Rosie wurde wach vom stetigen Pulsieren eines Blaulichts an ihrer Zimmerdecke.
Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Es war dunkel und sie lag auf dem Sofa. Dann fiel es ihr wieder ein: Sie war nach Hause gekommen, um auf Alastair zu warten, hatte gewartet und gewartet – bis sie erschöpft darüber eingeschlafen war. Und noch immer war keiner heimgekommen.
Das Schrillen der Türklingel ließ sie abrupt aufspringen.
Vom Flur aus sah sie draußen Gestalten als Schattenrisse im hellen Scheinwerferschein eines Polizeiautos. Alles war so unwirklich. Als sie die Tür öffnete, drehte sich alles um sie herum. Im selben Moment läutete das Telefon. Auf der Schwelle standen zwei Polizistinnen mit der Trauermiene von Bestattern.
»Mrs Duncan? Es tut uns sehr leid, aber es hat einen Unfall gegeben …«
Die folgende Stunde verging wie im Nebel. Auf dem Rücksitz des Polizeiwagens wurde sie nach Leicester gebracht, wo vor ihr die angestrahlten Gebäude der Royal Infirmary Gestalt annahmen. Helle Lichter, Betriebsamkeit, der Glanz von Metall und Glas.
Dann das schummerige beruhigende Grün im Warteraum. Matthew, der mit in die Hände gelegtem Kopf dasaß. Auberon, der hemdsärmelig auf und ab ging, Jessica, die auf Rosie zugeeilt kam, das Gesicht von Schmerz verzerrt und von Tränen überzogen … Die mütterliche Umarmung, eingehüllt in ihr dichtes goldblondes Haar. Schulter an Schulter weinend, umschlossen von Auberons Armen.
So hatte sie ihre Eltern noch nie erlebt, aschfahl vor Kummer. Und sie wollte sie auch nie wieder so sehen müssen. »Es tut uns so leid, Rosie«, wiederholten sie ständig.
Sie hatte noch immer Mühe, zu akzeptieren, was die Polizei ihr gesagt hatte: Dass Alastair tot war, auf der Stelle tot. Jon war mit Verletzungen davongekommen. Lucas … Man rechnete nicht damit, dass Lucas überlebte.
Er war durch die Windschutzscheibe geschleudert worden, direkt in den Baum, ihren Baum, die Alte Eiche. Er lag auf der Intensivstation, sein Zustand war kritisch. Es war alles zu viel für sie. Zu wissen, dass Luc mit dem Tode rang, war so qualvoll, als hätte man sie niedergestochen.
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Matthew, das Gesicht rot vom Schock. »Er war ein vorsichtiger Fahrer. Er fuhr eigentlich immer im Schneckentempo.«
»Es wird wohl vereist gewesen sein«, meinte Jessica. »War es eisig? Wohin fuhren sie überhaupt?«
»Ich weiß es nicht«, war alles, was Rosie herausbrachte. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum sie bei ihm im Auto saßen. Da stimmt doch was nicht.«
Tassenweise Tee. Ärzte, die kamen und gingen. Weitere Polizeibeamte, die aus Rosies wirren Worten sanft versuchten, eine Aussage zusammenzufügen. Nachdem sie gegangen waren, sah Matthew sie an, sein Blick war grimmig und impulsiv. »Solltest du es nicht Mum und Dad erzählen?«
»Uns was erzählen?«, fragte Jessica. Sie saß neben Rosie und hielt deren Hand fest.
Rosie schaute auf die abgetretenen Teppichfliesen unter ihren Füßen. »Ich habe gestern mit Alastair Schluss gemacht … weil ich was mit Sam angefangen habe.«
»Oh«, war alles, was Jessica sagte. Auberon nahm es kommentarlos hin.
»Und du wolltest alles wieder in Ordnung bringen«, sagte Matthew und zeigte anklagend mit dem Finger auf sie. »Warum hast du es nicht getan?«
»Gibst du etwa mir die Schuld daran?«, stöhnte Rosie.
»Nein, ich will damit nur andeuten, dass Alastair unvorsichtig gefahren ist, weil er ein wenig aufgewühlt war.«
»Ich bat ihn, nach Hause zu kommen! Sag du mir, warum er es nicht getan hat.«
»Keiner hat Schuld«, sagte Auberon mit Nachdruck. »Es war ein Unfall. Lasst uns doch erst mal die Fakten abwarten.«
Sie warteten – die Zeit verging schleppend. Rosie musste an Faith denken, die mit Heather allein in Oakholme war. Am früheren Abend hatte sie Sam angerufen und für den nächsten Tag, den Sonntag, mit schlechtem Gewissen ein Treffen im Green Man vereinbart. Das konnte jetzt nicht mehr stattfinden. Trost suchend drückte sie ihr Kristallherz, das sie am Morgen umgelegt hatte, mit ihren Fingerspitzen.
Phyllida traf ein und lief auf Jessica zu, um sie in die Arme zu schließen. Ihre Anwesenheit entspannte die Atmosphäre, da sie sich nicht davor scheute, vom Krankenhauspersonal Antworten einzufordern. Endlich kam eine Schwester und sagte, sie könnten jetzt zu Lucas. Sie war sehr ernst und darauf bedacht, keine falschen Hoffnungen zu erwecken.
Auf der Station war viel Betrieb, eine zischende Glastür führte in einen weißen Raum, in dem ein Bett stand. Darin lag Lucas mit geschlossenen Augen, sein Leben hing an Schläuchen und Tropfinfusionen. Rosie und Jessica hielten sich, dicht beieinander, die Hände so fest verschränkt, dass es wehtat.
Lucas hatte einen Kopfverband, geschwollene Schnitte und Blutergüsse um die Augen, ansonsten war seine Haut so weiß wie das Bett, auf dem er lag. Er wirkte, als sei er geschrumpft, sah ausgezehrt aus unter den Laken, der Mund hing schlaff um einen Plastikschlauch und seine Rippen hoben im Takt mit dem schnaubenden Beatmungsgerät, das seinen Lungen die Arbeit abnahm. Maschinen piepten und klickten.
Ein grauhaariger Oberarzt kam und sprach von der Kopfverletzung. Koma. Stammhirntod. Er erklärte ihnen, dass Lucas nur durch die Maschinen am Leben gehalten wurde. Je länger es dauerte, bis er Anzeichen einer Genesung zeige, umso geringer war die Chance. Sie müssten sich damit befassen, eine Entscheidung über das Abschalten der lebenserhaltenden Maßnahmen zu treffen.
»Lucas?«, flüsterte Rosie und schob ihre Finger in seine Handfläche und drückte diese. Keine Reaktion. Er war nicht da.
Als der Arzt gegangen war, kümmerte Phyllida sich um Stühle. Auberon setzte sich neben Lucas, den Kopf auf eine Hand gestützt; Jessica neben ihm starrte unverwandt auf das Gesicht ihres Sohnes. Mit seinen zurückgekämmten Haaren sah er aus wie Lawrence, ohne dessen harte adlerhafte Züge, sondern wie eine junge, süße knabenhafte Version von ihm. Matthew blieb unruhig stehen.
»Das kann doch nicht sein«, flüsterte Rosie ihrer Tante zu. »Ich dachte, Elfenwesen seien widerstandsfähiger als Menschen.«
»Sind wir auch«, erwiderte Phyll. »Wäre er kein Elfenwesen, wäre er sicherlich sofort gestorben. Aber unsere Körper sind dennoch nur aus Fleisch und Blut. Im menschlichen Sinne können wir verletzt oder getötet werden. Das weißt du doch.«
»Das bringt nichts«, sagte Matthew. »Ich kann hier nicht bleiben.«
Als er sich zum Gehen wandte, glitten die Glastüren auf und Lawrence und Sapphire, beeindruckende Gestalten in ihren dunklen Mänteln, traten ein. Sapphire schob Jon in einem Rollstuhl vor sich her. Es war ein gespenstischer Schock, zu sehen, dass sie auf diese Weise wieder Besitz von ihm ergriffen hatte. Rosie hielt ängstlich Ausschau nach Sam, aber er war nicht da.
Die beiden Familien starrten einander an.
»Dürfen wir ihn sehen?«, fragte Lawrence. Er sah genauso verhärmt aus wie Auberon.
Eine Pause, dann antwortete Auberon: »Ja natürlich.«
»Wo ist Sam?«, fragte Matthew spitzzüngig.
»Er versucht einen Parkplatz zu finden«, sagte Sapphire. »Der Verkehr ist ein Albtraum, selbst zu dieser späten Stunde. Das ist ein derart entsetzlicher Schock …«
»Wir sind zu viele hier«, sagte Phyllida. »Komm, lass uns einen Kaffee trinken. Jess?«
»Ich kann nicht«, sagte Rosies Mutter matt, ließ sich dann aber von Phyll, Matthew und Auberon wegführen. Sapphire ging mit ihnen. Rosie zögerte und war plötzlich allein mit Jon und seinem Vater.
Jon und Lawrence im selben Raum. War das nötig gewesen, um sie zusammenzubringen?
Lawrence sprach kein Wort. Er ging zur anderen Bettseite und starrte Lucas an. Was sich hinter seinem steinernen Gesicht abspielen mochte, blieb Rosie verborgen – aber fühlen musste er etwas, mit Sicherheit, oder wäre er sonst hier?
»Kannst du mich bitte ein wenig näher ranschieben?«, bat Jon sie.
Rosie bewegte folgsam den Rollstuhl. Sein Morgenmantel war von derselben Farbe wie sein zerzaustes Haar und mit seinen geröteten Augen machte er einen benommenen Eindruck. Er trug einen Arm in der Schlinge, hatte einen beeindruckenden Bluterguss auf der Stirn und sein linker Knöchel war geschient. Rosie, die alle kleinlichen Ressentiments abgelegt hatte, hätte weinen können vor Erleichterung, ihn am Leben zu sehen. »Wie geht es dir?«
»Was meinst du wohl?« Seine Stimme war belegt. »Absolut beschissen. Sie geben einem zwar Morphium, aber nie genug. Und dir?«
Rosie konnte nicht antworten.
Jon starrte auf Lucs geschwollenes Gesicht, die geschlossenen Augen – seine Abwesenheit. Es verlieh ihm etwas Gespenstisches. Eine Weile schwiegen alle. Dann beugte Jon sich vor und berührte das Handgelenk seines Halbbruders. »Luc?« sagte er mit so rauer Stimme, dass sie kaum hörbar war. »Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Mir geht es gut, nur Schnitte und Blutergüsse. Ich bin noch immer da, aber wo bist du? Du wirst doch nicht ohne mich in die Anderswelt gehen, oder? Wir haben doch immer gesagt, wir machen das zusammen.«
Jons Stimme brach und er bekam einen Weinkrampf. Lawrence schielte mit zuckenden Brauen auf ihn, sagte aber nichts. Rosie kämpfte gegen ihre Tränen an und fragte sich: Kann er nicht mal seinen eigenen Sohn trösten? Vorsichtig legte sie ihre Hand auf Jons Schulter.
»Kannst du dich denn daran erinnern, was passiert ist?«, fragte sie ihn.
»Ich erinnere mich, dass mich ein Sanitäter herausgezogen hat. Überall waren Zweige.« Er drehte sich um und sah sie an. Seine geröteten Augen funkelten. »Das hat Alastair getan«, sagte er. »Dein wunderbarer Ehemann.«
Sie hielt erschüttert die Luft an. »Du weißt, dass er tot ist, nicht wahr?«
»Ja. Es tut mir leid für dich, aber entschuldige bitte, wenn meine Trauer sich in Grenzen hält.«
»Er hat mir etwas bedeutet«, erwiderte sie bitter. »Es war nicht sein Fehler, dass ich ihn nicht so lieben konnte, wie ich das sollte. Das war doch ein Unfall, oder?«
Sie schrak vom Zischen der Tür zusammen. Eine forsche, lächelnde Krankenschwester trat ein und bat sie freundlich, doch so lange hinauszugehen, während weitere Tests vorgenommen wurden. Tests. Was würden sie herausfinden – dass die fremde Physis der menschlichen überlegen war? Erstaunliche Heilkräfte? Oder waren Elfenkörper so perfekt getarnt, dass sie sich nicht unterschieden, derselbe anfällige Zellstoff? Im menschlichen Sinne getötet, was bedeutete das?
Als sie den Raum verließen – Lawrence schob Jons Rollstuhl –, schaute Rosie so lange zu Lucas zurück, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Noch an diesem Morgen hatte er gähnend bei ihr am Frühstückstisch gesessen und versucht die Silberkette zu reparieren, die sie trug, während sie darüber lamentierte, dass seine langen Haare im Bad herumlagen. Das war surreal. Das konnte unmöglich wahr sein.
Als sie wieder im Warteraum für die Verwandten waren, wo die anderen Kaffee tranken, versuchte Phyll Jessica sanft zu überreden, nach Hause zu gehen. Noch immer kein Sam. Als sie Rosie sah, sprang ihre Mutter fast vom Stuhl, Hoffnung und Angst im Gesicht. »Was ist los?«
»Nichts, Mum«, seufzte Rosie und suchte sich einen Platz. »Sein Zustand ist unverändert.«
Sapphire sagte: »Phyllida hat recht, es ist spät. Ich bringe Jon zurück auf die Station. Er sollte das Bett eigentlich nicht verlassen nach allem, was er durchgemacht hat.«
»Einen Moment«, sagte Jon grimmig. »Das müsst ihr erfahren, bevor ich umkippe. Ich erzähle euch, was passiert ist.«
Die Aufmerksamkeit aller war auf ihn gerichtet und es herrschte eine beklommene Stille. Selbst Lawrence, der ansonsten gewohnt war, das Kommando zu übernehmen, hörte zu. Mit leiser, rauer Stimme beschrieb Jon die Ereignisse der Nacht. Rosie hatte ihren Kopf in die Hände gelegt und jedes seiner Worte war eine einzige Folter.
»Es war kein Zufall, dass Alastair uns aufgelesen hat«, sagte Jon. »Offenbar ist er durch die Gegend gefahren und hat nach uns Ausschau gehalten. Es ging nur darum, Rosie zu bestrafen.«
Rosie wurde von einem Heulkrampf geschüttelt. Sie versuchte ihn zu ersticken. Auberon setzte sich neben sie und bald schon spürte sie, wie seine kräftigen Arme sich um sie legten.
»Willst du damit sagen, er sei absichtlich in die Alte Eiche gefahren?«, schrie Matthew.
»Das kann ich nicht sagen, aber er war völlig neben sich. Sah außerdem ganz danach aus, als hätte er ziemlich viel getrunken. Er wollte sich irgendwo abreagieren und wählte uns dafür aus. Ich glaube nicht, dass er einen Plan hatte, außer herumzufahren und uns mit seinem wirren Zeug zuzulabern.« Jon senkte errötend seinen Kopf. »Vielleicht lag es an einer Bemerkung, die einer von uns gemacht hat, ich weiß es nicht, jedenfalls drehte er plötzlich durch und fuhr auf den Baum zu. Wie man sonst auf eine Wand einschlägt oder in einem Wutanfall eine kostbare Vase zerschmeißt und das gleich darauf zutiefst bereut. Vielleicht wollte er uns damit auch nur Angst einjagen. Es ging alles so schnell. Er versuchte noch, den Wagen wieder unter seine Kontrolle zu bringen, aber es war zu spät. Wer konnte schon ahnen, dass er derart durchdrehen würde?«
Matthew sprang wutschnaubend auf. »Du lügst! Wie kannst du nur behaupten, es sei kein Unfall gewesen? Alastair war mein bester Freund! Niemals würde er uns das antun!«
»Was hast du zu ihm gesagt?«, fragte Rosie ihn flüsternd.
Jon sah sie direkt an und sagte: »Ich habe keine Ahnung.«
»Du solltest mit ihm reden, Ro!«, wütete Matthew mit knallrotem Gesicht. »Er war bereit, dir zu verzeihen, aber du musstest ihm ganz brutal sagen, dass es vorbei war. Warum?«
»Weil es die Wahrheit war!«, schrie sie. »Du hast mir nicht gesagt, dass ich lügen soll, um zu verhindern, dass er versucht alle umzubringen!«
»Schsch, Rosie«, sagte ihr Vater und verstärkte den Druck seines Arms.
»Sag schon, Matt«, ergänzte sie bebend, »wusstest du, dass er zu etwas Derartigem imstande war? Wusstest du es?«
»Nein, natürlich nicht! Er war verärgert!«
»Verärgert?«, warf Jon ein. »Also auf mich machte er einen völlig durchgeknallten Eindruck.«
Entsetzliches Schweigen folgte. Und mit sicherem Timing tauchte in diesem Moment Sam in der Tür auf. Sein Blick fiel auf Rosie, sie spürte ihn körperlich wie einen Sonnenstrahl, als sie versuchten sich anzusehen und zugleich so zu tun, als täten sie es nicht.
»Da seid ihr«, sagte er leise. »Ich habe das ganze verdammte Krankenhaus nach euch abgesucht. Ihr habt ja keine Ahnung, wie groß das ist. Ich musste endlos weit weg parken und –«
»Du Mistkerl«, knurrte Matthew und stürzte sich durch den Raum auf Sam. Er schlug ihn, packte ihn und drückte ihn gewaltsam gegen die Wand, schlug erneut auf ihn ein.
Sam ging zu Boden. Er unternahm keinen Versuch zu seiner Verteidigung. Matthew griff nach ihm, um ihn wieder auf die Beine zu ziehen, doch Auberon, Lawrence und Sapphire zerrten ihn weg. Rosie warf sich zwischen ihn und Sam und schob ihren Bruder mit Jessicas Hilfe weg. Phyll ging hinaus auf den Flur und rief die Sicherheitsbeamten.
»Du Mistkerl«, zischte Matthew erneut und versuchte sich zu befreien. Ihre vereinten Kräfte vermochten ihn kaum zu halten. »Du bist das reine Gift. Mein bester Freund ist tot und mein Bruder liegt im Sterben und alles nur deinetwegen.«
Sam erhob sich, aus Nase und Mund tropfte Blut. Er hielt abwehrend die Hände hoch. »Was passiert ist, tut mir aufrichtig leid. Aber ich werde nicht mit dir in den Ring gehen, Kumpel.«
Sapphire meldete sich zu Wort. »Bin ich die Einzige hier, die keine Ahnung hat, worum es geht?« Keiner antwortete.
»Dafür wirst du bezahlen«, sagte Matt, der nicht klein beigeben wollte. »Komm mit. Nach draußen.«
»Nein«, sagte Sam widerwillig. »Wenn wir nach draußen gehen, bringe ich dich womöglich um, und ich bin das Gefängnis ziemlich leid. Das wird nicht passieren.«
»Dann lass es uns hier drin austragen.« Mit einem Satz riss er sich los. Sam sprang in Deckung. Im selben Moment kamen vier Sicherheitsleute herein und packten Matthew. Wie ein gefangener Bär stand er keuchend zwischen ihnen.
»Darf ich dich daran erinnern, dass Lucas zufällig auch mein Bruder ist?«, sagte Sam aus sicherer Distanz.
Eine wütende Krankenschwester tauchte auf und wollte wissen, worum es ging. »Um nichts«, sagte Lawrence. Er deutete auf Matthew. »Nur er macht Ärger.«
»Sie müssen das Gebäude verlassen, Sir«, sagte einer der Wachleute. »Sie können freiwillig mit uns kommen, sonst rufen wir die Polizei. Es liegt bei Ihnen.«
»Schön«, grunzte Matthew und schaute Sam dabei finster an. »Sie können mich loslassen. Ich gehe. Aber vorbei ist das noch nicht.«
Rosie stahl sich aus dem Raum und ging ein Stück den Flur entlang, um zu verfolgen, wie ihr Bruder hinauseskortiert wurde. Sam kam ihr nach und stellte sich neben sie ohne den Versuch, sie zu berühren. »Das war nicht anders zu erwarten«, sagte er schniefend.
»Das muss wehtun.« Rosie reichte ihm ein sauberes Taschentuch und er tupfte sich das Blut ab. »Gut gemacht, Vergeltung bringt gar nichts.«
»Und nach allem, was passiert ist, braucht einen Faustkampf nun wirklich keiner«, sagte er gelassen. »Und schon ist mein Ruf als Dorfirrer beim Teufel.«
Auf diese Bemerkung reagierte sie mit einem schwachen blassen Lächeln. »Ich sollte wütend sein auf Matt. Aber … er hat seinen engsten Freund verloren.«
»Hast du eine Ahnung davon, wie es passiert ist?«
Sie erschauderte von Kopf bis Fuß. »Du hast Jons Rede verpasst. Allem Anschein nach ist das alles unsere Schuld. Alastair hat wohl zu viel getrunken und sich Jon und Luc geschnappt, um mir wehzutun und dann in einem reinen Wutanfall das Auto zu Schrott gefahren.«
Sam stöhnte leise. »Das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Ist es aber«, sagte Jon hinter ihnen.
Sapphire schob ihn. Vor Sam und Rosie blieb sie stehen und sah die beiden forschend an. Rosie hätte sie am liebsten erwürgt, als sie ihre weltkluge Mitleidsmiene sah. »Wie üblich bin ich wieder mal die Letzte, die es erfährt, aber endlich hat sich alles geklärt. Also wirklich, Sam, hättest du nicht jemanden finden können, der nicht verheiratet ist?«
Er zog seine Brauen hoch. »Offensichtlich nicht.«
Er ließ keinen Zweifel daran, dass er auf Sapphires Bemerkung nicht anbeißen wollte, aber Rosie sagte eisig: »So was passiert eben, wenn Affären ans Tageslicht kommen.«
Und sah bei diesen Worten Sapphire direkt an. Und das gab ihr die Befriedigung, Sapphire einen Moment erstarren und sich ihrer Sache nicht mehr sicher zu sehen. Sie tat ihr sogar den Gefallen, zu erbleichen. »Ich bringe Jon jetzt zurück auf seine Station.«
»Lass mich das machen«, sagte Sam und drängte sie beiseite. »Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, ihn zu sehen.«
»Danke, Bruder«, sagte Jon müde und hob seine Hand, um Rosie zuzuwinken. »Gute Nacht. Wir sehen uns morgen.«
Während sie davonfuhren, ergriff Sapphire Rosies Arm mit warmer, fester Hand und grub ihr leicht die Nägel in die Haut. »Es tut mir aufrichtig leid, Rosie. Das ist für alle eine schlimme Zeit. Lawrence ist völlig verzweifelt.«
»Lucas ist noch nicht tot«, erwiderte sie matt.
»Doch ihr müsst darauf vorbereitet sein, dass Leute, die ein solches Koma überleben, womöglich nie wieder dieselben sind.« Sapphire rückte noch näher und ihre Stimme überschlug sich vor zärtlicher Besorgnis. »Sie scheinen am Leben und bei Bewusstsein zu sein, aber eigentlich sind sie nur noch eine Hülle. Die Person darin ist nicht mehr vorhanden.«
Rosie biss sich auf die Zunge, bis sie den Eisengeschmack von Blut kostete. »Man nennt es Wachkoma«, sagte sie. »Das haben uns die Ärzte gesagt.«
»Die schreckliche Folge einer – was war es? Eine impulsive kleine Affäre? Seien Sie nicht zu hart zu sich selbst. Welche Frau kann schon ahnen, dass ihr Mann tatsächlich ihretwegen Selbstmord begeht? Ich möchte Sie wissen lassen, dass Sie mit unserer vollen Unterstützung rechnen können. Und wenn es in die Zeitungen kommt – werden Sie die brauchen.«
»Ich muss gehen«, sagte Rosie, weil sie spürte, dass sie sich gleich vergessen würde. »Danke, aber ich möchte mich darüber jetzt nicht unterhalten.«
»Ich wollte nur versuchen, Sie zu schützen«, sagte Sapphire.
»Und wie?«
»Indem ich Ihre Nachrichten an Sam zurückhielt. Ich wusste, dass er etwas im Schilde führte. Er ist instabil und nicht vertrauenswürdig und er wird Ihnen Schaden zufügen. Das müssen Sie sich um Ihrer selbst willen klarmachen. Er wird Ihnen das Herz brechen.« Da Rosie ohnehin am Boden war, gaben Sapphires Worte ihr noch einen Tritt dazu. Und sie verfluchte ihre eigenen Augen dafür, dass sie vor ihrer Peinigerin Tränen vergossen.
»Da müsste er schon ein Genie an Boshaftigkeit sein, um das hier zu übertreffen«, sagte sie mit einem heimtückischen Grinsen, das Sapphire endlich zum Schweigen brachte. »Sagen Sie mir, was Sam oder sonst irgendwer tun könnte, um mir mehr Schmerz zuzufügen als den, den ich gerade durchmache?«
Rosie stand in der Leichenhalle und betrachtete Alastairs Körper, der auf der flachen Stahlschublade lag. Sein Gesicht bestand nur noch aus Schnitten, Schorf und geschwollenem Fleisch, aber die aufgerissenen Ränder waren wie eingetrocknete Zitronenschalen zusammengeschrumpft. Seine Haut war ein abstraktes Kunstwerk aus Blauund Violetttönen und wächsernem Gelb. Ein widerlicher Gestank von Chemikalien hing in der Luft. Man hatte sie gewarnt, dass die Verletzungen sehr schlimm waren und sie seinen Anblick als verstörend empfinden könnte oder ihn vielleicht gar nicht wiedererkennen würde. Doch das tat sie.
»Hast du mich wirklich so sehr geliebt, dass du lieber sterben als mich verlieren wolltest?«, murmelte sie. »Denn das glaube ich dir nicht. Aber was war es dann? Verletzter Stolz? War es das wert?«
Erinnerungsfetzen an die vergangene Nacht verfolgten sie: die stoischen Gesichter ihrer Eltern, als ihre Tante vergeblich versuchte, sie zum Heimgehen zu überreden; Rosie, die mit ihrem Kopf auf Auberons Knie versuchte, quer auf den Stühlen ein wenig zu schlafen. Lawrence, der irgendwann aufbrach – nicht dass sie ihn hätte gehen sehen, aber sie spürte seine Abwesenheit, als wäre der Schatten eines aufrecht stehenden Steins verschwunden.
Das trostlose Erwachen um sechs Uhr morgens von einer Tasse Kaffee aus dem Automaten, dann die Entdeckung, dass Sam ihn geholt hatte. Er hatte Lawrence und Sapphire nach Hause gebracht und war dann sofort zurückgekommen.
Endlich die Erlaubnis, Lucas zu sehen.
Keine Veränderung.
Das war der schlimmste Moment überhaupt. Die ganze während der Nacht aufgebaute Hoffnung, nur um wieder zunichtegemacht zu werden. Die fürchterliche Blässe auf dem Gesicht ihrer Mutter … Lucas war stabil. Das war das Beste, was die Ärzte ihnen sagen konnten. Doch ohne lebenserhaltende Maßnahmen war er noch immer faktisch tot.
»Wie kannst du das, was ich getan habe, damit vergleichen?«, fragte Rosie Alastairs teilnahmslose Totenmaske. »Kaputte Ehen überlebt man. Davon geht die Welt nicht unter. Warum hast du einen Weltuntergang daraus machen müssen?«
»Rosie«, sagte Sam, der plötzlich hinter ihr stand. »Du solltest nicht allein hier sein.«
Sie drehte sich um. Er schloss sie in seine Arme. Seine Brust fing das ganze Gewicht ihres Kummers und ihrer Wut auf.
»Ich war nicht allein«, sagte sie schließlich und deutete auf den freundlichen Angestellten, der ein paar Schritte weit entfernt stand und diskret vorgab, nichts mitzubekommen.
»Eigentlich hatten wir uns heute im Pub treffen wollen«, sagte Sam voller Bedauern. »Aber der Green Man ist das hier nicht.«
Sie seufzte. »Ich kann nicht begreifen, warum er es getan hat. Das Leben geht doch weiter, warum wollte er das nicht sehen?«
»Ich weiß es nicht, mein Schatz. Es gibt Leute, die werfen ihr Spielzeug aus dem Laufstall und denken bloß »Hoppla«, wenn dann alles irreparabel kaputt ist. Komm mit.«
Sie zögerte. »Ich kann es nicht glauben, dass er nie mehr hereinkommt und seine Rugbyausrüstung auf den Boden fallen lässt, wie er das immer tat. Mit zerzausten Haaren ins Büro gestürmt kommt und fragt: ›Lust auf ein Curry?‹ Mit Matthew Witze macht. Ganz normale Sachen. Ich wollte ihm nie etwas Böses.«
»Das wissen wir doch alle.«
»Aber sie werden uns immer ansehen und uns dafür verantwortlich machen, auch wenn sie es gar nicht wollen. Warum hat er versucht Lucas zu töten und nicht mich?«
»Oder mich?«, sagte er.
Sie schaute auf ihre Stiefelspitzen. Aufrecht stehen fiel ihr schwer, so sehr drückte sie die Last ihres Elends. »Ich schäme mich so.«
»Sag das nicht, Rosie«, murmelte Sam.
»Was sollen wir tun?«
»Praktische Dinge. Frühstücken. Du wirst deiner Mutter keine Stütze sein, wenn du umkippst. Schichten organisieren, damit jeder mal zum Schlafen kommt und immer jemand bei Luc ist. Das ist alles, was wir tun können, nicht wahr? Komm.«
»Danke«, sagte Rosie zu dem Angestellten.
Er nickte und schlug das weiße Laken wieder zurück, um den Kopf der Leiche zuzudecken. Rosie ließ sich von Sam führen, er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Doch selbst durch zwei Türen hindurch hörte sie das geölte Zischen, als die Schublade wieder zuglitt.
Später traf Rosie ihre Mutter allein an Lucas’ Bett an. Sie hielt seine leblose Hand umklammert und betrachtete forschend das leere, verschlossene Gesicht. Rosie zog einen Stuhl heran und begann sanft das Haar ihrer Mutter zu kämmen. Über Nacht war die naturblonde Mähne zu einem zerzausten Gewirr geworden. Jessica sagte nichts. Man hörte nur das monotone dumpfe Geräusch der Herz-Lungen-Maschine.
»Ich bin dir eine Menge Erklärungen schuldig, Mum«, begann Rosie. »Jetzt ist natürlich nicht der richtige Zeitpunkt dafür, das weiß ich, aber du wirst dich sicherlich fragen, wie es zu alldem gekommen ist. Du wirst mich bestimmt für verrückt halten, dass ich mit Sam zusammen bin … ich schwöre dir, dass ich in einer Million Jahren niemals damit gerechnet hätte … Mum?« Noch immer keine Antwort. Rosie fühlte sich noch elender. Wie konnten ihre Eltern ihr je verzeihen? »Bitte, sag was. Selbst wenn du wütend bist. Ich kann dieses Schweigen nicht ertragen.«
Jessica wandte sich ihr zu und sagte in einem gebrochenen Flüstern: »Ich kann nicht. Ich habe meine Stimme verloren.«
»Oh.« In ihrer Kehle machte sich ein schreckliches Gefühl breit – der Drang, zu lachen. Vor Anstrengung, dem entgegenzuwirken, zogen sich ihre Mundwinkel nach unten.
»Das ist nicht lustig, Rosie.« Die Haut um Jessicas Augen zog sich zusammen und sie teilte einen Moment verzweifelter Heiterkeit. Sie legte eine Hand an ihre Kehle. »Es tut weh.«
»Weswegen hast du sie verloren? Wegen des Schocks?«
»Vermutlich«, flüsterte ihre Mutter mühsam. »Wir reagieren alle auf unsere eigene Art. Auberon ist stoisch. Matthew dreht durch. Ich verliere meine Stimme.«
»O Gott. Ich fühle mich so schrecklich und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Nicht jetzt.« Jessica schüttelte den Kopf. »Ich bin die Letzte, die dich verurteilt. Jetzt zählt nur noch Lucas. Würdest du mir einen Gefallen tun?«
Rosie band das Haar ihrer Mutter zu einem Pferdeschwanz zusammen und strich die Haarsträhnen zwischen ihren Schultern glatt. »Was du willst.«
Das angestrengte Flüstern war so leise, dass Rosie sich dicht über sie beugen musste, um es zu verstehen. »Geh nach Oakholme. Vergewissere dich, dass es Matt, Faith und Heather gut geht. Und ruh dich aus.«
Auf der nächsten Krankenstation traf sie Sam, der bei Jon am Bett saß. Jon saß aufrecht da und sah nicht anders aus als in der letzten Nacht: bleich, müde und besorgt. Rosie zog sich einen Stuhl an seine andere Bettseite und begann mit den üblichen Höflichkeiten – wie fühlte er sich, hatte er Schmerzen, hatte er was gegessen?
»Hör auf mit dem Theater, Rosie«, sagte Jon mit einem Anflug von bitterem Humor. »Mir geht es gut.«
»Ich habe mit Sam gesprochen«, konterte sie schlagfertig.
Sam grinste trotz seiner ziemlich verfärbten und geschwollenen Lippe. Jon verdrehte nur kurz die Augen zur Decke. »Hast du Lucas gesehen?«, fragte er.
»Ja, sein Zustand ist unverändert. Keine Besserung.«
Er nickte gequält. »Ich werde bald zu ihm gehen und bei ihm wachen. Sollte ihm irgendwas zustoßen … Ich will ohne ihn nicht hierbleiben.«
Sam und Rosie sahen sich über das Bett hinweg an. »Fang jetzt nicht damit an, du Idiot«, sagte Sam. »Du lebst. Und er auch. Muss ich jetzt vielleicht noch den Refrain von ›Always Look on the Bright Side of Life‹ singen?«
»Bitte nicht.« Dabei huschte ein Lächeln über Jons Gesicht.
Rosie meinte zögernd: »Jon, erinnerst du dich, dass du bei deinem ersten Besuch bei Luc davon sprachst, er sei in die Spirale gegangen? War das nur so dahergesagt oder meinst du, er könnte tatsächlich …?«
»Deine Leute haben dich doch wohl aufgeklärt, oder?« Jon machte eine Pause. »Es heißt, wenn Elfenwesen sterben, bedeutet dies nicht, dass sie für immer gegangen sind. Es bedeutet, dass wir uns verändern. Wenn der Körper tot oder fast tot ist, reist das Seelenwesen ins Herz der Spirale … aber nachdem die Großen Tore geschlossen sind, bin ich mir nicht sicher, ob wir das können. Aber ich bin davon überzeugt, dass Lucas tatsächlich durchgekommen ist, in irgendeiner Form. Und da Lucas jetzt im Koma liegt, könnte das bedeuten, dass sein Seelenwesen dorthin geflohen ist und nicht mehr zurückkommen möchte.«
»Oder nicht zurückkommen kann«, sagte Rosie. Sie schaute Sam an, der sie besorgt und fragend ansah. »Was die Tore betrifft, Jon«, fuhr sie fort, »Lucas hat mir erzählt – als du am Freitagabend aus warst –, er glaubt, während seines schlimmen Trips versehentlich das Lych-Tor geöffnet zu haben.« Sie hielt ihre Hände hoch, wie Lucas das getan hatte. »Nur einen kleinen Spalt.«
Entsetzen breitete sich auf Jons Gesicht aus. »Nein. Das hätte er mir erzählt!«
»Er hatte Angst wegen der Konsequenzen und behielt es deshalb für sich. Er lief mehr oder weniger vor dem weg, was er getan hatte. Vielleicht hat er sich auch geirrt oder hältst du es für möglich?«
Jons Antwort kam langsam: »Die einzige Möglichkeit, die es ihm erlaubt hätte, die Tore zu öffnen, wäre die, dass Lawrence seine Macht darüber verloren hat.« Seine samtbraunen Augen blitzen sie an. »Luc wollte mir was erzählen, als Alastair kam … o mein Gott.« Eine Minute lang schwiegen sie alle. Es war, als würde sich ein Nebelschleier zwischen sie und die Menschenwelt herabsenken. »Ich würde ja hingehen und es überprüfen, aber ich kann nicht laufen.«
»Ich könnte mal nachsehen«, sagte sie. »Ich fahre ohnehin zurück nach Oakholme.«
»Warte mal«, sagte Sam. »Realitätsabgleich. Losrennen, um Freias Krone nach Spalten abzusuchen – ist das nicht ein wenig verrückt? Lucas ist doch hier.«
»Du redest wie Matthew.«
»Sam hat recht«, sagte Jon. »Selbst wenn Luc die Tore geöffnet haben sollte, selbst wenn du ihm in die Spirale folgen könntest, was sollte das bringen?«
»Wenn du keinen gebrochenen Knöchel hättest, wärst du doch als Erster drin«, erwiderte sie.
»Natürlich«, sagte er mit verzweifeltem Blick. »Aber sieh mich an. Keine Chance.«
Rosie musterte Jon und fragte sich, ob sie seinen Gesichtsausdruck richtig deutete und er tatsächlich Angst hatte. Er hatte seine gesamte Energie den geschlossenen Toren gewidmet, aber offenbar nie überlegt, was er tun würde, wenn sie plötzlich offen wären. »Nur ein müßiger Gedanke«, sagte sie leise. »Aber ich muss wirklich nach Hause gehen und nachsehen, wie es Faith geht. Ich treffe euch beide später wieder.«
»Moment, Schatz.« Sam war aufgesprungen. »Ohne mich gehst du nirgendwohin.«
Sie sah ihn herausfordernd an. »Ist das so?«
Am anderen Ende der Station stand Sapphire und beobachtete sie. Rosie und Sam und Jon. Sie waren eine kleine verschworene Clique, die sich angeregt unterhielt. Ihnen bedeutete es nichts, dass sie nicht dazugehörte. Sie vermissten sie nicht und würden sie nie vermissen.
Sie nahm ihre glänzenden Haare und die anmutigen Bewegungen in sich auf, den elfischen Glanz, der sie umgab. Sie waren sich ihrer selbst nicht bewusst. Nur wenige Menschen erkannten das, aber sie gehörte dazu.
Und sie war eifersüchtig auf sie.
Die Elfenwesen würden sie immer ausschließen, ihr nie Einlass gewähren. War es das, was ihren Vater kaputtgemacht hatte – der besessene Drang, den Schleier zu durchdringen und sie zu begreifen, sie zu kontrollieren, einer von ihnen zu werden?
Das war der eigentliche Grund, weshalb sie Rosie hasste. Sam war Sapphire gleichgültig – sie mochte ihn nicht, das ja, aber sie beneidete ihn auch nicht, weil er sein elfisches Wesen nie vor sich hergetragen hatte. Jon konnte sie kontrollieren. Aber Rosie war unzähmbar und hatte sämtliche nicht zu greifenden Eigenschaften, die Sapphires Vater in ihren Bann gezogen hatten, und war dennoch nie zufrieden.
Rosie war ein Elfenwesen. Und doch nicht glücklich.
Und dort standen sie nun selbstvergessen und flüsterten über elfische Dinge, als würde sie, Sapphire, überhaupt nicht existieren. Diese Dinge betrafen sie selbst nicht weniger, aber diese Einschätzung würden die Elfenwesen wohl niemals teilen. Es war immer wieder das Gleiche. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie mit Wissen und Glamour und Sinnlichkeit zu übertrumpfen, immer war sie die Außenseiterin. Das Menschenwesen.
Sie sympathisierte mit Alastair. Im Unterschied zu allen anderen konnte sie seine Motive voll und ganz nachvollziehen. Sie sagte sich: Wir glauben, mit den Elfenwesen leben zu können, ihnen ebenbürtig zu sein – aber am Ende treiben sie uns zur Verzweiflung. Wie schade, dass ich ihn nie kennengelernt habe. Selbst das haben sie mir vorenthalten. Ich hätte ihn vielleicht retten können.
Sapphire setzte eine neutrale Miene auf. Natürlich gab es in ihr auch einen Teil, der wegen Lucas traurig war. Der arme süße, schöne Junge … Ein anderer Teil von ihr jedoch kam nicht umhin sich zu sagen, dass, wenn Lucas tot wäre – hirntot oder anders – es ihnen nur recht geschähe, wenn sie unter diesem Schicksalsschlag leiden mussten, der ihr privilegiertes Leben getroffen hatte.
Als Rosie Oakholme betrat, traf sie dort keinen an. Die üblichen Autos standen in der Einfahrt, aber von Matthew, Faith oder Heather war nichts zu sehen. Merkwürdig. Sie suchte die knarzenden Flure ab und rief nach ihnen. Das Haus schwieg. Die Atmosphäre war angespannt, düster und voll glitzernder Staubkörner. Am Rande ihres Gesichtsfelds huschten geisterhafte Gestalten.
Oakholme war gesättigt von den Schattenreichen.
Es schienen keine Mäntel zu fehlen. In der Küche lag Spielzeug herum und schmutziges Geschirr. Faith würde niemals das Haus verlassen, ohne vorher aufzuräumen. Aber noch viel verstörender war die offen stehende Hintertür.
Rosie suchte auch im Garten. Als sie wieder zur Vorderseite des Hauses kam, querte sie den Rasen und ging auf Sam zu, der in Lawrence’ glänzend schwarzem Wagen saß. Er hatte darauf bestanden, Rosie nach Hause zu bringen, was bei genauerer Überlegung nicht gerade die beste Idee gewesen war. Bring Sam nach Oakholme, wo ein irrer Matthew wartete – ja, sehr durchdacht, hatte Rosie sich gesagt und ihn deshalb draußen warten lassen.
»Was ist los?«, rief er und ließ das Fenster herunter.
»Es ist keiner zu Hause.«
Sam stieg aus. »Glaubst du, sie sind zum Krankenhaus gefahren?«
»Schon möglich.« Sie runzelte die Stirn. »Aber wie? Ihre Autos sind hier. Und die Küchentür steht offen.«
Er schloss die Wagentür und sperrte ab. »Darf ich reinkommen?« Das schelmische Funkeln in Sams Augen war zwar gebändigt, aber trotzdem da. »Sollte Matt auftauchen, werde ich schon damit fertig. Friedlich natürlich, Ehrenwort.«
»Ja, komm rein«, sagte sie besorgt. »Mir wäre ein Faustkampf sogar lieber als diese Geisterschiffatmosphäre.«
Sam nahm sie an der Hand. »Lass uns einen Tee trinken. Nun schau doch nicht so verängstigt, Foxy.«
Sie führte ihn durch die Eingangstür. Als sie den Flur betraten, blieb er abrupt stehen und sagte »Wow«.
»Ganz schön heftig, nicht wahr?«, meinte sie. In der Luft wogten Schleier, alles leuchtete in Blau und Grün und braunen Herbsttönen.
»Ist euer Haus immer so?«
»Nein. Bei uns machen sich zwar die Schattenreiche bemerkbar wie bei euch Dumannios, aber niemals in dieser Intensität.« Sam sah seltsam aus in diesem Licht, er war ein leuchtender Schatten, dessen Augen von innen wie ein feuriger Aquamarin strahlten. Sie richtete den Blick nach unten und sah, dass ihr Hände gesprenkelt waren, als würde die Blätterkrone eines Baumes ihren Schatten darauf werfen. »Komm in die Küche.«
Als sie die Tür aufstieß, stand dort jemand mitten im Raum. Ein Hauch von einer Frau, grün, mit fließendem Blätterhaar. Die Dryade streckte ihre Arme aus, die dünn wie Baumäste waren, und starrte mit Entsetzen auf das rote Blut, das von den Enden ihrer Zweigfinger tropfte.
»Ich werde diesen Geschmack im Mund nicht los«, sagte die Erscheinung. Ein blutgetränkter blättriger Arm schwebte nach oben und zeigte auf die offene Tür. »Bringt euer Licht zurück, sonst werde ich das Blut nie los! Findet ihn und bringt ihn zurück!« Schimmernd löste sie sich auf wie Hitzedunst in der Atmosphäre.
»Verdammte Scheiße!«, keuchte Sam. »Was sollte das denn?«
»Du hast sie gesehen?«
»Ja, klar und deutlich.«
»Oh«, sagte Rosie und versuchte wieder zu atmen. »Es war die Grüne Frau. Die Dryade aus der Alten Eiche. Sie verfolgt mich schon seit Jahren und beklagte sich immer über Blut an ihrem Baum … als hätte sie immer gewusst, was passieren würde, und flehte mich an, es zu verhindern.« Rosie setzte sich an den Tisch und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. »Wieso zum Teufel habe ich nicht kapiert, was sie meinte?«
»Wie konntest du?«, sagte Sam und strich ihr mit seiner Hand übers Haar. »Selbst wenn du es kapiert hättest, wie hättest du es verhindern wollen? Unser Licht – glaubst du, damit meinte sie Lucas?«
»Der Name Lucas bedeutet ›Licht‹«, sagte Rosie.
»Dann war deine Idee, die Tore zu kontrollieren, doch nicht so abwegig, oder?«, sagte Sam ernsthaft. Er stützte sich neben ihr auf dem Tisch auf und sie hätte so gern seine schöne, kräftige Hand gestreichelt, konnte ihn aber nicht ansehen, ohne sich an die Lust und die Schuld und den Unfall und die Gesichter ihrer Eltern und den toten Alastair zu erinnern, und … es war ein Teufelskreis, der letztendlich zu Lucas führte, der an Maschinen angeschlossen im Sterben lag.
»Äh«, sagte sie und schluckte den Kloß hinunter, der ihr im Hals steckte. »Ich wünschte mir, Dad wäre hier. Er wüsste, was zu tun ist – aber ich traue mich nicht, ihn in meine Überlegungen einzuweihen, denn dann würde er mir verbieten zu gehen. Ich kann nicht im Krankenhaus rumsitzen, wo alle uns anstarren und beschuldigen. Ich muss etwas tun. Ich muss es wenigstens versuchen, Sam. Die Grüne Frau hat mir die Entscheidung abgenommen.«
Daraufhin wandte Sam sich abrupt ab und begann Schranktüren zu öffnen. »Wenn du auf eine Reise gehst, gibt es dann etwas, was du unbedingt mitnehmen würdest?«
»Wasserflasche, Zahnbürste und saubere Unterwäsche«, sagte Rosie. »Warum debattierst du nicht mit mir?«
»Weil es Zeit spart.« Er fand einen Canvasrucksack und fing an, Lebensmittel hineinzuwerfen. »Hol dir, was du brauchst, ich schreibe in der Zwischenzeit eine Nachricht.«
»Und was steht da drin?«
»›Haben uns auf sinnlose Suche begeben‹«, sagte Sam. »Wir werden ohnehin in zwanzig Minuten wieder zurück und kein bisschen klüger als jetzt sein, dann ist es egal, was ich schreibe. Komm schon, beeil dich!«
»Mann, du kannst einen aber herumkommandieren«, sagte sie nüchtern, rannte aber los. Auf dem Weg nach oben in ihr altes Schlafzimmer nahm sie zwei Stufen auf einmal – fast ängstlich angesichts des unberechenbaren Zustands, in dem das Haus sich befand – und holte sich einen Pullover und eine wasserdichte Jacke. Wie würde es in den tieferen Reichen wohl sein – eiskalt oder tropisch heiß? Sie hatte keine Ahnung. Weil sie gerade dabei war, lieh sie sich auch noch ein paar von Matts Sachen für Sam aus.
Fünf Minuten später schlossen sie und Sam die Küchentür hinter sich. Er warf sich den Rucksack über die Schulter. Draußen verschwanden die Schattenreiche. Die Oberflächenwelt war wieder ganz normal: feucht und frostig, die kahlen Bäume schwarz vor dem Grün von feuchtem Gras, Lorbeer und Stechpalme. »Weißt du, Matt und Faith könnten doch auch bei den Nachbarn sein«, meinte Sam.
»Da hast du bestimmt recht. Ich werde die Tür nicht absperren.«
»Warum sind wir überhaupt hinten rausgegangen? Wir können doch nach Stonegate hochfahren.«
»Oh.« Rosie zögerte. »Aber zu Fuß können wir uns da raufschleichen, ohne gesehen zu werden. Und ich finde es richtig, zu Fuß zu gehen – es ist, als würden wir einem magischen Pfad folgen. Du hältst mich sicher für verrückt, oder?«
»Das steht wohl außer Frage. Doch du hast recht. Wenn wir den Wagen nehmen, könnten Lawrence und Madam uns entdecken, und das können wir jetzt gar nicht gebrauchen.«
»Genau«, stimmte sie ihm resolut zu. »Was meinst du, ob wir Kreditkarten brauchen?«
Sam lachte; er wirkte so einnehmend, wenn er spontan lächelte wie jetzt. Sie tauchten tiefer in den Garten ein und erreichten die Lücke in der Hecke. Als sie an den Fluss kamen, der die Grenze zwischen Oakholme und Stonegate markierte, und sich ihren Weg durch das Blattwerk der immergrünen Sträucher und die winterkahlen Zweige bahnten, fühlte Rosie sich wie befreit. Fast gelang es ihr, zu glauben, dass der Albtraum nicht stattgefunden hatte.
Völlig unaufgeregt erklomm sie mit Sam den zerklüfteten Hang, denn nichts deutete darauf hin, dass sie sich den Toren näherten. Sie musste Lucas, oder besser sein Seelenwesen, finden, das war der einzige Weg, sich von ihrer Schuld reinzuwaschen. Dann fiel ihr Lawrence ein und ein kalter Schauer durchzuckte sie. O ja, es war ein winziger Vorbote einer schrecklichen Bedrohung, deren Ziel es war, hindurchzubrechen und sie alle zu verschlingen …
Von fern hörte sie Gebrüll.
Sie blickte hoch und sah Felsen und ein Gewirr von Birken. Eine Gestalt bewegte sich dort und war schon wieder verschwunden – nur die Zweige schwankten. Sie ging zwei Schritte höher und hörte es ganz deutlich – ein tiefes Knurren diesmal, das von einem Ort über ihnen kam.
»Verdammt, was ist das?«, sagte Sam. »Das klang wie ein Hund, aber einer, den ich noch nie gehört habe.«
»Disir?«
»Die machen meiner Erfahrung nach keinerlei Geräusche.« Der Laut ertönte wieder. Kein Tier, das in englischen Gefilden heimisch war, heulte derart. Doch es schwang ein Unterton menschlicher Qual mit. »Lass es uns hier versuchen.«
Während sie nach links abbogen und den Hügelrand ansteuerten, hielten sie ständig wachsam Ausschau nach der Quelle dieses Knurrens. Dann rief von hinten jemand im Flüsterton: »Rosie. Rosie!«
Erschrocken wirbelten sie herum. Das Flüstern kam von den Uferbänken, hinter denen sich eine Flussbiegung versteckte. Doch es war keiner da … Ihrem Instinkt folgend tauchte sie schräg in die Schattenreiche ein. Sofort entdeckte sie unterhalb der Senke den Scheitel eines Kopfes, ein Schimmern von Wasserpesthaaren und Libellenflügeln …
»Sam«, zischte Rosie, aber er hatte es auch gesehen. Sie rannte los und sprang die steile Uferböschung hinunter, fand kaum Halt an den Grasbüscheln und wäre fast in den Fluss gefallen. Sam rutschte neben ihr nach unten.
Sie trafen Faith in ihrer elfischen Gestalt an, die sich allem Anschein nach voller Angst hinter abgestorbenem gelbem Schilf versteckte. Sie hatte Heather bei sich. Das Kind in seinem Pyjama hatte menschliche Gestalt, doch ihre rosafarbene Babyhaut schillerte in allen Farbtönen. »Wir spielen mit Daddy Verstecken«, flüsterte Faith und deutete mit ihrem glänzenden Schuppenfinger auf ihre Tochter.
»Wie bitte?«, hakte Sam nach.
»Er tut so, als wäre er wütend, und wir tun so, als hätten wir Angst. Nicht wahr, Heather?«
Das kleine Mädchen nickte mit großen Augen. Offenbar hatte sie ihr die Geschichte abgenommen. Rosie war entsetzt. »Was zum Teufel geht hier vor?«, flüsterte sie und zog Faith herum, um ihr in die Augen zu schauen.
Als sie sich von Heather abwandte, spiegelte Faiths Wassergeistgesicht nackte Angst. Ihre Worte sprudelten so schnell und leise aus ihr heraus, dass Rosie sie kaum verstehen konnte. »Matt kam gestern Abend aus dem Krankenhaus nach Hause. Er hatte eine Mordswut im Bauch. Er tobte wegen Sam und Alastair und allem anderen. Ich versuchte ihn zu beruhigen, aber er stieß mich weg – noch nie habe ich ihn so erlebt. Heather muss es gehört haben, denn sie fing zu weinen an, und ich brachte sie nach unten – ich dachte, wenn sie da ist, würde Matt ruhiger werden. Aber keineswegs. Ich flehte ihn an, doch vor seiner Tochter nicht derart herumzubrüllen, aber er wurde immer wütender und sagte, es läge an mir, dass sie Angst habe, nicht an ihm. Also nahm ich sie auf den Arm – und er ging auf uns los. Ich weiß nicht, was er vorhatte.«
»O mein Gott, Fai …«
»Ich glaube, er wusste es selbst nicht. Ich bekam Panik und tauchte in die Schattenreiche ein – ich konnte nicht anders – und natürlich sah er, sobald ich das tat, meine Veränderung. Sah Heather, wie sie tatsächlich ist. O Rosie, dieser Ausdruck auf seinem Gesicht … Wenn ich ihn zuvor schon als wütend empfunden hatte, dann war das nichts gegen das, was folgte. Es war, als hätte der letzte Mensch, dem er in seinem Leben vertraute, ihn nun auch noch verraten.«
»Dann bist du weggerannt?«
»Viel schlimmer.« Rosie erhob sich und sah sich ängstlich um. »Er folgte uns in die Schattenreiche. Auch er veränderte sich. Aber solange wir im Wasser bleiben, kann er uns nicht sehen.«
»Ihr habt euch die ganze Nacht über versteckt?«
»Die längste Zeit … O mein Gott, er kommt.« Faith glitt wie ein Fisch zurück in den Fluss und zog Heather mit sich. Das Wasser war flach, aber sie legten sich beide flach auf den Bauch zwischen die glänzenden Steine und das sich kräuselnde eisige Wasser. Sie waren vollständig untergetaucht. Rosie sah wie gelähmt zu und dachte, dass Heather ertrunken sein musste – aber dann verschwanden sie. Wurden zu Wasserpest.
Sam packte Rosie am Arm, als wollte er sie daran hindern, aufzuspringen, was sie keinesfalls vorhatte. Über ihnen hörten sie den Atem einer Kreatur, der grollend durch einen nicht menschlichen Kehlkopf und ein tiefes, mit Zähnen besetztes Maul zu ihnen drang.
Sie spähte über den Rand der Böschung und sah, wie sie über ihnen den Hügel absuchte.
Es war ein Tier, das auf seinen Hinterbeinen ging, ein Raubtier wie ein Löwe, aber merkwürdiger als jedes Geschöpf, das Rosie je gesehen hatte. Ein Balg aus dichtem Fell bedeckte es, Sandgold gestreift mit Schieferblau, das an den Gliedmaßen fast ins Schwarze überging. Seine schweren Vorderpfoten hielt es wie Menschenhände. Die Gesichtsknochen waren lang und schwer, löwenartig, doch noch immer mit menschlichen Zügen, das Haar eine lange, dicke Mähne. Der wilde Kopf drehte sich von einer Seite zur anderen und nahm Witterung auf.
Rosie betrachtete es gebannt. Matthew? Sie erinnerte sich an die deformierte Fellhand, die sie einmal kurz gesehen hatte. Die Pfoten waren nun in voller Pracht zu sehen, bestückt mit dicken schwarzen Klauen wie Säbel. Seine Augen hatten menschliche Form, waren aber schwarz wie die eines Tieres und darin brannte der Blutdurst des Raubtiers. Das über seinen Nacken fallende Haar wurde eins mit dem gezahnten Rückgrat. Matthew war monströs, erschreckend und prächtig zugleich.
Er brüllte wieder. Das Gebrüll formte ein schlichtes Wort: »Faith!«
Sie sah seine gebogenen Fangzähne schimmern, die den Nacken eines Wassergeists zermalmen würden wie eine Stange Sellerie. In seinen Augen glitzerte nur irre Wut. Ob er sich noch an seine menschliche Gestalt erinnern konnte? Und wenn er sich nun nicht mehr zurückverwandeln konnte?
Der schwere Kopf wirbelte herum. Er nahm Witterung auf und lief dann am Wasser entlang in Richtung Oakholme. Dabei schlich er im Unterholz hin und her und nahm ihnen somit jegliche Hoffnung, Faith und Heather in die Sicherheit des Hauses zurückbringen zu können.
»Du kümmerst dich um Faith«, sagte Sam eindringlich. »Geht flussaufwärts und dann hoch nach Stonegate. Geht diesen Weg«, sein Finger zeigte auf den westlichen Hang, »vorbei an Freias Krone, damit ich euch unterwegs irgendwo finden kann.«
»Was hast du vor?«
»Ich werde Matthew lang genug ablenken, damit du Faith und das Kind in Sicherheit bringen kannst.«
»Sei vorsichtig«, sagte sie, aber Sam war schon weg, rannte geduckt hinter Felsen und Büschen, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Rosie stolperte ans Ufer und berührte die Wasserpest, aus der Faith erstand, sobald sie durch das Gekräusel nach oben kam. Heather tauchte neben ihr auf und war zu Rosies Erleichterung unverletzt, aber den Tränen nah. »Sam versucht ihn abzulenken, während ich euch nach Stonegate bringe.«
»Wir haben ihn wieder an der Nase herumgeführt, siehst du?«, sagte Faith zu ihrer Tochter. Doch ihre belegte Stimme strafte ihre falsche Fröhlichkeit Lügen. Heather fing zu weinen an. »Pst, pst. Sonst hört uns Daddy.«
»Fai, sie ist erschöpft. Und du ebenso. Ihr müsst völlig durchgefroren sein.«
»Das spüre ich gar nicht.« Ihre Freundin kletterte mit dem Kind im Arm ans Ufer. Das Wasser perlte an ihnen ab wie silbrige Tropfen von Entenfedern. »Was soll ich denn tun?«, sagte Faith. »Ich wusste, er würde irgendwann dahinterkommen. Aber ich hätte nie – Ro, wusstest du, dass Matthew sich derart verwandeln kann?«
»Nein«, sagte Rosie, der der Schreck noch in den Gliedern saß. Wie hatte er das die ganzen Jahre über geheim halten können? »Ich hatte keine Ahnung. Folg mir und geh geduckt. Sollte Matt wieder auftauchen, werde ich ihn aufhalten, während ihr zuseht, dass ihr zu Freias Krone hochkommt. Verstanden?«
Rosie begann den Berg zu ihrer Linken zu umrunden, erklomm Pfade, die durch abgestorbene Farne, kahle Eichen und Stechpalmen führten. Faith folgte ihr mit Heather im Arm dicht auf den Fersen, schwer atmend vor Anstrengung und Angst.
Noch nie in ihrem Leben hatte Rosie solche Angst gehabt.
Sie hörte noch ein-, zweimal das Grollen von Matthews Stimme, weiter unten und in östlicher Richtung, aber sie ging weiter, versteckt im Baumgürtel, der sich um den Berg zog. Auf halbem Weg nahm Rosie Heather auf den Arm und machte die Erfahrung, wie schwer ein so kleines Kind sein konnte. Schließlich ließen sie das Rhododendrongebüsch hinter sich und näherten sich dem kahlen Gipfel mit seiner in den Himmel ragenden Felskrone. Ihr Herz hämmerte. Dann sah sie Sam, der aus der anderen Richtung auf sie zugerannt kam, den Rucksack in der Hand schwenkte und sich ständig umschaute. Kein Anzeichen von der Bestie.
Sein schlanker Körper war voller Energie, sein Gesicht vor Anstrengung verzerrt. »Lauft!«, schrie er und zeigte dabei auf die Felsen. »Er kommt!«
Es war nicht weit, aber es war steil. Es schien, als würden die Schattenreiche sich ausdehnen, um sie zu umhüllen, und Rosie sah die Großen Tore in ihrer wahrhaftigen Ehrfurcht gebietenden Gestalt – ein glänzender Monolith wie ein geheimnisvoll alter Grabhügel. Rosie entdeckte den Spalt in der Oberfläche des Felsens. Er war deutlich zu erkennen, schmal, aber nichtsdestoweniger eine Öffnung.
»Er ist verrückt, ich konnte ihn nicht zurückhalten«, keuchte Sam. »Seht zu, dass ihr in den Felsspalt kommt. Schnell!«
Sie sah, wie Matthew, die Bestie, aus seiner Deckung am anderen Ende der Lichtung hervorbrach. Wütend kam er ihnen wie ein von der Kette gelassener, geifernder Wachhund nach. Der einzige Vorteil war, dass er nicht dessen Geschwindigkeit besaß, da er nur auf seinen Hinterläufen und nicht auf allen vieren rannte. »Sam!«, schrie sie. Ihre Stimme war fast lautlos. Sie stolperte unter dem Gewicht ihrer Nichte. Sam wirbelte seinen Rucksack wie eine Schleuder, um die Bestie auf Abstand zu halten, aber sie kam immer näher, ungezähmt und erbarmungslos zwang sie Sam, immer wieder in Richtung der Tore zurückzuweichen.
Sam sprintete los und hängte Matthew ab und streckte in einer beschützenden Geste die Arme aus, um sie der dunklen Spalte zuzuführen. Sie hatten nicht vorgehabt, dort unvorbereitet einzutauchen, aber plötzlich gab es keinen anderen Ausweg mehr. Rosie rannte hinein und spürte, wie die steinkalte fremde Luft sie umhüllte. Faith folgte ihr auf den Fersen.
Matthew brüllte im Näherkommen gutturale Worte, die ihr das Blut gerinnen ließen. Seine Schreie waren voll mörderischer Wut, als hätte auf der ganzen Welt noch nie jemand so gelitten wie er und als müsste Blut fließen, um das zu sühnen … Sie drehte ihren Kopf und sah hinter sich keilförmig das Dämmerlicht und als Silhouette davor Sam, der den vollen Rucksack schwang. Sie hörte das dumpfe Geräusch, als dieser gegen den Bauch der Bestie prallte. Grunzend ging Matthew zu Boden und torkelte dann aus ihrem Blickfeld.
Dann kam ihnen Sam nachgerannt und rief keuchend: »Das hat ihn aufgehalten. Geht weiter, er folgt uns nicht.«
Die Felswände drückten von beiden Seiten. Rabenschwarze Dunkelheit und ein dünner Luftzug, von Angst gesättigt. Hinter ihnen streifte eine wütende Bestie über den Berg … doch vor ihnen lag lebendige Dunkelheit und alle Schatten von Lawrence’ Albträumen warteten dort auf sie. Der Lufthauch war ihr flüsternder Atem.
Alles, was sich an menschlicher Skepsis bei ihnen eingenistet hatte, fiel von ihnen ab. Die Tore zum Elfenland waren real. Und Lucas hatte sie geöffnet.