~  22  ~
Persephones Kammer

»Was meinen Sie damit, er hat sich selbst entlassen?«

Auberon lief mit dem Telefon in der einen Hand durch die Küche, während die andere durch die Luft wedelte, um Jessicas hartnäckige Fragen abzuwehren. »Ja, allem Anschein nach hatte er das Recht dazu, aber … er würde das nie tun, ohne es uns zu sagen … Offensichtlich gegen Ihren Rat … Nun, aber wohin ist er? Nein, er ist natürlich nicht hier, sonst würde ich wohl nicht bei Ihnen nachfragen, oder?«

Rosie und ihre Mutter sahen sich an. Als Auberon den Anruf beendet hatte, wussten sie, worum es im Wesentlichen ging – Lucas hatte sich heute Morgen vorzeitig aus dem Krankenhaus entlassen und ein Taxi genommen.

»Warum hat man uns nicht informiert?«, ereiferte sich Jessica.

Auberon stand kopfschüttelnd da. »Sie gingen davon aus, er werde nach Hause fahren. Und jetzt rufen sie bei uns an, um uns zu empfehlen, ihn wieder stationär aufnehmen zu lassen, aber vorher hielt es keiner für nötig, uns zu informieren!«

»Hat man denn nicht versucht ihn zurückzuhalten?«

»Natürlich, aber er war kein Gefangener. Er unterschrieb einen Haftungsausschluss, der besagt, dass er das Krankenhaus gegen medizinischen Rat verlassen hat, und das war es dann.«

Rosie fiel wieder ein, wie verdrossen Lucas tags zuvor gewesen war. Sams Anwesenheit, für die er sich elegant entschuldigt hatte, hatte Auberon mit der bissigen Bemerkung quittiert: »Wie ich sehe, hat die Periode des Nachdenkens genau so lange gehalten wie der Schnee.« Anschließend waren ihre Eltern jedoch gut mit ihm ausgekommen. Vor etwa einer Stunde war er nach Stonegate aufgebrochen, um seinen Vater zu sehen. Als jetzt die Türglocke läutete, beeilte sie sich aufzumachen in der Hoffnung, Lucas wohlbehalten und mit einer überzeugenden Erklärung auf der Schwelle vorzufinden.

Stattdessen stand Sam mit einem Strauß dunkelroter Rosen vor ihr – mehr als sexy in seiner schwarzen Lederjacke. »Du kommst zurück«, sagte sie. »Sind die für mich?«

»Nein, die sind für Matt«, erwiderte er trocken. »Natürlich sind sie für dich, Foxy-Rosie.«

Sie nahm ihm die Rosen ab, steckte ihre Nase hinein und sog ihren zarten, frischen Duft ein. »Die sind fantastisch. Danke schön! Mann, duften die köstlich.« Sie hielt ihr Gesicht noch ein paar Sekunden länger darin verborgen, weil sie ihm nicht zeigen wollte, dass sie diese Geste zu Tränen rührte. Sam freute sich, doch zugleich war ihm die Situation ein wenig peinlich.

»Ich hatte gehofft, sie gefallen dir«, sagte er zärtlich. »Dunkelrot und leidenschaftlich wie du. Weißt du übrigens, was um Himmels willen Lucas auf Stonegate macht?«

Ruckartig richtete sie sich auf. »Er ist wo?«

»Ich kam nicht rein. Lawrence hat von innen die Türen verriegelt, was komisch ist, weil er sich im Allgemeinen um die Sicherheit keine Gedanken macht. Ich stehe also in der Einfahrt und rufe, dass er mich hineinlassen soll, und gleich darauf geht oben ein Fenster auf und meine Tasche kommt heruntergesegelt und landet neben mir. Dad wiederholt, er wolle keinen sehen oder sprechen. Ich versuche ihm das auszureden, aber das Fenster wird zugeschlagen. Und dann – sehe ich im Fenster daneben ein Gesicht. Das von Lucas.«

»Bist du dir sicher?«

»Hundert Prozent. Ich rief zu ihm hoch, aber er bewegte sich nur vom Fenster weg und verschwand. Darf er das Krankenhaus eigentlich schon verlassen?«

Rosie und Sam standen zusammen mit Jessica und Auberon vor den Mauern von Stonegate. Sie hatten versucht anzurufen, aber es ging keiner dran.

»Wollt ihr, dass ich einbreche?«, bot Sam an.

»Nein, nicht doch.« Jessica schüttelte den Kopf. »Das wäre zu drastisch.«

»Also, wir werden nicht gehen, bevor wir ihn nicht gesehen haben«, sagte Auberon, der die Hände in die Taschen seines Überziehers gesteckt hatte. Sie hatten geklingelt, an der Tür geklopft und Lucs Namen gerufen – keine Reaktion.

»Lasst es mich versuchen«, sagte Rosie. Sie schlich entlang der dicken Hausmauern zum hinteren Garten. Die abschüssige Rasenfläche mit ihren Inseln aus Felsen und Rhododendren erinnerte sie an das erste Mal, als sie, Matthew und Lucas eingebrochen waren. Damals hatten sie das Gefühl gehabt, ein Schloss aus Eis zu betreten. In dieser Höhe hatte der Schnee sich noch gehalten.

Rosie klopfte sanft, aber hartnäckig an die Küchentür. Drinnen bewegte sich was. »Lucas?«, rief sie. »Bist du da drin? Ich bin es. Komm schon, sprich mit mir.«

Zu ihrer Überraschung ging die Tür einen Spalt auf und Lucas stand ausgezehrt und kleinlaut in der Tür. Aus dem Augenwinkel sah Rosie Sam und ihre Eltern an der Hausecke stehen. Sie winkte ihnen zu, Abstand zu wahren. »Was ist?«, sagte er.

Samthandschuhe, sagte sie sich. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht.«

»Mir geht es hervorragend.« Seine dunklen Haare hingen ihm in die Augen. »Lass auf keinen Fall zu, dass Mum und Dad auf mich einreden. Wenn du das machst, schließe ich sofort die Tür.«

»Nicht doch, sie werden sich nicht vom Fleck rühren, das verspreche ich dir. Es macht dir auch keiner einen Vorwurf daraus, dass du das Krankenhaus verlassen hast. Ich möchte nur wissen, warum du hier bist.«

»Also weißt du, Rosie …« Er verschränkte seine Arme. Die Ärmel seines überlangen weißen Hemds waren aufgekrempelt und er hatte Gänsehaut auf seinen langen, blassen Unterarmen. »Du verstehst das doch mit den Toren. Außer Lawrence kann mir keiner helfen.«

»Dad glaubt nicht, dass du bei ihm gut aufgehoben bist.«

»Das ist Unsinn. Er ist mein Vater.«

»Hat Lawrence dich eingeladen?«

»Nein«, antwortete Lucas seufzend. »Anfangs wollte er mich gar nicht reinlassen. Aber ich muss einfach eine Weile bei ihm bleiben.«

»Er hält dich aber nicht fest, oder?«

»Nein, natürlich nicht! Sieh doch – ich könnte jetzt auch rausgehen, wenn ich das wollte, aber ich will es nicht.«

Rosie hätte gern ihre Arme um ihn geschlungen, um ihn dann ganz aus dem Haus zu zerren. Doch sie hielt sich zurück. »Du machst einen halb erfrorenen und halb verhungerten Eindruck. Das ist nicht die beste Art, wieder zu Kräften zu kommen. Warum kommst du nicht nach Hause in die Wärme? Du kannst Lawrence doch jederzeit sehen.«

Sein Gesicht verschloss sich. Er wollte ihr nicht in die Augen schauen. »Du magst zwar denken, ich sei noch immer dreizehn, Rosie, aber ich bin erwachsen. Wenn ich hierbleiben will, dann bleibe ich auch. Bitte versteh das. Ich möchte doch nichts weiter als meine Ruhe, damit ich die Dinge klarer sehe.«

»Für wie lang?«

»So lange es dauert!«

Sie zog sich zurück. Wenn sie mehr sagte, würde das Gespräch in Flehen und Türschlagen enden. »Versprich mir, dass du, wenn du dich nicht wohlfühlst, Lawrence dazu bringst, einen Arzt und auch uns anzurufen.«

»Das verspreche ich. Mir geht es gut.«

»Ich sollte dir wohl besser was zum Anziehen bringen. Gibt es noch was, was du gerne hättest? Deine Gitarre?«

Er sah sie verdutzt an. »Würde es dir was ausmachen?« Er senkte seine Stimme. »Wenn ich selbst käme, würde Mum mich bedrängen, doch zu bleiben, und das würde ich nicht ertragen.«

»Weißt du, wenn du wie ein Erwachsener behandelt werden möchtest, dann wirst du dich irgendwann auch solchen Problemen stellen müssen«, erwiderte sie trocken.

»Ja.« Er senkte den Kopf und seine Haare rutschten nach vorne. »Gib mir ein paar Tage, Ro. Mir geht es wirklich gut. Ich werde nach Hause kommen, wenn ich dazu bereit bin. Halt bitte Mum und Dad von mir fern, okay? Es tut mir leid.« Er hob eine Hand und winkte matt, ehe er die Tür schloss. Sie hörte, wie drinnen die Riegel vorgeschoben wurden. Sie ging zu ihrer Familie.

»Ihr habt wohl alle mitgehört?« Sie nickten. Jessica war bleich. »Er hat recht, wir können ihn nicht zwingen. Lasst uns nach Hause gehen.« Was ist Liebe überhaupt?, las Rosie in Faiths Tagebuch. Ich weiß, dass Rosie Alastair nicht liebt. Er liebt sie schon, wie ich glaube, aber es ist nicht das, was sie sich erhofft hat. Doch sie lässt sich treiben, als könne sie nicht mehr erwarten, und macht das Beste daraus. Ich liebe Matthew, aber er liebt mich nicht. Alles ist genau so, wie ich es mir immer erträumt habe, bis auf diese kleine Tatsache, dass er mich nicht liebt, und das ist, als würde man jeden Tag auf humpelnden Beinen gehen und dazu noch eine Hand auf den Rücken gebunden haben. Es schmerzt so sehr, dass man sich gar nicht richtig bewegen kann, aber man muss den Schein wahren. Heather hingegen – sie ist Liebe.

Ich frage mich, ob meine Eltern sich geliebt haben. Nein, ihre Seelen waren tot. Sie waren Halb-Elfenwesen, wussten es aber nicht. Und sie tauchten in die Schattenreiche, sogar in Dumannios, ein und verwandelten sich in schuppige Dämonen und bekämpften einander, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein! Wie ist das möglich? Hätten sie womöglich richtige Elfenwesen werden können, wenn sie sich nicht in der Menschenwelt verloren und ihre Seelen durch Suff und Bitterkeit abgetötet hätten? Wenn ich an sie denke, möchte ich am liebsten nur noch weinen. Ich möchte nicht, dass Matthew und ich so werden, aber ich sehe es kommen.

Rosie blätterte zurück zu einem früheren Eintrag.

Heute Abend bin ich glücklich davongekommen. M. kam herein, während ich Heather badete. Der Schaum war fast verschwunden und sie war grün im Wasser, blassgrün schimmernd wie ein Schmetterlingsflügel. Plötzlich tauchte er auf und ich dachte, er muss sie sehen – sie saß direkt vor ihm. Ich bekam Panik und warf ein Handtuch auf sie, doch ich war so ungeschickt, dass es auf ihrem Kopf landete. Er starrte mich an und sagte: »Was um Himmels willen machst du da?«, und ich sagte: »Sie hat Seife in den Augen«, und konnte es nicht fassen, dass er nichts gesehen hatte, denn ihr Bauch war gut zu sehen – aber er bemerkte nichts. Er schüttelte nur den Kopf und ging hinaus. Und danach war ich wütend, weil sie so schön ist und er das gar nicht sehen und ich es nicht mit ihm teilen kann. Und Heather fragte ständig, warum ich weinte.

Rosie biss sich auf den Daumen. Faiths Traurigkeit tränkte jede Zeile. Sie las die Einträge voller Schuldgefühle, konnte aber nicht aufhören. Hatte heute ein gutes Gespräch mit Jessica, lautete ein typischer Eintrag. Sie ist so lieb. Wenn sie nicht wäre, würde ich vielleicht einfach gehen.

Was bedeutet es, dass ich kein Menschenwesen bin? Ich glaubte menschlich zu empfinden, aber vielleicht ist dem gar nicht so, weil ich gar nichts anderes kenne. Festzustellen, dass man ein Elfenwesen ist, sollte mit keinerlei Scham verbunden sein und man sollte es nicht vor dem einen Menschen verbergen müssen, der es verstehen müsste. Doch unabhängig von M. – was bedeutet es für mich? Ich sehe Bilder von silberblauen Seen, die kein Ende nehmen, ich schwimme und schwimme darin. Es gibt prächtige Unterwasserhöhlen. Wenn ich am fernen Ufer aus dem Wasser steige, sehe ich – oh, es ist so klar –

Die Küchentür ging auf. Rosie blickte vom Tagebuch auf und sah ihre untröstliche Mutter vor sich. Sie trug ihre kakifarbene Wanderjacke, das Haar war von Wind und Regen zerzaust. »Mum?«, fragte sie, obwohl es sich eigentlich erübrigte. »Was ist los?«

Jessica bewegte sich und streifte ihre feuchte Jacke ab. »Ich war oben vor Stonegate.«

»O Mum.« Rosie hängte das Kleidungsstück über einen Stuhl und umarmte sie. Es tat weh, die Schatten unter ihren Augen zu sehen. »Wir haben doch darüber gesprochen.«

»Ich habe nicht versucht Luc zu sehen«, erwiderte Jessica steif. »Ich ging zu Freias Krone. Ich wollte dorthin, um Faith zu suchen. Um zu sehen, ob es ihr gut geht, und um sie zurückzuholen. Aber das Lych-Tor ist geschlossen.« Sie hielt ein offenes Armband aus Weißgold und Albinit in der Hand, der schwach violett auf ihre Berührung reagierte. »Ich habe nach dem grünen Aufblitzen gesucht, das auf ein offenes Portal hinweist. Nichts.«

»O mein Gott. Du hättest nicht allein dorthin gehen dürfen!«

»Nun, jetzt ist es zu spät. Wo das Lych-Tor war, sieht man jetzt silberne Sprenkel, aber es ist wieder fest geschlossen.«

»Oh!« Rosie lehnte sich mit verschränkten Armen am Tisch an. »Kann es sich denn ohne Hilfe von außen wieder schließen?«

»Nein. Entweder hat Lawrence es getan oder er hat Luc gezwungen, es zu tun. Faith sitzt in der Falle. Ich vermisse sie so sehr.«

»Mir geht es genauso«, sagte Rosie. Und dabei beschlich sie Angst, ein Gefühl, das sie bisher zu unterdrücken versucht hatte, weil sie schon genug Probleme hatte. Faith unerreichbar – das war undenkbar, aber was kümmerte das Lawrence? Ein düsterer, erboster Zug lag auf Jessicas Gesicht – so hatte Rosie sie noch nicht erlebt. »Meine größte Angst war immer die, dass Lawrence Lucas in seine Finger kriegen würde, und jetzt hat er ihn. Fast bin ich geneigt zu glauben, dass Phyll und Comyn recht haben. Uns bleibt keine andere Wahl, wir müssen Lawrence zu Fall bringen.«

Rosie stand vor der Alten Eiche und schaute hinauf in ihre kahlen Zweige. Der Winter verabschiedete sich, Schneeglöckchen blühten und Narzissen schoben ihre Blätter aus der Erde. Es war das erste Mal, dass sie es über sich brachte, diesen Ort zu besuchen. Die Trümmer waren längst weggeräumt, aber noch immer sah man die Reifenspuren, die auf den Unfall hinwiesen, sowie frische Stümpfe, die dort, wo man die geknickten Äste amputiert hatte, weiß leuchteten. Glassplitter glänzten im Asphalt.

Leute hatten dort Blumen niedergelegt. Die meisten stammten von Kollegen von Fox Homes. Und mehr als alles andere versetzte dieser Blumenschrein ihr einen Schock. Nie hätte sie gedacht, dass dieser Schauplatz ihr so zusetzen würde, doch die in ihr aufsteigende Hitze war so fürchterlich, dass sie kaum noch Luft bekam.

Sie fragte sich, wo die Dryade wohl sein mochte, die sie so inständig vor dem Blut gewarnt hatte. Kein Wispern war von ihr zu hören. »Grüne Frau?«, rief Rosie sie leise. »Du musst das vorhergesehen haben. Du batest mich, es zu verhindern, aber ich konnte es nicht. Es tut mir leid.« Nichts rührte sich. Der Baum sah verlassen aus.

Als der Frühling kam, machte Rosie sich daran, einen Garten anzulegen. Sie hatte schon vor einiger Zeit damit begonnen, und zwar in dem verwahrlosten Rosengarten, der an der Grenze von Oakholme und Stonegate lag – dem Ort, wo sie vor Jahren Matthew gefunden hatte, nachdem dieser mit Sam gekämpft hatte. Aber sie hatte sich nicht entschließen können, welche Form sie dem Garten geben sollte, doch jetzt stand es fest. Rastlos machte sie sich an die Arbeit. Obwohl sie tagsüber für Fox Homes schuftete, verwandte sie die noch verbleibenden Tageslichtstunden darauf, diesen besonderen, geheimen Ort zu gestalten.

Sie entwarf einen Pfad, der die Form einer sich nach innen drehenden Spirale hatte, und wählte als Oberflächenbelag silbrigen Schiefersplitt. Die Biegungen wurden von granitumrandeten Beeten abgegrenzt, die sie mit silbernem Blattwerk und schwarz blühenden Blumen bepflanzte: Tulpen, Stiefmütterchen, Iris, Hyazinthe – alles, was sie an Pflanzen mit fast schwarzen Blütenblättern finden konnte. Vor dem Silber hoben sie sich ab wie gewachstes Ebenholz mit einem leichten Stich Violett.

Zur Mitte hin senkte sich ihr Garten ein wenig, sodass man nach unten gezogen wurde, wenn man der Spirale folgte. Ins Zentrum stellte sie ein Ei aus schwarz-grau poliertem Marmor, gute sechzig Zentimeter hoch. Es war so schwer, dass sie Sams Hilfe benötigte, um es in Position zu bringen. Er hatte die vergangenen Wochen bei Collegefreunden in Ashvale gewohnt und sie in Oakholme, aber sie sahen einander täglich. Oftmals blieb sie bei ihm, doch das Thema gemeinsame Zukunft behandelten sie nach wie vor mit Vorsicht. Vor ihrer Familie spielten sie ihre Beziehung herunter und wahrten taktvoll den Anstand. Doch sorgte genau dies dafür, dass sich die Intensität ihrer Beziehung vertiefte und die Flamme heller loderte denn je.

»Worum geht es hier eigentlich?«, fragte er.

»Ich habe den Ehrgeiz, für die Chelsea-Blumenschau einen Garten zu entwerfen«, antwortete sie. »Das hier ist mein Probestück.«

»Eine Spirale«, sagte Sam. »Gefällt mir. Monochrom. Sehr zeitgemäß.«

»Ihr Geheimnis jedoch, das man erst im Gehen erkennt, dass der Pfad dort, wo er das Ei erreicht, sich um sich selbst dreht und einen dann wieder herausführt. Wie Tod und Wiedergeburt.«

»Ein Garten, der von der Anderswelt erzählt«, sagte Sam lächelnd. »Ich hab’s kapiert.«

»Ja. Ein Garten, der von der Spirale erzählt.«

Er sah sie offen an. »Andere Leute schreiben Gedichte oder malen Bilder. Meine Foxy drückt sich in einem Medium aus, das Felsen erfordert, die einem das Kreuz brechen.«

»Gott sei Dank habe ich dich zur Massage meiner angespannten Muskeln.« Sie drückte sich an ihn und schlang ihre Arme um seine Taille. Es gab nichts Süßeres als das strahlende Glück, einander in den Armen zu halten, ohne dass Gefängniswärter sie davon abhielten.

»Komm mit mir, Rosie, wir gehen weg«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Das würde ich gern, Sam, aber ich kann nicht, noch nicht.« Sie grub ihre Fingernägel in seine Rippen. »Wie kannst du jetzt nur daran denken?«

»Ganz einfach. Ich würde mit Freuden einfach gehen und sie allesamt zurücklassen. Wenn wir so lange warten, bis sie alle ihr Leben wieder geordnet haben, können wir bis in alle Ewigkeit warten!« Seufzend legte er seine Wange auf ihr Haar. »Findest du wirklich, dass wir bis zum bitteren Ende hierbleiben müssen?«

Was ist Liebe überhaupt?, fragte Faith in ihrem Tagebuch. Über dieser Frage brütete Rosie auf dem Marmorei im Zentrum der Spirale. Die Abende wurden länger und die tief stehende Sonne tauchte sie in ihr goldenes Licht. Endlich kam sie der Antwort näher. Liebe hatte nicht nur eine Gestalt. Sie hatte viele Gesichter, viele Stimmungen. Und es ging dabei nicht darum, sich von Jons hübschem Gesicht und seinen wehenden Haaren betören zu lassen, so viel stand fest.

Sie war allein und las wieder im Tagebuch, wobei sie nur hoffen konnte, dass ihre Freundin es ihr verzeihen würde. Immer deutlicher wurde Rosie bewusst, dass sie Faith überhaupt nicht gekannt hatte.

Matt hält mich für ein Mäuschen. Selbst Rosie tut das, wenn auch für eins, das man lieben und beschützen muss. Sie denken, ich sei traurig und zerbrechlich. Und dass Kochen, Putzen und Bemuttern mein Lebensinhalt sind. Wenn sie wüssten, woran ich wirklich denke, hielten sie mich für verrückt.

Rosie hörte das Knirschen von Schritten hinter sich – jemand nahm frecherweise eine Abkürzung durch die Beete. »Das ist wunderschön«, sagte Auberon. »Etwas ganz Ausgefallenes. Ich habe versucht mich zurückzuhalten, während du daran gearbeitet hast.«

»Es freut mich, dass es dir gefällt. Eigentlich solltest du außen herumgeben, aber ich sehe es dir nach.«

»Eine Spirale zu gehen, ist wie das Betreten eines magischen Pfads«, sagte Auberon trocken. »Man beschwört damit die Anderswelt herauf. Aber das weißt du vermutlich, sonst hättest du ihn nicht so angelegt.«

»In diesem Fall muss der Sprung über die Blumenbeete als Provokation des Spiral Court verstanden werden«, konterte sie. »Es gibt keinen Damm, der hätte die Linienführung gestört.«

»Genau.« Er hockte sich auf einen kleinen Granitstein und legte seine Unterarme auf den Knien ab. »Es ist sehr friedlich hier. Wie in einem Zen-Garten.«

Rosie schlug das Tagebuch auf und sagte: »Hör dir das an, Dad.«

Ich sehe eine Stadt aus glänzendem schwarzem Stein, der in allen Edelsteinfarben schillert: Purpurrot, Kardinalsviolett und Blau. Ich sehe labyrinthische Passagen und Räume, in denen man sich Tage und Monate verlieren kann.

Luftige Säulen. Balkone in einer kristallklaren Nacht voller Sterne, große weiße Galaxien, die an Blumen erinnern. Statuen von Flügelmännern, die mit zeitlosen Augen herabschauen. Ich möchte auf diesen Balkonen stehen und den Windhauch schmecken und die Sterne singen hören und im Mondlicht baden. Es wird dort Planeten geben, die von Ringen umgeben sind, und darunter bewegen sich sanft die Spitzen fedriger Bäume. Ein unentdecktes Land voller Flüsse, Birken in Frühlingsgrün, dazu Eiche und Hasel – und deren Elementarwächter, schlanke birkenweiße Damen mit weichem haselnussbraunem Haar – und bemooste Ufer, die ins Wasser abfallen.

Und durch diese Zitadelle wandern anmutige Männer und Frauen mit hübschen lang gestreckten Gesichtern und ruhigen, wissenden Augen – die schalkhaft aufblitzen – und sie sind perfekt und wissen es, und sie sind nicht perfekt und wissen es auch. Sie haben zu viel gesehen. Sie tragen vielleicht Kleider wie auf mittelalterlichen Wandbehängen oder Jeans und T-Shirts, aber niemals würde man sie fälschlicherweise für Menschen halten. Es gibt so viel mehr als Schönheit. Sieh sie dir einmal an und du kannst dich nicht mehr losreißen. Das sind die Elfenwesen in der ältesten Stadt, in Tyrynaia.

Sie haben Tausende von Jahren an dieser Zitadelle gebaut und sie wird nie fertig sein. Sie erstreckt sich nach oben und nach außen und nach unten in den Fels hinein. Es ist der Sitz ihrer Macht. Ihr Zuhause.

Gelegentlich nehmen sie die Namen von Göttern an.

Und manchmal sind sie heldenhaft und helfen der Welt.

Und manchmal sind sie boshaft und stellen sie auf den Kopf.

Einige könnten auch Vampire sein. Das ist schwer zu sagen.

In den tiefsten Tiefen der Zitadelle hängt über einem unterirdischen See eine Felsendecke und hier ist Persephones Kammer. Sie heißt jene willkommen, deren Seele vor Verzweiflung wund ist, und jene, die Trost, Ruhe und Schlaf suchen, und kümmert sich um sie. Hier brauchen sie nichts zu sagen, es reicht, sich auf den schwarzen Marmorrand zu setzen und die Füße auf das dicke Glas zu stellen, um den See und die leuchtenden Fische darunter zu betrachten, der ein Spiegelbild des weit entfernten Himmels darüber zu sein scheint. Wenn du dich verzweifelt niederlegst, wird sich Persephone zu dir legen.

Rosie hielt inne. »Findest du es nicht unglaublich, dass Faith etwas Derartiges schreiben konnte?«, sagte sie.

Auberon meinte kopfschüttelnd: »Die Frage lautet vielmehr, wie sie davon wissen konnte.«

»Spricht sie von etwas Realem?«

»Es heißt, es gäbe Städte, Tyrynaia und Celadon … Was wären die alten Elfenwesen, die Estalyr ohne eine sagenhafte Stadt?« Er schaute nach unten und tippte nachdenklich mit seinem Fuß.

»Ist alles okay mit dir, Dad?«

»Nein, nicht wirklich. Ich denke über mein Versagen nach. Immer habe ich versucht die Vaterfigur zu sein, die jedermanns Probleme löst. Dann stößt man auf etwas, das man einfach nicht richtig hinbekommt, und muss sich eingestehen, dass man ein genauso hoffnungsloser Fall ist wie alle anderen.«

»Du bist die am wenigsten hoffnungslose Person, die ich kenne, Dad, ganz ehrlich.«

»Ach, das ist alles nur gespielt. Seit Jahren habe ich vermutet, dass Matthew Probleme hat, aber weil er nicht um Hilfe gebeten hat, dachte ich, er käme klar damit. Und jetzt, da ich endlich zum Kern des Problems vorgestoßen bin – merke ich, dass ich ihm gar nicht helfen kann. Keiner kann das. Ich bin schließlich nicht allmächtig. Nicht dass ich mir das je eingebildet habe, aber du weißt schon, man versucht die Illusion aufrechtzuerhalten.«

Sie lächelte. »Für mich und Luc warst du immer der König von Elfland.«

»Ich glaubte Lawrence zähmen zu können, aber nein. Konnte nicht mal Jess auf Dauer glücklich machen. Ich habe mich von der Arbeit in Beschlag nehmen lassen und war viel zu sehr damit beschäftigt, mein kleines Imperium aufzubauen, als daran zu denken, dass sie den Geist eines wilden Elfenwesens in sich trägt und, kaum bin ich weg, mit jemandem wie Lawrence in den Wald abhaut.«

»Sie kam zurück.«

»Ja, das tat sie. Und sang danach keine einzige Note mehr, als wollte sie sagen: Sieh nur, ich habe mir selbst die Flügel gestutzt. Das habe ich nie gewollt. Um nichts auf der Welt hätte ich ohne Lucas sein wollen. Sie hat keine Veranlassung, sich zu bestrafen.«

»Aber du ebenso wenig. Wir brauchen unseren Vater, keinen Superman.«

Auberon lachte leise. Er beugte sich vor und stützte seine Hände auf seinen Schenkeln ab. »Als Lawrence damals die Tore verriegelte, hat mich das erschreckt und bestürzt, wie man das von einem Vollblutelfenwesen erwarten kann. Ein Teil von mir war jedoch auch froh. Ich liebe die Erde, Rosie. Hier bin ich tief verwurzelt. Und diese schuldbewusste Seite von mir dachte, dass meine Frau und meine Kinder, solange Elysium unerreichbar war, dessen Sog nicht spüren und auch nicht in der Wildnis der Spirale verschwinden würden. Das erklärt zum Teil, warum ich Lawrence nicht allzu heftig bekämpft habe.«

»Zum Teil?« Rosie beobachtete ihren Vater sehr genau. Seine Augen unter den gesenkten Lidern waren dunkel, kleine Schweißperlen saßen in den schwarzen Locken seines Barts. Sie hielt den Atem an, als könnte auch nur der leiseste Hauch sein Geständnis scheitern lassen.

»Die Initiation eines jungen Elfenwesen kann eine Tortur sein. Und deshalb ging ich davon aus, dass ich mir, solange die Tore geschlossen blieben, niemals Sorgen machen müsste, meine Kinder dem ausgesetzt zu sehen.«

»Das wissen wir, Dad.«

Er lachte resigniert. »Euch zu sehr zu beschützen war falsch, aber ich habe erlebt, wie brutal das sein kann. Lawrence … obwohl in Sibeyla geboren, wurde von seiner Großmutter in ganz jungen Jahren auf die Erde gebracht, weshalb er von den Aelyr bei seiner Rückkehr nach Elysium wie ein Vaethyr behandelt und deshalb initiiert und gebrandmarkt wurde. Es ist die kleine Rache an denen, die die Dreistigkeit besaßen, wegzugehen. Sein Vater Albin hat ihm sein Verschwinden offenbar besonders schwer verübelt. Als meine Initiation anstand, hätte Lawrence eigentlich nicht mitkommen müssen, aber er tat es, weil wir Freunde waren.«

»Ist etwas Schlimmes passiert?«

»Das ist es ja, man kann es nicht vorhersagen. Als ich dran war, ja, es hat wehgetan, und ja, es war furchterregend, aber ich habe es überlebt, wie man sieht. Was Lawrence hingegen sah, trieb ihn in den Wahnsinn.«

»Was war das?«

»Ich glaube nicht, dass er es erklären könnte, nicht mal sich selbst. Er wurde mit dem konfrontiert, was ihn schon immer heimgesucht hat, was es auch sein mag. Ich erwachte aus meiner eigenen Trance auf den Wiesen von Elysium und sah ihn. Wir waren allein – die Initiierten werden, wie du weißt, sich selbst überlassen – und er war ein Stück vor mir, rannte blind umher und zerrte dabei an seiner Haut. Ich rannte ihm nach. Am Rande einer Schlucht blieb er stehen und ich schrie, aber er hörte mich nicht. Dann stürzte er sich hinab.

»Als ich ihn erreichte, war er acht Meter tief hinabgestürzt und auf einem Felsen am Rande eines Flusses gelandet. Überall war Blut. Er lag bewusstlos im Wasser. Ich kletterte also hinunter und zog ihn heraus, unternahm Wiederbelebungsversuche und stoppte den Blutfluss aus seiner Seite und wartete, bis er wieder zu sich kam.«

»Du hast ihm das Leben gerettet.«

Auberon seufzte. »Wenigstens dieses eine. Und er war völlig durcheinander. Er fantasierte von einem Schattenungeheuer und sagte, er könne damit nicht leben, warum ich ihn nicht hätte sterben lassen. Was sollte ich dazu sagen? Ich versicherte ihm, dass es nur eine Vision sei – aber Initiationsvisionen können verzerrte Bilder der Wirklichkeit sein, wie wir nur zu gut wissen. Jedenfalls kam er wieder auf die Beine und wir kehrten zurück und verloren nie wieder ein Wort darüber.«

»Ah«, Rosie stieß die angehaltene Luft aus. »Dann hat er dir also nie verziehen, dass du ihm das Leben gerettet hast?«

»Genau.« Auberon lächelte bitter. »Ich konnte ihn weder zur Rede stellen noch ihn hassen – nicht, als Comyn mich bedrängte, nicht einmal damals wegen Jessica – und all das aus diesem Grund. Ich hatte ihn gerettet. Dadurch bekam sein Leben für immer einen besonderen Wert für mich, weshalb ich auch, egal was er mir antat, niemals Vergeltung üben konnte. Als wäre ich durch diese Tat für immer zu seinem Beschützer geworden.«

»Warum hast du uns das nicht schon früher erzählt?«

»Ach, das war immer etwas ganz Persönliches, Privates. Abgesehen von Jess habe ich nie mit jemandem darüber gesprochen. Schon gar nicht mit Lawrence, obwohl es immer zwischen uns stand. Comyn beschuldigt mich, zu sehr der Erde zugetan zu sein, und er hat recht.«

»Ich mache dir das nicht zum Vorwurf. Ich liebe dich dafür.«

»Ich habe insgeheim darauf hingewirkt, euch von eurem Erbe fernzuhalten, weil ich es nicht schaffte, über den beschützenden Vater hinauszuwachsen und euch als unabhängige Erwachsene zu behandeln.«

»Und trotz all deiner Mühe, es zu verhindern, sind wir dennoch zur Strecke gebracht und gebrandmarkt worden. Und Lucas ist es sogar passiert, noch ehe er das Lych-Tor öffnete. Wir haben überlebt.«

Auberon hob seine Hände. »Und alles, was die besitzergreifenden alten Käuze planen und sich ausdenken, ist letztendlich doch völlig nutzlos.«

»Kauz? Du?«, stöhnte Rosie. »Das merk ich mir, damit ich dich damit aufziehen kann. Aber falls Lawrence gestorben wäre … Wenn Luc … Du weißt, was ich dich fragen will.«

»Es heißt, wir können ewig weiterleben, in der einen oder anderen Form. Doch aus dem Abyssus gibt es kein Zurück, sagt man – aber selbst diesbezüglich können wir uns nicht sicher sein, denn er ist ja zugleich der Ursprung. Beim Spiegelteich hingegen geht es darum, die Wandlung zu akzeptieren. Elysium vermag zwar den physikalischen Leib zu heilen, aber wenn das versagt, fallen wir auf Jahre oder Jahrhunderte in einen Elementarzustand zurück. Das ist schwer, wenn es jemanden trifft, der einem nahesteht, denn es ist, als würde man einen Geist berühren; man muss akzeptieren, dass es sich nicht mehr um dieselbe Person handelt, sondern diese sich in einem Übergangsstadium befindet.«

»Wie die Grüne Frau in der Alten Eiche.«

Auberon sagte darauf leise: »Mir war nicht klar, dass du sie kanntest.«

»Sie kam jedes Mal herausgesprungen und hat mich immer mit ihren Warnungen vor einem Zusammenstoß erschreckt, die ich jedoch nicht verstand, bis es zu spät war. Aber sie war auch freundlich. Sie war seltsam und wunderbar. Und jetzt ist sie verschwunden.«

Auberon stieß einen tiefen Seufzer aus und sein Gesichtsausdruck war so düster, dass sie überlegte, was sie Schlimmes gesagt hatte. »Rosie, die Grüne Frau – als sie menschliche Gestalt hatte – da war sie meine Großmutter. Ich bin mir ganz sicher, dass sie dich als ihre Enkelin erkannt hat. Und dass sie sich auf die den Elementarwesen mögliche, wenn auch eingeschränkte Weise um dich Sorgen gemacht hat.«

Nach einer Weile, als Rosie diese Informationen einigermaßen verdaut hatte, sagte sie: »Und was nun? Lawrence kann Lucas nicht auf ewig auf Stonegate festhalten. Man hat das Gefühl, als hielte die Welt den Atem an.«

Sie spürte die Hand ihres Vaters auf ihrer Schulter. »Ich habe auch deswegen nicht mit Lawrence um die Öffnung der Tore gekämpft, weil ich immer gespürt habe, dass er recht hat. Er hat uns vor der Zerstörung bewahrt.«

»Luc und ich haben etwas im Abgrund gesehen«, erzählte Rosie im Flüsterton. Bei der Erinnerung daran erschauderte sie. »Es sah aus wie eine Kolossalstatue, aber es war mehr – wie ein lebendes Wesen, das versteinert oder zu schwarzem Eis gefroren war. Ich weiß nicht. Aber ich erinnere mich, dass ich mir gesagt habe, es hält nur deshalb still, weil Lawrence wachsam ist. Und es richtete seinen Blick auf Lucas. Drehte seinen Kopf und starrte ihn direkt an.«

»Unsere Vorstellungskraft spiegelt uns in der Spirale solide Wahrheiten vor.« Auberon schnaufte. »Wie nutzlos waren all meine Pläne, euch davor zu bewahren. Wenn Lawrence nun Lucas lehrt, ebenso wachsam zu sein … dann ist das zwar verständlich … aber was ist das für ein Leben für Luc? Ich würde es keinem wünschen. Es muss ein Ende haben, Rosie, aber ich weiß nicht wie.«

An den weißen Wänden des Bauernhauses rankten Efeu und Wein. Hinter dem Haus stand eine lang gestreckte moderne Scheune, die eher an eine Fabrik erinnerte, aber vom Haus aus hatte man einen prächtigen Blick auf die Felder, die sich bis hinunter ins Tal von Cloudcroft erstreckten und dann auf der anderen Teilseite wieder bis zu den High Warrens anstiegen. Seitlich des Hauses bedeckte stinkender grüner Matsch den Hof, der sich in Sams Stiefeln festsetzte, als er näher kam.

Er versuchte gerade das Gröbste mit dem Stiefelkratzer zu entfernen, als Dr. Meadowcroft – Rosies Tante würde für ihn niemals Phyll werden – die Tür aufmachte. »Jon ist in der Küche«, sagte sie schroff. »Er ist mit Abwaschen dran, damit er sich wenigstens ein bisschen einbringt.« Dabei lächelte sie ihr förmlich-freundliches Lächeln. »Ich lass dich mit ihm allein.«

Jon lehnte an der großen, langen Spüle und trocknete lethargisch Teller mit einem rot-weiß karierten Geschirrtuch ab. Er trug seinen üblichen verlotterten Look, Bein und Handgelenk waren von ihren Verbänden befreit. Sam sah sich um. Der Raum war groß, nichtssagend und heruntergekommen, und es roch erdig nach Tieren und feuchten Mänteln. An einem Deckengestell hingen Kochtöpfe. Dieser Ort strahlte eine Zuversicht aus, die sentimentale Gefühle in ihm auslöste.

»Was steht an?«, fragte Sam.

Sein Bruder zuckte zusammen wie ein aufgescheuchtes Reh. »Nichts.«

»Auch gut.« Sam zog die Brauen hoch. »Das sollte keine Anklage sein. Ich frage mich nur, wie lange du noch vorhast, dich hier zu verstecken.«

Jon seufzte und warf sich das Abtrockentuch über die Schulter. »Wo soll ich denn sonst hin, ich habe doch nichts.«

»Wo ist die böse Stiefmutter?«

»Ausgegangen. Sie ist essen mit Freunden, damit sie über Vater herziehen kann.«

»Es erstaunt mich, dass sie noch immer hier ist.« Sam federte sich ab und setzte sich auf die Küchentheke.

»Vermutlich wartet sie, bis sie herausgefunden hat, ob sie nicht doch noch was aus ihm herausholen kann. Sie hat sich einen Anwalt genommen … ich bin mir sicher, dass sie ihn vögelt.«

»Eifersüchtig?«, fragte Sam matt.

»Wohl kaum«, erwiderte Jon angewidert. »Ich habe dir doch gesagt, es ist vorbei. Ich wünschte bei Gott, es wäre nie passiert. Unsere Zimmer liegen am jeweils anderen Ende des Hauses – ich zeig’s dir, wenn du mir nicht glaubst!«

»Ist ja gut, nun raste doch nicht gleich aus. Ich glaube dir. Wusstest du, dass Lucas auf Stonegate ist?«

»Hm. Jon begann plötzlich ganz geschäftig damit, das Besteck zu verräumen. »Ja, hab ich gehört.«

»Hast du ihn gesprochen?«

»Nein. Er kann mich ja anrufen, wenn er will.«

»Bist du eigentlich gar nicht neugierig zu erfahren, was er dort macht?«

»Nein«, sagte Jon schmallippig. »Der soll sich gefälligst ins Knie ficken.«

»Das wird er sicher tun«, erwiderte Sam. »Was anderes kann man auf Stonegate gar nicht machen.«

Schweigen. Dann fragte Jon: »Und was ist mit dir? Vögelst du noch immer mit Rosie?«

Sam antwortete mit einem breiten Lächeln. »Ja, danke der Nachfrage.«

»Ich finde das unfassbar. Ich bin davon ausgegangen, dass ihre Eltern dich mit vorgehaltener Waffe aus der Stadt vertreiben. Und ich dachte, du und ich, wir würden gemeinsam abhauen.«

»Ihre Eltern mögen mich.«

Jon lachte. »Hast du sie hypnotisiert?«

»Sagen wir mal so, ich bin zur Bewährung dort.«

»Das freut mich für dich. Du hast dein Leben jetzt im Griff.«

»Das könntest du genauso haben, wenn du dir darüber mal Gedanken machen würdest. Dazu ist keine verdammte Quantenphysik erforderlich.«

»Denkst du etwa, das ist leicht? Unsere Mutter konnte gar nicht schnell genug das Weite suchen, Vater hasst mich, mein bester Freund wendet sich gegen mich, ein durchgeknallter eifersüchtiger Ehemann versucht mich umzubringen – ich dachte, dass wenigstens Sapphire was an mir liegt, bis mir klar wurde, dass ich nur so lange nützlich war, wie sie Lawrence mit mir quälen konnte. Und doch ist das alles, was mir geblieben ist – sie.«

»Du hast auch noch mich.« Sams Ton war eher spitz als einfühlsam. »Aber du lässt mich ja nicht an dich ran. Hast du schon mal mit Vater gesprochen, seitdem du weggegangen bist?«

Jon sah ihn finster an. »Nein. Was soll ich ihm denn sagen? ›Hoppla, tut mir leid wegen der unaussprechlichen Dinge mit meiner Stiefmutter – mir wird schon bei der bloßen Erinnerung daran schlecht, falls dich das tröstet.‹ Ich kann nie wieder mit ihm sprechen, Sam. Ich kann nie mehr etwas sein oder tun, solange Lawrence wie ein toter Geier über mir schwebt.«

Jons gequälter Ton schockierte Sam. »Sprich nicht so von ihm. Ich glaube, er ist krank.«

»Er ist nicht krank. Er ist einfach nur böse.«

»Nein. Ich denke – wenn er von Mum wüsste – würde er Vernunft annehmen.«

Jon warf die Messer kraftvoll in die Schublade. »Die einzige Möglichkeit, unsere Mutter wiederzusehen, ist die, Lucas aus dem Dunstkreis von Lawrence zu entfernen und ihn dazu zu bringen, die Tore wieder zu öffnen.«

Sam stöhnte. »Und wie? Willst du mit einer Handgranate reinplatzen? Sei doch nicht albern. Du wirst gar nichts tun, Jon; du tust nie was. Du bist einfach nur wütend. Wir müssen Geduld haben, bis Lawrence nachgibt und zu reden beginnt. Verdammt, ich rede schon wie Auberon.«

»Du bist noch immer auf Vaters Seite, nicht wahr?«

»Es gibt keine Seiten.« Manchmal, überlegte Sam, war die Versuchung, Jon links und rechts eine runterzuhauen, einfach zu verlockend. »Ich bin auch ziemlich wütend auf ihn, würde ihn aber, sollte ihn jemand angreifen, dennoch mit meinem Leben verteidigen.«

Jon schloss die Augen. Um seinen Mund lag ein bitterer Zug, doch seine Körperhaltung strahlte Unbeugsamkeit aus. »Auberon hat nie einen Finger gerührt, um den Vaethyr zu helfen. Wenigstens hat Comyn das Herz am rechten Fleck, auch wenn er immer mit der Tür ins Haus fällt.«

»Wie dem auch sei, ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht«, sagte Sam und sprang von der Arbeitstheke. »Ich gehe jetzt. Und du wirst also noch eine Weile hierbleiben?«

»Sieht ganz danach aus.« Jon schüttelte sein Haar zurück und lächelte herausfordernd. »Grüß Rosie von mir.«

»Mach ich.« Sam schürzte seine Lippen. »Ist dir eigentlich klar, dass ich dich noch nie so viel habe arbeiten sehen wie heute? Pass ja auf, sonst jagt Comyn dich noch raus zum Kühefüttern und Mistschaufeln.«

Sapphire gefiel es im Bauernhaus. Sie wusste dessen solide Ehrbarkeit zu schätzen. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, Stonegates Atmosphäre mit neuen Einbauten und Deko-Objekten wohnlicher zu gestalten, aber nichts hatte funktioniert. Immer wieder setzte sich seine frostige, trostlose Atmosphäre durch, wie ein Fleck, der sich nicht übertünchen ließ. Mochte Phylls und Comyns Haus auch schlicht sein, so hatte es wenigstens keine Geheimnisse.

Die Freundlichkeit, mit der die beiden sie aufgenommen hatten, hatte ihr Vertrauen in die Natur der Elfenwesen einigermaßen wiederhergestellt. Sie hatten sie aufgenommen, weil Lawrence sie verletzt hatte, sie vertrauten ihr, und das wusste sie zu schätzen. Der Hass auf Lawrence einte sie, aber darin erschöpften sich ihre Gemeinsamkeiten auch schon, wenngleich es ein überraschend starkes und motivierendes Band war.

Jon war beim Abendessen mies gelaunt. Allem Anschein nach hatte Sam ihn besucht, aber Jon erzählte nichts.

Comyn hatte für diesen Abend ein Treffen einberufen. Es wurden unzufriedene Elfenwesen aus allen Landesteilen, ja selbst aus Übersee erwartet. Es sollte spät und im Geheimen stattfinden, wie ein Treffen von Aufständischen in einem Polizeistaat. Kurz bevor sie anfangen wollten, brannte die Glühbirne in der Küche durch. Es schien ein Omen zu sein. Phyllida mache sich auf die erfolglose Suche nach einer Ersatzbirne, wobei sie über die viele Arbeit klagte, die sie und Comyn unentwegt hatten, und ihrem Verdruss Luft machte, dass auch mal ein anderer daran denken könnte, etwas derart Grundlegendes zu besorgen. Während die Besucher eintrudelten, stellte sie eine monströse Öllampe auf den Tisch.

Müssen Elfenwesen denn als Ärzte, Bauern, Baumeister schuften wie die Menschen?, fragte sich Sapphire. Verfügten sie nicht über das Charisma und den Reichtum, andere für sich schuften zu lassen? Warum machten sie es? Selbst Lawrence, der ein ganzes Team von Angestellten beschäftigte, war nur dann richtig glücklich, wenn er sich in seiner Werkstatt einschließen und mit seinen eigenen Händen Edelsteine schneiden konnte. Ein seltsames Volk.

Bald schon flackerte der Schein der Öllampe über die Gesichter von dreißig Elfenwesen, während die Winkel des Raums im Dunkel blieben. Sapphire fühlte sich fehl am Platz. Sie war das einzige Menschenwesen hier, doch sie hatte ihr Vertrauen gewonnen, weil sie das Gleiche wollte wie sie: Lawrence vernichten. Dieses Wissen gab ihr Selbstvertrauen. In Haltung und Absicht war sie ihnen ebenbürtig, und wo sie das nicht war, konnte sie es gewiss vortäuschen.

Jon, der neben ihr saß, wirkte abgespannt und zitterig. Comyns Augen sprühten Funken. Phyllida zeigte keinerlei Regung, sondern verharrte todernst.

Die anderen kannte Sapphire kaum. An ein paar konnte sie sich noch von der unseligen Weihnachtsparty vor langer Zeit erinnern; sie hatten alle zu der Meute gehört, die Lawrence in die Zange nahm. Die flammenhaarige Peta Lyon und ihre Schwestern, die Tullivers, die Staggs und die anderen. Der Lampenschein lockte den Perlmuttschimmer ihrer Anderswelt-Existenz hervor. Obwohl sie keine Masken trugen, vermochte Sapphire zu ihrem Erstaunen ihre Tierähnlichkeit schwach wahrzunehmen. Eine katzenhaft schräge Augenbraue, ein paradiesvogelartiges Haarbüschel. Etwas von Stonegate, vielleicht die Energie des Albinits, war an ihr hängen geblieben.

Am Tisch saßen sie zu acht, der Rest stand im Dunklen. Auch hinter ihr stand jemand, was sie am Prickeln ihrer Haut spürte.

Comyn faltete die Hände und verharrte einen Moment lang schweigend. Dann sagte er: »Die meisten von euch sind schon von Anfang an auf meiner Seite. Wir heißen Sapphire willkommen, die sich unserer Sache verschrieben und sich somit als wahrhaftigeres Elfenwesen erwiesen hat als einige, deren Namen ich nennen könnte.«

Vor Stolz wurde es Sapphire ganz warm ums Herz, aber sie zeigte es nicht. Das war … eine merkwürdige Form von Verrat. Als plane man den Meuchelmord an Cäsar. »Ihr seid euch hoffentlich alle darüber im Klaren, dass ihr von jetzt an keinen Rückzieher mehr machen könnt. Wir benötigen euer Gelübde, kein Wort jenen gegenüber zu verlieren, denen wir nicht trauen können, womit insbesondere Sam Wilder, sämtliche Mitglieder der Familie Fox und Lawrence selbst gemeint sind. Sollte jemand Einwände erheben, melde er sich jetzt.« Keiner meldete sich. »Es ist ein altes Ritual, das seit Jahrhunderten nicht mehr zur Anwendung gekommen ist. Es wird Lawrence völlig unvorbereitet treffen, doch er wird sich seiner Bedeutung nur allzu bewusst sein. Jeder Vaethyr wird es wissen.«

Phyllida sagte: »Auf der Landwirtschaftsausstellung von Cloudcroft am fünften Mai werden sich viele Hundert Menschen im Dorf versammeln. Der Tanz der Tiere, den Comyn und ich seit Jahren organisieren, wird uns dabei als perfekte Tarnung dienen.«

»Wenn er beginnt, kann er nicht mehr gestoppt werden«, fuhr Comyn fort. »Andere werden mitgerissen werden wie von einer Flut.«

Phyllida ergänzte: »Jeder Vaethyr hier kennt ein Dutzend andere, die, selbst wenn wir aus Sicherheitsgründen den wahren Anlass nicht nennen können, bereit sein werden sich anzuschließen.«

»Lawrence muss sich geschlagen geben«, sagte Comyn. »Ihm bleibt keine andere Wahl. Und Lucas wird wieder in freundlichen Händen sein. Nach Aussage von Jon ist er die Lösung aus dieser Sackgasse.«

Jon schien im Rampenlicht der ihm zuteilwerdenden Aufmerksamkeit blass zu schimmern. Er hatte die Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt. »Es stimmt. Luc ist der neue Torhüter.«

»Und du bist dir sicher, dass du daran teilnehmen möchtest?«, fragte Phyll vorsichtig. »Lawrence ist immer noch dein Vater. Gleich kannst du nicht mehr zurück.«

»Ich bin mir sicher! Ich bin nicht mehr sein Sohn«, sagte Jon mit animalischer Wildheit. Sapphire stellte sie sich allesamt als ein Wolfsrudel vor, das mit mondgelben Augen nur auf seine Beute konzentriert war. Sie zitterte erregt angesichts dieses grausigen Bilds.

Comyn fing für den Bruchteil einer Sekunde ihren Blick auf. »Nun ist der Zeitpunkt für uns gekommen, unsere Gelübde abzulegen.« Er faltete seine wettergegerbten Hände auf dem Tisch. »Jede hier im Raum anwesende Person wird Geheimhaltung und Treue schwören. Kein Sterbenswörtchen zu allen, die sich uns widersetzen könnten. Ihr gelobt Entschlossenheit, das Ritual bis zum bitteren Ende durchzuführen. Jeden, der sein Gelübde verrät, erwartet schmerzliche Bestrafung.«

Phyllida hielt eine hübsche grün glasierte Reisschale und ein Skalpell in Händen. Mit medizinischer Effektivität machte sie die Runde und schnitt jeden in das linke Handgelenk, um dann die Blutstropfen aufzufangen. Sobald das Blut gemischt war, erhob sich Comyn und machte erneut die Runde, indem er seinen Daumen eintauchte und jede Stirn mit einer verschmierten roten Spirale markierte.

Sapphire wurde übel, als sie es geschehen ließ. Das Blut war kalt und klebrig. Sie fragte sich: Macht mich das jetzt zu einer von ihnen? Es gab kein Zurück mehr. Und so irrational es auch war, sie empfand es als einen entsetzlichen Verrat. Wie viel schlimmer es für Jon sein musste, konnte sie sich gar nicht vorstellen.

»Ich werde der Jäger sein«, sagte Comyn. »Wer wird der Gejagte sein?«

»Ich«, sagte Jon.

»Oh – John, mein Lieber, bist du dir da auch sicher?«, platzte es aus Sapphire heraus. Sie hätte nichts sagen dürfen. Natürlich musste es Jon sein.

Er reagierte auf ihre Besorgnis mit mürrisch aufblitzender Wut. »Ja, wer soll es außer mir auch sonst sein?«

»Er ist dein Vater«, erinnerte sie ihn geduldig. »Du wirst das für den Rest deines Lebens mit dir herumtragen.«

»Ja, und so soll es auch sein! Wer soll ihn denn zu Fall bringen, wenn nicht sein eigener Sohn? Es ist die ausgleichende Gerechtigkeit«, sagte er verbittert. »Wer außer mir kann es schon tun?«