit seinen einundzwanzig Jahren erkennt, welche Vorteile Stabilität gegenüber herzzerreißender Leidenschaft hat.

»Seltsam, dass wir immer das haben wollen, was wir nicht bekommen, nicht wahr?« Das war Sapphire, die elegant an ihnen vorbeischwebte, stehen blieb und Jessica aufmerksam ansah. »Ich würde auch gern am Tanz der Tiere teilnehmen. Das bringt das Blut in Wallung, wie auf der Jagd, nicht wahr?«, meinte sie mit einem breiten Lächeln. »Aber mir ist das nicht gestattet, also keine Sorge, Faith, ein Elfenwesen zu heiraten bedeutet nicht, auch eins zu werden.«

Plötzlich kam eine eisige Windböe und blies Staub in Jessicas Augen. Graue Wolken erstickten das weiche goldene Licht und schon brannten Hagelschloßen auf der Haut. Die Leute kramten ihre Sachen zusammen und rannten los, um Zuflucht im Pub zu suchen. Sapphire rührte sich nicht vom Fleck, und dieser Augenblick prägte sich in Jessicas Gedächtnis ein wie eine Kamee: Sapphires Worte und ihre gedankenverlorene Einsamkeit, als sie dort stand, ohne auf das weiße Eis zu achten, das um sie herumwirbelte. Und aus plötzlichem Mitgefühl sagte sich Jessica: Lawrence bringt sie um.

Sam bekannte sich des Totschlags für schuldig und bekam dafür, wie von ihm vorhergesagt, eine fünfjährige Haftstrafe. Rosie verfolgte, wie er immer dünner, stiller und härter wurde. Mit stählernem Blick beobachtete er die anderen Insassen. Darunter waren Männer, die das Doppelte von ihm waren und sich weitaus schlimmerer Verbrechen schuldig gemacht hatten, und sie wusste, dass er nur überlebte, indem er sich zäher gab als sie. Und sie fragte sich, was wohl von ihm übrig sein würde, wenn er wieder herauskam nach all den Jahren zwischen diesen Männern und Dumannios.

Faith gebar ein Mädchen, einen blonden Engel, den sie Heather nannten. Rosie ging derart in ihrer Rolle als Tante auf, dass sie sogar Matthew alles verzieh. Er und Faith schienen zufrieden zu sein. Das Baby leide an einem Ekzem, klagte Faith, aber Rosie konnte nichts Wundes an Heathers Pummelärmchen erkennen, höchstens ein schwaches Schillern wie von Schmetterlingsschuppen.

Im Lauf der nächsten beiden Jahre machte Rosie ihren Collegeabschluss mit Auszeichnung und begann als Landschaftsplanerin für Fox Homes zu arbeiten. Auberon hatte sie dazu mit der Begründung überredet, auf ihr Talent nicht verzichten zu können. Sie legte Gärten an, deren feenhafter Zauber half, die Hauskäufer zu verführen.

Alastair mietete sich ein kleines Apartment in Ashvale, aber sie blieb in Oakholme und weigerte sich, mit ihm zusammenzuziehen. Sie mochte ihn wirklich sehr und konnte sich ein Leben ohne ihn kaum mehr vorstellen. Sie waren jetzt seit zweieinhalb Jahren zusammen – doch ärgerlicherweise brannte ihr Verlangen nach Jon noch immer wie ein giftiges Feuer in ihrem Herzen und ließ sie zögern. Alastairs Andeutungen, sie heiraten zu wollen, wich sie mit einem Scherz aus. Dann begann der Kampf in ihr: Er ist kein rücksichtsloser Taugenichts wie Jon. Er ist zuverlässig, er ist freundlich, er will mich. Das Leben mit ihm dürfte nicht schwer sein. Hör auf, dich so kindisch zu benehmen! Hör auf, davon zu träumen, barfuß in den wilden Wäldern von Elysium zu tanzen. Ja, ja, ich werde erwachsen werden … aber jetzt noch nicht. Noch nicht.

Ihr Besuche bei Sam machten nur einen geringen Teil ihres Lebens aus, aber jeder davon setzte ihr zu: Sie waren so intensiv in ihrer Seltsamkeit und Künstlichkeit. Vom Tisch getrennt sahen sie und Sam einander in die Augen und führten endlose Gespräche. Und egal welche unförmigen Jeans oder Pullover sie zu ihrem Schutz trug, immer spürte sie seinen Blick, der heiß und spekulativ über ihren Körper glitt. Jedes Mal gelang es ihm, mit seiner Aufmerksamkeit Unbehagen bei ihr hervorzurufen. Und es lag auf der Hand, dass er es genoss und sich deshalb auch keine Mühe gab, es zu verschleiern.

»Wie geht’s Rotschopf?«, erkundigte er sich hämisch und meinte damit Alastair. »Und wie geht es Captain Normal und seiner Brut?«

»Wenn du Matthew und Heather meinst – denen geht es gut.«

»Ich hoffe nur, er weiß, dass er Menschen heiraten kann, bis er schwarz wird, seine Kinder werden deshalb noch lang keine Menschenwesen.«

Rosie spürte, wie ihr heiß wurde. »Das würde sich keiner trauen, ihm zu sagen. Für ihn ist Heather hundert Prozent Mensch.«

»Und Faith kauft ihm das ab?«

»Faith kauft Matthew alles ab, was er vertritt, und wenn er behaupten würde, dass der Himmel gelb ist.«

Sam hielt den Kopf schief und sah sie ernsthaft an. »Sprichst du denn wenigstens mit ihr darüber, wer wir sind?«

»Gewissermaßen«, meinte Rosie und grinste dabei. »Ich habe ihr einiges erzählt, als wir noch jünger waren. Dann fiel mir aber ein, dass ich das nicht durfte, und versuchte es zu vertuschen. Doch Faith wollte es unbedingt glauben, aber jetzt, da sie ihren Elfenprinzen geheiratet hat, muss sie so tun, als wäre nichts davon wahr.«

»Was hat Matthew denn für ein Problem damit?«

»Ich weiß es nicht.« Sie seufzte. »Er hat immer schon seine festen Überzeugungen gehabt. Für unsere nicht menschliche Seite interessiert er sich nicht, aber ich denke, er hat das Recht, das so zu sehen, wie er möchte. Und was ist mit dir?«

»Was auch immer wir sind, ich kann es annehmen oder sein lassen.« Sam beugte sie weiter vor und stützte sich auf seine verschränkten Arme. »Fragst du dich denn nie, was wir sind, Rosie?«

»O doch«, erwiderte sie leise. »Haben deine Eltern je mit dir darüber geredet?«

Sam seufzte leise und senkte seinen Blick. »Mein Vater hat nie viel mit uns gesprochen, außer um seine Enttäuschung über uns zum Ausdruck zu bringen.«

»Bist du schon mal durch die Tore gegangen?« Sie rechnete fest damit, dass sie auf Sams Antwort mit Neid reagieren würde, denn sicherlich hatte er sich heimlich hindurchgestohlen, aber er sagte: »Nein. Schattenreiche oder Dumannios, mehr nicht. Ich mag Dumannios eigentlich ganz gern.« Dabei streifte sein Blick die pilzartige Dunkelheit, in der vereinzelt Reptilienaugen funkelten. »Es passt zu mir.«

Rosie versuchte nicht einmal, es ins Lächerliche zu ziehen. Sam war inzwischen so bleich und ausgezehrt, dass er tatsächlich aussah, als wäre er ein Teil davon.

Er fuhr fort: »Man sagt, dass wir bei unserer Geburt alles wissen. Unsere Geschichte, alles, was die Spirale betrifft und unser elementares Wesen. Aber das vergessen wir und müssen es wieder neu lernen. Das ist auch der Grund, weshalb wir alle so verkorkst sind.«

»Ich kann das in Heathers Augen sehen«, sagte Rosie. »Zwei klare blaue Teiche. Manchmal rechne ich damit, dass sie wie eine Erwachsene spricht.«

»Solange sie vor ihrem Daddy den Mund hält.« Sein Mundwinkel zuckte nach oben. »Das Problem ist nur, dass wir die Anderswelt erst verstehen werden, wenn wir dorthin gehen. Genauso wie sämtliche Reiseführer kein Ersatz für den Moment sind, wenn du tatsächlich am Ziel aus dem Flugzeug steigst.«

Rosie hatte damit gerechnet, dass dieses Gespräch zu einem Wettstreit nach dem Motto Ich weiß aber mehr als du ausarten würde, aber es war alles andere als das. Sie fragte Sam: »Weißt du, warum dein Vater die Tore geschlossen hat?«

Er kaute an seiner Unterlippe und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Du erwartest wohl eine großartige Enthüllung?«

»Ich hoffe«, erwiderte sie mit dem Hauch eines Lächelns.

»Ihm ist auf der anderen Seite etwas widerfahren, was ihn völlig hat ausflippen lassen. Er will nicht darüber reden. Er trinkt und hat Albträume, glaubt aber, dass keiner es weiß.«

»Könnte deine Mutter nicht zur Aufklärung beitragen? Deine richtige Mutter, meine ich?«

Ein kaltes Glitzern blitzte in seinen Augen auf und erschreckte sie. Sie spürte seine Wut körperlich wie kalte Luft, die sich zwischen sie drängte. »Diesen Weg brauchst du gar nicht einzuschlagen«, sagte er.

»Warum nicht? Ich weigere mich, einen Eiertanz um dich herum aufzuführen, Sam. Warum willst du nicht über sie sprechen?«

»Weil sie tot ist.«

Rosie war bestürzt. »Das tut mir leid. Das hat uns keiner gesagt.«

»Und wenn nicht, dann könnte sie es genauso gut sein.«

»Dann ist sie es also nicht.«

»Wir wissen es nicht! Das ist es ja! Sie verschwand eines Tages, als Lawrence Jon und mich zurück zur Schule brachte. Seitdem haben wir kein Wort mehr von ihr gehört. Ich kann verstehen, dass sie keinen Kontakt zu Dad haben will, aber zu ihren eigenen Söhnen?« Sie sah, wie seine Armmuskeln sich wie Seile anspannten.

»Vielleicht ist sie in die Spirale gegangen.«

»Gut möglich. Das hofft Jon, aber ich meine immer noch, sie hätte einen Weg finden müssen, mit uns in Kontakt zu treten. Wir haben nur Lawrence’ Wort, dass sie verschwunden ist. Nach allem, was wir wissen, könnte er sie auch ermordet und irgendwo im Gebüsch vergraben haben.«

»Aber sie ist weggegangen«, sagte Rosie.

Das blaue Feuer wurde heftiger. »Woher zum Teufel willst du das wissen?«

»Weil ich sie weggehen sah.« Sie beschrieb die Durchsuchungsaktion, die sie, Lucas und Matthew vor Jahren in Stonegate durchgeführt hatten.

Sam saß in sich gekehrt da. Dann stammelte er: »Weißt du, solange ich glaube, dass sie tot ist, kann ich ihr verzeihen. Aber wenn sie lebt und nie …«

»Es tut mir leid«, sagte Rosie hilflos. »Ich wollte dir damit eigentlich helfen, nicht alles schlimmer machen. Nie hätte ich gedacht, dass du das nicht weißt.«

»Nein«, sagte er und schluckte. »Ich habe nie ernsthaft daran geglaubt, dass sie tot ist, nicht in meinem Herzen. Aber ich musste daran glauben, dass sie uns nicht aus freien Stücken ignoriert hat. Ich meine, was haben wir getan …?«

Fast hätte sie ihren Arm ausgestreckt, um seine Hand zu berühren, doch sie hielt sich zurück. »Weißt du denn, warum sie gegangen ist?«

»Endlose Streitereien. Mein Vater wollte in Ecuador bei seiner Mine leben. Mutter bestand darauf, dass sie nach Hause zurückkehrten. Das hat Lawrence ihr nie verziehen … dass sie ihn zwang, sich seiner Verantwortung zu stellen.«

»Das muss fürchterlich gewesen sein für dich und Jon.«

»Sollte ich je herausfinden, dass er was mit Sapphire hatte, bevor Mum wegging, ist sie erledigt.«

»Sie behauptet, das sei nicht der Fall«, warf Rosie rasch ein. »Wie ich dir schon erzählt habe, wird sie aus Lawrence genauso wenig schlau wie alle anderen. Und sie dachte, die Edelsteine wären der Schlüssel zu ihm, aber das sind sie nicht.«

Sam, der seinen Blick gesenkt hatte, sah ihr wieder in die Augen. »Albinit stammt aus Naamon, behauptet mein Vater. Die Mine war eine Schnittstelle, ein kleineres Portal.«

»Das Reich des Feuers. Vulkane, unglaublicher Druck, deshalb fabelhafte Kristalle«, zählte Rosie auf.

»Sobald ich aus diesem Höllenloch hier rauskomme, bringe ich dich dorthin, Süße.«

»Wie ich gehört habe, soll es um diese Jahreszeit etwas warm dort sein.«

Er lächelte dünn. »Mein Vater hatte dort einen Feind namens Barada, der Besitzansprüche auf das Land geltend machte, auf dem sich die Mine befand. Sie kämpften jahrelang darum. Und mir kam der Gedanke, dass mein Vater sich womöglich entschlossen hat, die Tore zu schließen, bloß um Barada von seiner Mine fernzuhalten.«

»Mir hat er erzählt, die Mine sei erschöpft.« Rosie runzelte die Stirn. »Würde er sich damit denn nicht ins eigene Fleisch schneiden?«

»Wie ich schon sagte, mein Vater ist unergründlich.«

»Warum erzählt er dann Lügengeschichten von irgendwelchen Stürmen?«

»Wenn er die Wahrheit sagen würde, bekäme er wahrscheinlich Hautausschlag.«

Rosie fühlte sich seltsam in diesem düsteren Verlies voll flüsternder Stimmen mit einem Schwindler, der sie in nebulöse Verschwörungsgerüchte verwickelte. Sobald sie nach Hause kam – sofern sie Dumannios Fängen entkam –, würde sie mit Alastair in den Pub gehen und alles wäre wieder wohlig normal. »Warum kann er nicht einfach die Mine sichern, die Tore öffnen und ganz normal weiterleben?«, fragte sie.

»Aber ja doch, warum habe ich daran noch nicht gedacht?«, rief Sam aus. »Du brauchst nur noch auf Stonegate aufzukreuzen und es ihm zu sagen. Und schon wird alles gut.«

»Ich frage ja nur. Du kannst dir deinen Sarkasmus sparen.«

»Tut mir leid, meine Liebe.« Sam rieb sich das Gesicht. Müdigkeit ließ seine scharf geschnittenen Züge wie gemeißelt aussehen. »Er kann nicht. Er ist wie gelähmt. Psychisch, meine ich. Damit will ich sagen, dass der Kampf um die Mine nur ein Symptom für etwas viel Schlimmeres war. Vor einer Weile hörte er auf, von Barada wie von einer menschlichen Plage zu sprechen, und fing an, in ihm eine Art kosmischen Feind zu sehen … so wie Leute sich auf den Teufel beziehen. Wonach hört sich das deiner Meinung nach an?«

»Paranoia.«

»Genau. Als ich diesen Eindringling erstach, war mein Vater davon überzeugt, er wäre von irgendeinem düsteren übernatürlichen Feind geschickt worden.«

Rosie fragte verdutzt: »Das ist doch nicht möglich … oder?«

Sam schwieg eine Weile. Als er wieder sprach, sagte er im Flüsterton: »Nein, es war ein Junkie, der versucht hat, uns zu berauben, weil er wusste, dass mein Vater stinkreich ist. Ich habe Jon immer davor gewarnt, sich mit diesem Abschaum herumzutreiben, aber er hat nie hören wollen.«

»Das weiß ich, Sam. Jon hat es mir gesagt. Er war völlig fertig vor lauter Schuldgefühlen. Er hat ein paar zwielichtige Typen angezogen, aber es kann ihm nicht bewusst gewesen sein, dass sie mit Drogen dealten oder ihm was Böses antun wollten.«

»Nicht bewusst?« Sam zwinkerte beredt. »Wieso glaubst du wohl, dass die sich um ihn geschart hatten? Jon ist derjenige, der ihnen weiß Gott was verkauft. Er glaubt, ich wüsste das nicht, aber ich habe meine Quellen.« Seine Miene wurde hart und wütend.

»Jon dealt …« Ihr blieb der Mund offen stehen.

»Was? Du hältst ihn wohl noch immer für einen perfekten Botticelli-Engel? Naiv ist er allerdings. Zu kostbar für diese Welt. Ihm kommt gar nicht in den Sinn, dass irgend so ein zwielichtiger Kerl nicht mehr in ihm sieht als einen bescheuerten reichen Typen mit einem großen Haus: ein leichtes Ziel.«

»Willst du damit sagen, es sei alles Jons Fehler?«

»Nein«, sagte Sam. »Ich würde nie die Schuld auf Jon abwälzen. Er war nur ein Glied in der Ereigniskette. Doch deshalb weiß ich, dass nichts Übernatürliches dabei im Spiel war.« Er öffnete eine Hand und zeigte damit die gruseligen Veränderungen ihrer Umgebung an. »Was auch immer in meinem Vater vorgehen mag, es wird nur schlimmer. Ich spüre das hier drinnen. Dumannios wird immer schmutziger und hält sich länger, als einem willkommen ist.«

Bei seinen Worten bekam sie Gänsehaut. So schwierig sie es fand, mit dem schurkischen, hinterhältigen Sam zurechtzukommen, diese besorgte Seite an ihm war noch schwerer zu ertragen. »Mit Lawrence zu reden ist furchtbar schwer. Er ist einen Moment lang rational, lässt aber gleich darauf eine Bemerkung fallen, die einen glauben lässt, dass er seinen Verstand verloren hat.«

»Ich weiß. Weiß der Himmel, was ich vorfinden werde, wenn ich herauskomme.«

»Kann ich irgendwas für dich tun?«

Sein Blick, der auf ihr ruhte, wurde weich. »Du hast genug getan. Allein das Reden hilft. Und die Wut gilt nicht dir, Süße.«

»Ein bisschen schon, finde ich«, erwiderte sie spitzzüngig.

»Und doch willst du mir helfen.« Er hielt inne. »Hey, fast hätte ich vergessen, dir alles Gute zum Geburtstag zu wünschen.«

»Woher wusstest du, dass mein …«

»Habe ich immer gewusst. Bist gerade dreiundzwanzig geworden, nicht wahr? Sofern das Alter für Elfenwesen von Bedeutung ist. Und wenn ich könnte, Baby, dann würde ich dir verdammt noch mal das größte Geburtstagsgeschenk machen, das du jemals im Leben bekommen hast.«

Bei seinem Grinsen wurde ihr ganz heiß. »Halt den Mund«, stöhnte sie. »Wir waren gerade bei der Frage, ob ich dir irgendwie helfen kann.«

Er atmete aus. »Okay. Es gibt da etwas, was mir helfen könnte, meine Liebe. Ein Foto von meiner Mutter.«

Dies bedeutete einen weiteren Besuch auf Stonegate. »Sei vorsichtig, Sam. Du bringst mich nämlich auf die Idee, dass du gar nicht so tough bist, wie du dich gibst.«

»Fehlanzeige.« Und dabei lächelte er und seine blaugrünen Iriden glitzerten schelmisch. »Hey, bring mir doch auch eins von dir mit, wenn du schon dabei bist. Ein Schnappschuss in Dessous wäre toll.«

Am nächsten Tag stieg Rosie, begleitet von Lucas, hinauf nach Stonegate Manor. Die steinernen Zinnen ragten vor ihnen auf und weckten Erinnerungen. »Bei diesem Anblick schaudert mich noch immer«, sagte sie. »Geht es dir genauso?«

»Nein, natürlich nicht.« Lucas warf sein langes dunkles Haar nach hinten.

»Das nehme ich dir nicht ab«, sagte sie frotzelnd. »Ich denke, dass es dir, egal wie oft du hier hochkommst, immer noch kalt über den Rücken läuft.«

»Sei still«, sagte er zwischen Seufzen und Lachen. Je höher sie kamen, desto weiter wurde der Blick. Zerklüftete Felsen, unterbrochen von frühlingsgrünen Waldstreifen und über ihnen die verkanteten Felsen von Freias Krone. »Was wirst du sagen?«, fragte er.

»Einfach, dass Sam ein Foto von Virginia haben möchte. Ich werde mich kurzfassen. Ich habe keine Lust, wieder in irgendwelche komischen Gespräche verwickelt zu werden. Sapphire kümmert sich einen Dreck um Sam und ich glaube, bei Jon ist es nicht viel anders.«

»Da täuschst du dich«, sagte Lucas. »Er kann nur ganz schlecht damit umgehen.«

Im Weitergehen fragte Rosie: »Wie ist Lawrence denn so zu dir?«

»Ganz in Ordnung. Ich sehe ihn nicht oft. Er ist freundlich, aber förmlich. Erzählt mir was von der Steinschneidekunst oder der Geschichte von Stonegate, so was eben. Nichts Persönliches.«

»Magst du ihn denn?«

Lucas schien die Landschaft zu bewundern, als sie das Gelände durch den rückwärtigen Garten betraten. Schließlich antwortete er: »Ja, ich mag ihn. Er ist nicht zugänglich wie Dad. Er kann unglaublich einschüchternd sein. Aber irgendwie mag ich ihn trotzdem.«

Als sie die Küchentür erreichten, klopfte Rosie. Da nach ein paar Minuten keiner antwortete, drückte Lucas die Klinke und öffnete die Tür. »Ich gehe normalerweise einfach rein«, sagte er. »Komm.«

Weder in der Küche noch im Saal war jemand. Das Haus war wie eine lautlose Höhle, die sie teilnahmslos beobachtete. Lucas blieb in der Mitte stehen und schaute hoch zur Galerie. »Hallo, jemand zu Hause? Jon?«

»Sieht so aus, als wär keiner da«, sagte Rosie ernüchtert. »Was ist das für eine Familie, bei der eingebrochen wurde und die dennoch ihre Türen unverschlossen lässt?«

»Ich versuche es mal in der Bibliothek«, sagte Lucas und rannte die breite Treppe hoch.

»Wenn du ein Foto findest, nimm es einfach mit«, rief sie ihm hinterher. Sie ging in eins der Wohnzimmer, die man vom Saal aus betrat und durch dessen bleiverglaste Terrassentüren man einen schimmernden Blick auf eine weite Rasenfläche hatte, die sich zu einem Gewirr aus grünen Rhododendronlauben und Birken absenkte. Sie kam sich wie ein Dieb vor, als sie an einen der Schränke trat und ein paar Schubladen öffnete. Darin befanden sich Notizbücher, Stifte, Büroklammern, der ganz gewöhnliche Kleinkram eines Haushalts. In der zweiten Schublade fand sie ein kleines gerahmtes Foto von Lawrence mit einer dunkelhaarigen Frau; und da sie ein Geräusch hörte, steckte sie es schuldbewusst in ihre Tasche und trat dann an die Glastüren. Die geschliffenen Scheiben beschlugen unter ihrem Atem.

Sie sah eine Bewegung im Garten. Gestalten, halb verborgen hinter dem Grün … Jon und Sapphire. Sie wollte schon »Luc!« rufen, aber das Wort erstarb in ihrer Kehle.

Jon lehnte an einer Birke. Sapphire stand direkt vor ihm und redete auf ihn ein. Sie war viel zu nah, bedrängte ihn; Jon hatte abwehrend die Arme vor der Brust verschränkt. Das Gespräch ging weiter, vertraulich und heftig, als würde Sapphire ihm eine Lektion erteilen. Sie hob die Hand und stützte sich damit an einem Ast neben Jons Kopf ab. Dann strich sie ihm mit ihrer Linken übers Haar.

Rosie sah wie gebannt zu, als sähe sie einen Film an. Die Zeit schien stillzustehen. Sie sah, wie Sapphire näher kam und ihm einen Kuss auf die Wange gab, der mütterlich hätte sein können … bis ihre rechte Hand seinen Kopf von hinten umfasste und er seine verschränkten Arme löste und seitwärts hängen ließ … nein, nein

Es gab keinen Zweifel, sie küssten sich.

Sapphire presste sich an seinen Leib. Jons Hände ruhten leicht auf ihren Hüften.

Rosie stand hinter dem Schleier aus Glas und verfolgte das Geschehen so gebannt wie den Höhepunkt eines Horrorfilms. Sie glaubte sich übergeben zu müssen. Als sie Lucas an ihrer Schulter ein- und ausatmen hörte, wäre sie vor Schreck fast aus der Haut gefahren.

»Oh, Scheiße«, sagte er lapidar.

Rosies Kopf fuhr herum und sie sah, dass ihr Bruder sie mit großen Augen anstarrte, die ihr inneres Erschrecken widerspiegelten. Keiner von beiden brachte ein Wort heraus. Schließlich unternahm er einen schwachen Versuch, sie am Arm wegzuziehen, und sagte: »Nicht hinsehen, Ro.«

»Genau, weil es dadurch ungeschehen gemacht wird?« Sie kehrte dem Fenster den Rücken zu. Ihr Herz schlug heftig. »Bitte sag mir, dass sie nicht mehr machen.«

»Tun sie nicht.« Lucas stieß die angestaute Luft aus. »Sie kommen aufs Haus zu.«

»Wusstest du davon?«, fragte sie angespannt.

»Was?« Sein Gesicht nahm die Farbe von Porzellan an. »Natürlich nicht! Sehe ich etwa so aus, als wüsste ich es?«

»Du verbringst so viel Zeit mit ihm und er hat es nie erwähnt? Sie holte schaudernd Luft und lachte dann. »Das ist großartig, nicht wahr? Gestörter kann eine Familie wohl nicht mehr sein.«

»Ich schwöre dir, ich hatte keine Ahnung. Vielleicht ist es bloß … was Einmaliges.«

»O ja, denn wer hätte seiner Stiefmutter nicht schon mal einen Zungenkuss gegeben? Körpersprache, Luc. Das war nicht das erste Mal.«

Lucas sah sie hilflos an. »Was sollen wir jetzt tun?«

»Nichts«, sagte Rosie. »Lass uns gehen.«

Wie Diebe traten sie den Rückzug an. Doch es war zu spät. Als sie die Küche betraten, kam Jon gerade durch die Hintertür und zuckte bei ihrem Anblick zusammen wie ein nervöses Hengstfohlen. »Oh, hi«, sagte er. »Wusste gar nicht, dass ihr hier seid. Hi Rosie.«

Im Durchgang hinter ihm sah Rosie Sapphire ihre Gartenstiefel ausziehen. »Hallo meine Lieben«, sagte sie fröhlich über Jons Schulter. »Was für eine reizende Überraschung. Tee?« Sie schob Jon aus dem Weg – Rosie schauderte, als sie ihre Hände auf ihm sah – und ging quer durch den Raum auf den Wasserkessel zu.

»Nein, lassen Sie, wir bleiben nicht«, sagte sie rasch.

»Oh! Ihr könnt doch nicht gleich wieder gehen.«

»Wir haben gedacht, es sei keiner da«, sagte Lucas.

»Wir haben nur ein paar Sachen im Garten gemacht«, sagte Sapphire munter. »Es kommt selten genug vor, dass ich es schaffe, Jon ins Freie zu locken.«

»Das glaube ich gern«, sagte Rosie kaum hörbar. »Eigentlich muss ich Mr Wilder sprechen. Ist er hier?«

Rosies brüsker Ton verblüffte Sapphire. »Nein, er ist in London. Kann ich helfen?«

»Ja, Sam bat mich um ein Foto von Virginia«, sagte Rosie ruhig.

Die beiden starrten sie so erschrocken und blass an, dass Rosie wider Erwarten leichtes Spiel zu haben schien. »Äh, ja, kein Problem«, sagte Jon. Er ging an den Küchenschrank und holte fast umgehend eines heraus; es war ein Foto im Postkartenformat von einer lächelnden Frau mit bleicher Haut, rabenschwarzen Haaren und mehreren Bändern mit Türkisen um den Hals.

»Danke«, sagte Rosie. Dass seine Finger die ihren streiften, als sie es entgegennahm, ignorierte sie. Jons Gesicht war bleich, die Pupillen geweitet, das herbstfarbene Haar zerzaust, aber immer noch dicht und seidig wie eh und je. In ihr ruhte das geronnene Wissen, dass er mit Mel geschlafen hatte, und alles übrige. Wie konnte es sein, dass er gleichzeitig so ungesund und so herzzerreißend schön aussehen konnte? »Ich dachte, du willst vielleicht hören, wie es Sam geht, falls es dich überhaupt interessiert.«

Ihre Worte waren schal und voller Verachtung. Zum ersten Mal machte Rosie die Erfahrung, dass ihre Enttäuschung über ihn in Wut umschlug. Zum ersten Mal sah sie Jon an und empfand nicht Liebe, sondern Hass.

»Du tust mir unrecht«, sagte er und zog die Stirn kraus. »Natürlich interessiert es mich.«

»Ach ja?« Sie verschränkte ihre Arme und ließ ihn nicht aus den Augen. »Dein Interesse ist so groß, dass du nicht mal anrufen oder die paar hundert Meter den Berg hinunterlaufen kannst, um dich nach ihm zu erkundigen?«

Diese neue, wütende Rosie machte ihm Angst und zog ihm den Boden unter den Füßen weg. »Aber ich sehe doch Lucas ständig.«

»Aber Lucas ist nicht derjenige, der sich jeden Monat für zwei Stunden zu ihm an diesen schrecklichen Ort begibt. Lucas ist nicht derjenige, der ihn kennt!«

Seine Miene verdüsterte sich. »Moment mal. Wieso auf einmal?«

Rosie hielt die Luft an. »Du hast recht. Ich hätte schon früher mal was sagen sollen. Aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt, nett und zuvorkommend zu sein.«

Sapphire warf ein: »Aber, Rosie, Sie wissen doch, dass Sam sich weigert, uns zu sehen. Wir würden natürlich zu ihm fahren, wenn er uns ließe, aber er lässt es nicht zu.«

Jons Augen wurden hart. »Weißt du, wenn du ein Problem mit diesen Besuchen hast, schön. Wir dachten, es würde dir nichts ausmachen. Sag es einfach, aber komm nicht hierher, um uns aus heiterem Himmel zu beschimpfen.«

»Ich habe kein Problem damit, Sam zu besuchen!«, sagte Rosie aufbrausend. »Ich gehe gerne hin und werde das bis zum bitteren Ende tun! Doch ihr schert euch einen Dreck um ihn, und das regt mich auf!«

Alle erstarrten in einem sehr englischen Schweigen.

Jon und Lucas waren offenbar beide wie vor den Kopf gestoßen. Sapphire trat nach vorne und lehnte sich an den Küchenblock. Ihr Mund war noch vom Küssen gerötet. »Rosie«, begann sie mit schmerzerfüllter Stimme, »Sie haben ja keine Ahnung, was wir durchgemacht haben oder was wir fühlen. Hier herzukommen und uns vorzuwerfen, wir würden uns nicht für Sam interessieren, ist anmaßend. Warum setzen wir uns nicht zusammen, trinken Tee und unterhalten uns wie zivilisierte Leute?«

»Nein«, sagte Rosie und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss und ihre Augen zu brennen anfingen. »Danke. Aber der würde mir nur bitter aufstoßen.«

»Wie bitte?«

»Entschuldigen Sie mich. Ich gehe besser. Hoffentlich ist Ihnen klar, dass Sam nicht für ewig im Gefängnis sein wird. Und ich kann nur hoffen, dass Sie darauf vorbereitet sind, wie sehr er sich verändert hat.«

Auf dem Weg zur Hintertür fing sie Sapphires schockierten Gesichtsausdruck ein, Jon würdigte sie keines Blickes. Wenige Sekunden später, als sie über die Wiese bergabwärts lief, holte Lucas sie ein. »Warte auf mich«, sagte er. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ich habe nicht nur deshalb einen Wutanfall bekommen, weil ich Sapphires Zunge in Jons Hals gesehen habe. Da sind noch andere Dinge. Wusstest du, dass er Drogen vertickt hat?«

Verborgen hinter Gebüsch blieben sie stehen und sahen sich an. Lucas’ schuldbewusster Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er es bereits wusste. »Rosie – ich schwöre es –, es ist nichts Ernstes. Es ist nur pflanzliches Zeug, nicht mal illegal.«

»Pflanzlich? Und Cannabis ist das etwa nicht? Eine pharmakologische Wirkung wird es ja wohl haben, sonst würden die Leute es nicht kaufen. Luc, du hättest schon seit zwei Jahren einen Abschluss in Musik haben sollen! Stattdessen treibst du dich mit Jon herum, und was machst du? Verkaufst Drogen und spielst in einer drittklassigen Band. Verdammt noch mal, Luc. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal für dich schämen muss, aber ich tu’s.«

Sie setzten ihren Weg fort. Eigentlich rechnete sie nicht damit, dass er ihr folgte, aber er tat es, fast auf den Fersen. »Ich war so verliebt in ihn«, sagte sie. »Und er hat nichts anderes getan, als meinen kleinen Bruder dazu zu bringen, sein Leben zu verplempern. Ihm sind alle anderen egal, er sieht nur sich selbst.«

»Es tut mir leid, Rosie«, jammerte Lucas. »So stimmt das nicht.«

»Bist du blind oder bin ich es? Luc, ich werde dir keine Vorschriften machen oder dir verbieten, Jon zu sehen. Du würdest ohnehin nicht auf mich hören.«

Ein paar Schritt weit war er still, dann sagte er: »Er ist mein Bruder, mein Freund – ich weiß, dass er schwierig ist, aber er ist keine schlechte Person. Er steigert sich manchmal zu sehr in Dinge hinein …«

»Wie etwa seine Stiefmutter?«

»Dafür habe ich keine Erklärung.« Lucas schob eine Hand unter ihren Arm.

Nachdem sie wieder ein paar Schritte gegangen waren, fragte sie: »Hat Sapphire dich je dazu befragt, wie es ist, ein Elfenwesen zu sein?«

»Äh, ja, das hat sie«, sagte er mit besorgter Miene. »Ich erzählte ihr, dass die Schattenreiche sich irgendwo manifestieren können, die Spirale aber eine völlig separate Dimension darstellt … so was in der Art. Sie nickte daraufhin und meinte, das hätten Lawrence und Jon ihr auch erzählt.«

»Dann wollte sie also überprüfen, ob sie nicht angelogen worden war? Warum vertraut sie ihnen nicht?«

Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Wir haben doch nichts zu verbergen, oder? Ich habe ihr nur die Wahrheit gesagt.«

»Und schien sie sich damit zufriedenzugeben?«

»Nicht wirklich, aber ich hätte nicht gewusst, was sie sonst noch hören wollte. Eigentlich müsste Lawrence ihr doch alles erzählen können, was sie wissen möchte?«

»Genau«, sagte Rosie. »Worauf also will sie hinaus? Stellt Fragen … macht hinter Lawrence’ Rücken mit ihrem eigenen Stiefsohn herum …«

Sie verfiel in Schweigen, bis Lucas sagte: »Ich halte das nicht aus, dich so verletzt zu sehen, Ro. Lieber sehe ich Jon nie mehr in meinem Leben, als dich gegen mich aufzubringen. Du hast recht, ich sollte mich eine Weile von ihm fernhalten. Und das werde ich auch, ich verspreche es dir.«

Bei allem Elend, das sie bedrückte, war das eine willkommene Erleichterung. Sie wandte sich ihm zu und umarmte ihn. Aber eigentlich hätte sie das gar nicht erstaunen dürfen, denn schließlich war das der gute, loyale Lucas.

»Bedingungslose Liebe ist ein Hirngespinst«, sagte Rosie zu ihrem Spiegelbild, »bedingungslose Liebe ist eine Lüge, die dir vorgaukelt, dass du jemanden aus der Ferne lieben kannst, jemanden, der deinen Blick niemals auch nur erwidert und dass es in Ordnung ist; dass es rein, tugendhaft und edel ist. Aber es ist eben nicht okay. Es ist ein verdammtes Hirngespinst!«

Sie war dreiundzwanzig, im perfekten Alter, endlich erwachsen zu werden.

Rosie fand, dass sie es am Ende ganz gut hinbekommen hatte. Schließlich hatte sie, was Jon betraf, mittlerweile jede Menge Übung. Sie saß vor ihrem Spiegel und betrachtete die Narbe, die Sam auf ihrem Hals hinterlassen hatte, wohl wissend, dass es an der Zeit war, das geliebte Oakholme und die Träume von Elysium hinter sich zu lassen.

»Worauf warte ich noch?«, fragte sie sich.

Geistesabwesend lackierte sie sich ihre Fingernägel mit der dunklen Regenbogenfarbe des Zeitgeist-Nagellacks, als Lucas hereinkam, dem die Sorge auf den Nägeln brannte, ob sie ihm verziehen hatte. Sie unterhielten sich über die Vergangenheit, über Jon und Sam und Lawrence, und dabei drehte es sich vor allem darum, sich von allem zu lösen und stattdessen Matthews Perspektive eine Chance zu geben.

»Die Wilders …«, sagte sie matt. »Was meinst du, werden wir jemals ganz von ihnen frei sein?«

Und Lucas erwiderte darauf: »Willst du das denn?«

Ja, ja ich will es, überlegte sie, nachdem Luc gegangen war. Es ist an der Zeit. Ich befinde mich an einem Scheideweg und muss mich für den Weg entscheiden, der mich weiterbringt – und ich werde diesmal meinen Verstand einsetzen und nicht mein dummes Herz.

Natürlich würde sie Sam auch weiterhin besuchen – aber wenn er erst mal entlassen war, könnte sie auch das hinter sich lassen und stattdessen mit weit geöffneten Armen auf die Menschenwelt zugehen.

Das kleine gerahmte Foto, das sie in der Hoffnung eingesteckt hatte, es sei eins von Lawrence und Virginia, entpuppte sich als Hochzeitsfoto von Lawrence und Sapphire. Das würde Sam ganz sicherlich nicht sehen wollen. Als sie die Rückseite abnahm, fand sie ein anderes Foto in Passbildgröße von einer sehr viel jüngeren Sapphire mit einem älteren Mann – zweifellos irgendein Sugardaddy. Seufzend setzte sie den Rahmen wieder zusammen und warf ihn ganz hinten in ihre Schublade. Eheglück, in der Tat.

Dann ließ sie ihre Gedanken zu Alastair wandern. Wenn sie an ihn dachte, fühlte sie keinen Schmerz, nur Wärme. Sein freundliches Wesen und seine Beständigkeit … hier würde das Heimkommen Freude machen. An seine kräftige Rugbyspielerfigur hatte sie sich gewöhnt, und der Sex mit ihm war gut. Gewiss, wilde Leidenschaft oder fantasievolles Liebesspiel sah anders aus, aber das war in Ordnung, das entsprach nicht seinem Naturell. Ihr Liebesleben war zärtlich, kameradschaftlich und befriedigend und mehr konnte man nicht erwarten. Sicher, er konnte manchmal auch mürrisch sein, aber Macken hatte jeder, doch es brauchte schon einiges, um ihn zu reizen, und seine seltenen Wutausbrüche waren schnell wieder vorbei. Kurz gesagt, er war wunderbar normal. War Jon ein qualvoller, dorniger Pfad, so empfand sie die von Alastair verkörperte breite, offene Straße als zunehmend erstrebenswert. Er war in ihrem Leben so sehr zum Fixpunkt geworden, dass sie sich eine Zukunft ohne ihn gar nicht mehr vorstellen konnte.

Am nächsten Tag öffnete Rosie ihr Schlafzimmerfenster und lehnte sich hinaus, um sich an dem schimmernden frischen Frühlingsgrün zu laben. Sie fühlte sich ganz merkwürdig: taub, gefühllos, verlassen. Doch ohne Schmerz. Das war gut. Es war fast ein angenehmes Gefühl, ein Loslassen, Sorglosigkeit, Sich-treiben-Lassen.

Zeit für einen Neuanfang.

Doch es war schwer, das Bild zu vergessen, in das sie sich verliebt hatte: Jons seelenvolle Augen, sein scheues Lächeln und das fließende Haar. Die Vision von ihm in der frühen Morgensonne mit zurückgeworfenem Kopf und wehendem Haar.

Was Jon getan hat, zählt nicht, sagte sie sich. Es gibt nur eins, was du wissen musst, und zwar, dass er dich nicht haben will. Nicht weil etwas mit dir oder mit ihm nicht stimmt, sondern weil er die Welt anders wahrnimmt, das Seelenlicht in dir nicht erkennt, die leuchtende andere Hälfte seines Selbst.

Jon hat mir nicht das Herz gebrochen.

Meine Fantasien haben es gebrochen.

Matthew hatte recht. Die Anderswelt war tot. Die Tore verschlossen, verlassen, der Schlüssel verrostet und weggeworfen. Vaethyr waren schöne Hülsen, kalt, närrisch und innen leer. Menschen waren warm und ungefährlich. Sie würde ihre Fantasien wegpacken und sich auf die sichere Seite schlagen.

Wenn Alastair ihr das nächste Mal die entscheidende Frage stellte, würde er sich auf einen Schock gefasst machen können.

Eines Abends im Juli – gute drei Monate nachdem Rosie ihm von ihrer Verlobung mit ihrem menschlichen Freund erzählt hatte, eine Nachricht, auf die er jedoch weitgehend gleichgültig reagiert hatte – fuhr Lawrence in der sommerlichen Abenddämmerung nach Hause, in Gedanken noch immer bei seinem unangenehmen Besuch in London. Es war ihm nicht leichtgefallen, eine zuversichtliche Miene aufzusetzen und den Mitarbeitern zu erklären, dass die Albinitvorräte erschöpft waren. Die Stimmung war schlecht. Es gab andere Edelsteine – aber wenn es den einen, der Wilder Jewels so einzigartig gemacht hatte, nicht mehr gab, war es da überhaupt sinnvoll, weiterzumachen?

Als er um die letzte Kurve bog, bremste er erschrocken angesichts der riesigen Menschenmenge, die am Eingang von Stonegate Manor die Straße blockierte. Er hupte, aber sie sahen ihn nur an. Weil er die Geduld verlor, stieg Lawrence aus, um zu protestieren, sah dann aber, dass er es mit lauter Vaethyr zu tun hatte.

Als er zwischen ihnen hindurchschritt, tauchte er unbeabsichtigt in die Schattenreiche ein, die den versammelten Vaethyr wie eine Aura anhafteten und ihre Anderswelt-Gestalten offenbarten: elegant, mit Juwelenaugen, manche mit dem Ansatz von Ranken oder hauchdünnen Flügeln. Ihr Haar war lebendiges Licht. Während sie sich ihm näherten, richteten sie ihre stechenden Augen auf ihn, und der hohe emotionale Druck, unter dem sie standen, schwappte in einer Welle auf ihn zu.

Steif blieb Lawrence stehen und beobachtete sie. Einige trugen Masken, andere zeigten ihre Gesichter, aber er kannte sie alle. Es waren nicht nur Einheimische, sondern auch einige, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. In der Mitte der Einfahrt, zwischen den beiden Wachposten aus Granit, stand ihr Anführer: Comyn. Zu seinen Füßen lag ein schwarz-weißer Hütehund, dessen Schnauze hoch zu seinem Herrn zeigte.

»Was zum Teufel soll das hier?«, fragte Lawrence.

»Das ist ein friedlicher Protest«, antwortete Comyn milde. »Es ist der siebte Tag des siebten Monats im sechsten Jahr. Eine Erinnerung daran, dass im siebten Jahr die Nacht der Sommersterne stattfindet.«

»Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst. Genauso, wie ihr wisst, dass ich die Tore nur öffnen werde, sofern daraus keine Gefahr erwächst.«

»Dann sorg dafür, dass dem so ist.«

»Entfernt euch von meinem Grund, bevor ich meine Disir rufe.«

»Wir befinden uns nicht auf deinem Grund«, erwiderte Comyn. »Wir befinden uns auf einer öffentlichen Straße.«

»Ihr behindert mein Wegerecht. Löst eure Versammlung auf.« Lawrence zitterte vor Wut ob seiner Machtlosigkeit. Als er seinen Blick über die Menge schweifen ließ, sah er die rothaarige Peta Lyon und ihre Schwestern, die Tullivers mit ihren Seeschlangenmasken … aber von Auberon Fox war nichts zu sehen. Der wollte mit dieser würdelosen Veranstaltung sicher nicht in Verbindung gebracht werden.

Comyn hob seine Hände. »Lange bevor die Menschheit erschien, hatten die Elfenwesen die Herrschaft über sämtliche Reiche. Es gab keine Tore, keine Grenzen.«

Dieser Mistkerl hielt eine Rede. Lawrence biss die Zähne zusammen, er hatte keine andere Wahl, als abzuwarten, bis er fertig war. »Wir wünschen uns diese Zeiten zurück. Die Tore haben uns vom Fluss des Lebens und von der Kraft abgeschnitten! Unsere Jugend hat ihre Initiationen versäumt. Sie hat ihre Feste und ihre Verbindung zur Spirale verloren und auf ihr Recht verzichten müssen, von ihrer wahren Natur zu kosten. Dies ist eine Krise, die zur äußersten Katastrophe führen wird, sofern die Großen Tore nicht wieder geöffnet werden. Wir machen unser Recht geltend, uns ohne Behinderung frei durch alle Reiche bewegen zu können!«

Alle Vaethyr unterstrichen dies durch gemeinsames Ausatmen, ein Geräusch, das unheimlicher war als jeglicher Applaus. Eine kühle Frauenstimme ergänzte: »Es gibt Aelyr, welche die Vaethyr verachten und uns womöglich aus schierer Gehässigkeit von der Spirale fernzuhalten versuchen. Ist es das, was dich antreibt, Lawrence?« Das war Peta Lyon, die da sprach, eine schlanke Künstlerin mit kreidebleichem Gesicht, die blutrot gekleidet war, ein wenig dunkler als die Farbe ihres Haars.

Lawrence hatte es die Sprache verschlagen. »Habe ich euch nicht ein Dutzend Mal erklärt, dass ich euch vor der Gefahr beschütze?«

»Und wir sagen: zum Teufel mit der Gefahr!«, knurrte Comyn. »Wir werden uns bewaffnen und einmarschieren und uns ihr stellen. Welche Gefahr kann uns schon etwas anhaben?«

»Idioten«, sagte Lawrence, aber sein Wort ging in den Jubelrufen von Comyns Anhängern unter.

»Wir haben unseren Standpunkt deutlich gemacht«, sagte Comyn. »Nimm ’ne Valium, Wilder. Wir gehen.«

Er grinste, als er sich mit dem Hütehund an seiner Seite vorbeidrängte. Die Protestler strömten dem Dorf zu und verneigten sich im Vorbeigehen vor Lawrence – respektvoll und ohne ein Anzeichen von Gespött.

Sobald sie gegangen waren, raste Lawrence die lange Einfahrt hinauf. Er ließ den Wagen vor dem Haus stehen und rannte dann den Rest des Wegs durch Waldgebiet und Unterholz, bis er Freias Krone erreicht hatte. Keuchend umrundete er die Felsen, eine Hand schwebte dicht über der Oberfläche, als er auf der Rückseite der Mulde entlangkletterte, dann kam er herunter in die Senke. Das Gras unter seinen Schuhsohlen war nass wie ein Schwamm.

Es war jemand hier gewesen. Ein Zigarettenpapier, ein Kronkorken, ein kleiner Kranz aus Zweigen, die sich nicht von selbst ineinander verwoben hatten. Er steckte den Müll ein und löste die Zweige. Comyn war das nicht gewesen; die Disir pflegten keine Außenseiter durchzulassen. Also konnte es nur jemand aus seiner Familie gewesen sein, und da kamen nur Jon oder Lucas infrage. Das löste auf seinem sonst so trägen Gefühlsradar ein kurzes ärgerliches Blinken aus. Spielende Jungs. Sicher würde es keiner wagen, sich an den Toren zu schaffen zu machen.

Er erinnerte sich an das früheste Anzeichen jenes Wesens, das ihn immer verfolgt hatte: ein Gesicht oder ein Wolkenschatten, der immer am Rande seines Blickfelds verweilte. Anfangs nicht größer als eine Katze. Dann – nachdem Albin sein Herz und seine Seele in Geiselhaft genommen hatte – hatte es mit seiner monströsen Ausdehnung begonnen. Der Rückstoß der Waffe in seiner Hand … der entfesselte Schattenriese … und da wusste er schließlich, dass das, was er heraufbeschworen hatte, Brawth war, der Eisriese, der seine Art verschlingen würde.

Allein durch das Verriegeln der Großen Tore hatte er ihn aufhalten können. Dadurch blieben die Anderswelt sowie auch die Erde sicher, denn wie ein Damm stoppten sie die schwarze Flut auf ihrer Bahn. Aber selbst jene, die behaupteten, ihm zu glauben, begriffen es nicht, denn spüren konnte nur er allein es …

Lawrence schloss die Augen. Seine Brust zog sich zusammen, sein Atem ging schnell. Seine Hand näherte sich dem Stein, aber er brachte es nicht über sich, ihn zu berühren. Er wappnete sich für den Angriff, das Gesicht aus dem Abgrund, die heranstürmende Dunkelheit, die zuschlagenden und splitternden Tore und die ineinanderstürzenden Reiche …

Seine Handfläche berührte den Stein.

Kalt und grobkörnig spürte er die Oberfläche unter seinen Fingerspitzen. Er hielt den Atem an –

Nichts.

Keine Visionen, kein Schrecken. Keine silbrigen Runen, kein Rumpeln der Erde, während die Tore sich mühsam öffneten. Alles, was er unter seiner Hand spürte, war kalter, undurchdringlicher Stein.

Tot.

Die Großen Tore waren tot.

Selbst das Lych-Licht in ihm, die Flamme des Torhüters, verlangte nicht mehr nach dem Stein. Zu lange hatte er es unterdrückt. Es war zu Asche verbrannt. Sämtliche Tore zu den inneren Reichen standen wie toten Schalen eine in der anderen. Fossilien.

Lawrence wich zurück.

Unvermittelt erfasste ihn panische Angst. Was war geschehen? Waren es seine Fehler, sein Versagen, das die Tore ausgelöscht hatte? War es von Dauer? War das Lych-Licht konfisziert worden oder hatte seine Angst es zerstört?

Im nächsten Atemzug fühlte er unbändige Erleichterung. Sie war so stark, dass er fast gestürzt wäre. Wenn er die Tore einfach nicht mehr öffnen konnte, dann fiel alles von ihm ab, die Schuld, die Verantwortung, die Gefahr für seine Söhne –

Nein, das war eine Illusion. Schwarz schwappte die Panikwoge wieder über ihn und zog ihm die Beine weg, sodass er auf die Knie fiel. Als er aufblickte, sah er eine junge Elfenfrau vor ihm stehen. Schlank wie eine Weide mit langem welligem Haar, sie war ein Geist, ein Friedhofsengel, dessen bröckelnder Steinfinger direkt auf ihn zeigte. Ihre Augen waren leere Kugeln ohne Pupillen. Als sie sprach, schnitt ihr Flüstern ihm ins Hirn: »Wir haben dich gewarnt, es würde dir genommen werden.«

Er schrie auf. Als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden, ließ ihn allein mit seinem trostlosen Wissen zurück.

Der Verlust seiner Lych-Macht war der Verlust von allem. Solange er noch die Autorität besaß, die Tore geschlossen zu halten, hatte er die Kontrolle. Aber ohne die Macht, sie zu öffnen oder zu schließen, hatte er nichts mehr. Kein Mandat vom Spiral Court. Keinen Status. Nichts.

Nachdem seine Panik ihren Höhepunkt erreicht hatte, verebbte sie. Zitternd rappelte Lawrence sich auf und schloss einen Pakt mit sich: Keiner durfte erfahren, dass er seine Macht verloren hatte. Denn das wäre das Ende von allem. Er musste so weitermachen, als wäre alles beim Alten. Keiner brauchte es je zu erfahren.

Drei Jahre.

So lange saß Sam ein, bis seiner Entlassung auf Bewährung stattgegeben wurde. Selbst ohne die Zeitverbiegungen und Täuschungen von Dumannios waren es für ihn gefühlte volle fünf Jahre gewesen.

Er trat aus den Gefängnistoren und atmete die frische Septemberluft ein. Seltsam. Fast eine Enttäuschung. Immer hatte er sich auf seine Entlassung gefreut, jetzt empfand er nichts. Er hatte nur wenige Habseligkeiten, und das Einzige, was davon wirklich Bedeutung für ihn hatte, war das Foto, das Rosie ihm gebracht hatte. Er bewegte sich auf die Bushaltestelle zu.

Ein blauer VW-Golf parkte nur wenige Meter weit entfernt. Er dachte sich nichts weiter dabei, bis Rosie sich plötzlich herauslehnte und winkte.

»Was ist, willst du nicht einsteigen?«

Während der Fahrt war sich Rosie der Präsenz des neben ihr sitzenden Sam nur allzu bewusst. Gegen seine physische Anwesenheit, seine Kraft, den zarten Hauch würziger Wärme, die sein Körper verströmte, schien ihr logisches Denken machtlos zu sein. Doch sie nahm auch den Gefängnisgeruch wahr, der ihm anhaftete. Sie saß angespannt und höchst unbehaglich am Steuer und wusste nicht, was sie sagen sollte. Bisher hatte sie ihm den Vorfall verschwiegen, dessen Zeugin sie im April geworden war. Alles, was sie gesehen hatte, war ein Kuss zwischen Jon und Sapphire, und wer weiß, was sie für einen Sturm entfesselte, wenn sie es erwähnte? Gleichzeitig wurde sie von fürchterlichen Schuldgefühlen gequält, weil sie Sam diese Information vorenthalten hatte, und das erhöhte ihre Nervosität nur noch.

»Du hast doch nicht etwa Angst vor mir, oder?«, fragte er.

»Nein, natürlich nicht.«

»Und was sollen diese glänzenden weißen Fingerknöchel?«

Sie versuchte ihre Hände auf dem Lenkrad zu entspannen und ärgerte sich, dass ihm offenbar nichts verborgen blieb. »Es ist komisch, mehr nicht.«

»Ja, wenn ich einen verurteilten Mörder frisch aus dem Gefängnis neben mir sitzen hätte und auch noch mitten im Nirgendwo – da wäre ich auch nervös. Sorry. Ich wollte den Bus nehmen, denn ich hatte nicht mit dir gerechnet. Du brauchst dich nicht unbehaglich zu fühlen. Ich bin es doch nur, Rosie. Und alles, was ich jetzt will, ist, nach Hause zu kommen.«

»Ich weiß«, zischte sie. »Ich bin nicht nervös. Willst du bitte still sein?«

Sie hörte ihn ausatmen. Eine Weile starrte er durch die Windschutzscheibe. Angst hatte sie nicht, aber sie verspürte eine Unruhe – aus all den von ihm genannten Gründen – und dazu kamen noch andere Gefühle, die sie nicht zu entwirren vermochte. Es war ihr nicht einmal möglich, ihn ganz schlicht mit Neuigkeiten zu versorgen.

Er sagte: »Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, nach Stonegate zu gehen. Mein Vater wird mich gar nicht dort haben wollen. Meine Stiefmutter mit Sicherheit nicht. Also, wenn du mich vielleicht in der nächsten Stadt absetzen könntest …«

»Wohin willst du dann gehen?«

»Ich weiß nicht. Irgendwas wird sich schon finden.«

»Nun sei doch nicht albern. Ist es nicht Voraussetzung deiner Bewährung, dass die Behörden über deinen Aufenthaltsort auf dem Laufenden gehalten werden?«

»Da spricht wohl die Expertin?«, konterte er.

»Also, ich werde dich jedenfalls nicht in einer fremden Stadt aussetzen. Natürlich wird Lawrence dich sehen wollen.«

»Nur schade, dass du und ich nicht besser miteinander auskommen«, sagte er leise. »Dann hättest du mich auf deinem Sofa schlafen lassen können.«

Sie warf ihm einen finsteren Seitenblick zu.

»Ist ja gut, ich weiß, dass das nie der Fall sein wird«, seufzte er. »Ich muss den Tatsachen ins Auge sehen. Wenn es schlecht läuft, weiß ich ja, wo die Tür ist.«

»Es wird gut gehen, Sam. Und es gibt doch auch Leute, die dir helfen werden? Berater, Bewährungshelfer?«

»Vergiss das«, sagte er mit Nachdruck. Ein Seitenblick zeigte ihr die in seinen schmalen Augen funkelnde Wut. »Ich bin ein Elfenwesen. An diesem Ort sind mir Dinge widerfahren, die ihre Vorstellungskraft übersteigen. Was verdammt noch mal glauben sie für mich tun zu können? Ich brauche keine Wiedereingliederung! Ich pfeif auf ihre Hilfe!«

»Tut mir leid«, sagte Rosie. »Das hat sich wohl sehr bevormundend angehört. Das wollte ich nicht. Ich mache mir nur Sorgen um dich.«

»Wow«, sagte Sam ganz ruhig. »Tatsächlich?«

»Ja natürlich. Wieso glaubst du, dass ich dich immer wieder besucht habe? Ich fand es schrecklich, dich dort zurückzulassen. Jedes Mal, wenn ich wegging, wünschte ich mir, ich könnte dich mit nach Hause nehmen.« Ihr wurde heiß bei dieser vertraulichen Beichte. »Damit meine ich nicht – ich meine nur –«

»Ich weiß.« In seiner Stimme schwang ein betrübtes Lächeln mit. »Das ist süß von dir, Foxy, aber du musst dir um mich wirklich keine Sorgen machen. Das Letzte, was ich je von dir wollte, war Mitleid. Ich bin erwachsen. Aber, hey, ich werde unsere Rendezvous vermissen. Hast du einen letzten Geheimbericht für mich? Irgendwas, was ich wissen sollte, bevor ich nach Hause komme?«

Sie schluckte, hin- und hergerissen, was sie sagen und was sie nicht sagen sollte. »Dein Vater scheint sich um sein Geschäft Sorgen zu machen …«

»Lass es gut sein«, sagte er. »Ich weiß, wie ungerecht das dir gegenüber ist. Ich kann das jetzt auch selber herausfinden.«

»Schön«, sagte sie, froh, aus dem Schneider zu sein.

Die Landschaft, durch die sie fuhren, war düster und verzerrt. Noch nie zuvor war ihr aufgefallen, wie lange es dauerte, bis man Dumannios hinter sich gelassen hatte. Es war fast, als hätte Sam dieses zweite Reich wie einen Umhang mitgebracht. Schwefelgelbe Feuer wälzten sich von allen Seiten auf sie zu und sie sah brennende Fahrzeuge und Armeen affenartiger Dämonen.

»Fahr einfach weiter«, sagte Sam. »Das sind alles Täuschungen. Wir werden bald durch sein.«

»Fühlt sich aber an, als gerieten wir immer tiefer hinein«, sagte sie. In ihrem Rückspiegel sah sie rote Feuer glimmen. Auf der Straße vor ihnen kauerte ein Gargoyle, dessen spitz zulaufende Flügelenden sich hoch über seinem Kopf wölbten.

»Fahr weiter. Der ist nicht echt.«

»Du kommst für den Schaden auf, wenn er so massiv ist, wie er aussieht!«

Die Kreatur rührte sich nicht von der Stelle. Kurz vor dem Aufprall schloss Rosie die Augen. Der Wagen fuhr durch Luft.

Doch dann landete das Ding mit einem gewaltigen dumpfen Schlag auf ihrer Kühlerhaube und fläzte sich dort hin.

»Himmel!«, schrie sie und hätte fast die Kontrolle über den Wagen verloren.

Es war echt. Durch die Windschutzscheibe sah sie jedes Detail seines heimtückisch grinsenden Gesichts, jede Schuppe und Ranke. Von seinem Atem beschlug die Scheibe. Rosie bremste. Erschrocken verfolgte sie, wie es mit der Pranke kräftig gegen das Glas schlug. Seine Klauen kratzten und quietschten und versuchten nach ihr zu greifen. Sicherlich würde das Glas splittern. Der Wagen kam ruckartig zum Stehen und das Geschöpf blieb keuchend liegen.

Sam machte Anstalten, die Beifahrertür zu öffnen.

»Was machst du da?«, kreischte sie.

»Du hast ja recht«, sagte er, schlug sie zu und verriegelte sie. »Wenn ich aussteige und es umbringe, verwandelt es sich in einen Menschen, dann kommt die Polizei und man wird mich diesmal einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Fahr einfach weiter!«

Mit angehaltenem Atem legte Rosie den Gang ein und trat aufs Gaspedal. Der Wagen scherte beim Anfahren aus und Kies spritzte. Über dem Hauch seines Atems war eine klare Stelle, und darauf konzentrierte sie sich, sah die Biegung, die die Straße machte –

Sie riss das Steuer hart herum. Der Wagen schwenkte zur Seite. Dabei verlor das Ungeheuer seinen Halt und rutschte in einen Graben hinunter.

Rosie fuhr mit zusammengebissenen Zähnen in gleichmäßigem Tempo weiter. Ihr Herz raste, aber sie nahm alle Willenskraft zusammen, den Herzschlag zu beruhigen, sich zu beruhigen.

»Hervorragend«, rief Sam aus, indem er nach hinten schaute. »Das war sehr gekonnt von dir, Rosie.«

»Danke.«

»Alles okay mit dir?«

»Ja«, keuchte sie. »Dumannios, das Reich der Täuschungen? Das war aber eine sehr realistische Täuschung.«

»Ja, das muss man ihnen schon lassen«, sagte er. »Tolle Spezialeffekte.«

Zehn lange Minuten später kehrte die Welt zur Normalität zurück. Die Verwandlung ging so lässig vonstatten, als wäre nichts geschehen. Asphalt, Hecken, Gras, Verkehrsschilder. Eine vom spätsommerlichen Sonnenlicht verzauberte Landschaft. »Hab’s dir ja gesagt«, meinte Sam.

Ein paar Stunden später erreichten sie unbeschadet Cloudcroft. Er hatte nicht versucht, über sie herzufallen, sondern sich ganz ausgezeichnet benommen, sie hatte es überlebt. Als sie in die Auffahrt von Stonegate Manor einbog, sagte Sam: »Du kannst mich hier rauslassen, okay?«

Sie hielt an. »Bist du dir sicher?«

»Ja. Ich werde zu Fuß hochlaufen. Dann habe ich ein paar Minuten Zeit, um mich zu sammeln.«

»Okay«, sagte sie.

Er wandte sich ihr zu. »Danke für alles, Rosie«, sagte er zärtlich.

»Ist schon gut.« Wenn er ernsthaft wurde, machte er sie immer verlegen. Seine Angriffe und sein Sarkasmus waren viel einfacher zu parieren.

Zögerlich streckte er seinen Arm aus und ergriff die Hand, die auf ihrem Schenkel lag. Sein Zeigefinger bohrte sich in ihre Handfläche und jagte wie ein Fühler Wärme bis in ihr Innerstes. »Ich bin nicht gut darin, glaubhaft zu klingen, aber es ist mein Ernst. Dass ich dort überleben konnte, habe ich dir zu verdanken. Du hast mir das Leben gerettet. Und es hat mir alles bedeutet.«

Rosie konnte ihn nicht ansehen. Sie schaute auf seine Hand in ihrer. Drücken konnte sie sie nicht, aber sie entzog sie ihm auch nicht. »Danke.«

»Äh, Rosie, wenn ich mein Leben wieder einigermaßen in Ordnung gebracht habe, glaubst du, wir können uns dann vielleicht mal wiedersehen?«

Ihr Atem bahnte sich seinen Weg, irgendwo zwischen Schlucken und Schluchzen. »Nein, nein, das wird nicht möglich sein.«

Seine Berührung wurde kraftlos. Gesicht und Körper fielen vor Enttäuschung in sich zusammen. »Ich dachte, wir hätten uns ganz gut verstanden. Natürlich wusste ich in meinem Herzen, dass du nur nett zu mir warst, aber ich habe gehofft – aber nein, du würdest etwas derart Verdorbenes wie mich nicht mit einer fünf Meter langen Stange anfassen, wieso auch?«

»Das ist es nicht«, beeilte sie sich zu versichern. »Ich werde heiraten.«

»Du wirst was?« Er ließ ihre Hand los und starrte sie an. »Und wen?«

»Alastair natürlich. Der Mann, mit dem ich seit drei Jahren zusammen bin, wie du sehr gut weißt.«

»Was? Du kannst doch nicht einen fetten rothaarigen Langweiler heiraten!«

»Er ist nicht fett und rothaarig ist er auch nicht!«, protestierte Rosie.

»Aber ein Elfenwesen ist er auch nicht.«

»Ich weiß«, sagte sie und nickte dabei heftig. »Genau das ist der Plan. Ich habe genug von Elfenmännern.«

Sam fing ihren Blick ein und sie konnte sich nicht abwenden. Seine Augen, die voller Schmerz waren, hielten sie fest und suchten sie. »Nach Jon und mir?«, sagte er.

Sie gab sich im Geist einen Tritt in den Hintern dafür, es ausgesprochen zu haben. »Es hat nichts mit ihm oder mit dir zu tun.«

»O mein Gott, Rosie, bitte tu es nicht.« Der Glanz seiner Augen wurde stärker. Blinzelnd wandte er sich ab.

»Es ist alles schon arrangiert«, sagte sie. »Nächste Woche ist es so weit. Es tut mir leid, Sam. Ich wusste nicht, wie ich dir das sagen sollte. Aber das Leben ging weiter, während du weg warst.«

»Ich wusste, dass du mir irgendwas verschwiegst«, sagte er mit belegter Stimme. Er öffnete die Tür, zögerte aber. »Liebst du ihn?«

»Er ist der Richtige für mich.«

»Das habe ich dich nicht gefragt.«

»Ich glaubte Jon zu lieben. Das war ein Irrtum. Ich weiß nicht, was Liebe ist. Wenn ich herausgefunden habe, was diese Frage bedeutet, werde ich dir auch eine Antwort geben können.«

Er schüttelte den Kopf und meinte verbittert: »Aber wozu zum Teufel machst du das dann?«

»Weil ich ein normales, glückliches Leben führen möchte«, sagte sie und starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe.

»Und ich möchte Papst werden. Verdammt, Rosie, bitte

Sie konnte nicht sprechen. Nach einer kurzen schrecklichen Pause sagte er: »Ich dachte, in dir steckt mehr als das, Süße. Aber jetzt sehe ich dich an und sehe jemanden, der innerlich tot ist. Matthew hat dich dazu verleitet, nicht wahr?«

»Nein. Ich weiß nicht, wie ich mein Leben führen soll, ohne –«

»Mein Vater ist ein Mistkerl, das steht fest, aber er ist nicht annähernd so zersetzend wie dein Bruder mit seinem verlogenen Sir-Galahad-Getue.«

Rosie biss sich auf die Lippen, bis sie Metallgeschmack im Mund hatte. »Billige Beschimpfungen helfen auch nicht weiter, Sam. Ich dachte, du würdest es gelassener aufnehmen.«

»Da gibt es nichts aufzunehmen, denn um mich geht es nicht. Ich weiß, dass du mich nicht ausstehen kannst, geschweige denn lieben. Damit muss ich jeden Scheißtag leben. Es geht darum, dir zusehen zu müssen, wie du einen fürchterlichen Fehler machst.«

Sam schwang sich aus dem Wagen und zog seine Tasche vom Rücksitz. Er sah sie an, schien offenbar noch was sagen zu wollen, ließ es aber sein und wandte sich fast angewidert von ihr ab. Mit Blut im Mund sah sie ihm nach, als er wegging.

Auf der Windschutzscheibe waren rote Schleimspuren von der Dumannios-Kreatur. Sie schaltete die Scheibenwischer ein, um sie wegzuwischen. Die seifige Flüssigkeit verwandelte Sams sich entfernende Gestalt in einen schlanken, schwankenden Schatten.