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Die Tränen des gefangenen Gottes

Lucas hatte Angst. Um dies zugeben zu können, hatte er Wochen gebraucht. Indem er es zugab, wurde es real.

Lawrence unterrichtete ihn tatsächlich: Lektionen, die ihn den reinsten Schrecken vor den Toren und dem, was dahinter lag, lehrten. Er erklärte Lucas jeden Trick, wie er das Lych-Tor, die halben Tore oder sämtliche Verbindungsportale im Labyrinth öffnen konnte, um jedes der Reiche direkt betreten zu können … Waren die Großen Tore vollends geöffnet, dann war, wie Lawrence ihm erklärte, auch jedes andere Portal auf Erden geöffnet, sodass nichts mehr Brawth zurückzuhalten vermochte.

Der Unterricht war reine Theorie. Lucas fragte sich, ob ihm wohl je erlaubt sein würde, tatsächlich die Tore zu berühren. Lawrence sah sich offenbar veranlasst, sein ganzes Wissen über ihm auszuschütten, was er jedoch mit ständigen Warnungen vor den Gefahren begleitete, sollte er vorhaben, die Theorie in die Praxis umsetzen zu wollen.

Bei diesen Gelegenheiten pflegte Lawrence bis spät in die Nacht hinein zu reden. Luc musste ihn mit Kaffee und Essen versorgen, ansonsten nahm er nur Whiskey zu sich. Für gewöhnlich saßen sie in der Bibliothek, wo nur das Schreibtischlicht das höhlenhafte Dunkel erhellte und die hohen Gardinen sich bei jedem Luftzug bewegten.

»Ich habe oft gedacht, der Eisriese sei nur ein Hirngespinst meines gestörten Verstandes«, erklärte Lawrence ihm. »Aber in der Spirale werden Träume wahr. Ich träumte von einem mythischen Feind und habe diesen geweckt. Und ich setzte alles daran, meine Söhne vor seinem Zorn zu beschützen, ganz besonders dich.«

»Ich habe ihn gesehen«, erzählte Lucas ihm und beschrieb die riesenhafte Gestalt im Abyssus, den Eisnebel, der von seinen gebirgigen Flanken waberte. Als er an die Stelle kam, wo die Gestalt sich ihm zugewandt und angeschaut hatte, wurde Lawrence’ Gesicht grau.

»Brawth hat dich gesehen. Dich gezeichnet. Er weiß, dass du mein Sohn bist. Gott sei Dank ist er nicht erwacht, um dich zu verfolgen. Deine Gegenwart und das offene Lych-Tor reichten nicht aus, um ihn zu wecken. Ich glaube, er wird nur aufwachen, wenn ich erscheine. Solange er seine steinerne Gestalt behält, sind wir sicher.«

»Estel sagte, er sei schon immer da gewesen«, erzählte Lucas. »Vielleicht war es wirklich nur eine Statue und ich habe mir nur eingebildet, dass sie sich bewegt hat.«

»Natürlich ist Brawth schon immer da gewesen.« Lawrence fixierte ihn mit funkelnden, eisgrauen Augen, die Pupillen klein wie Stecknadelköpfe. »Er ist der Schatten des Anfangs und des Endes der Zeit.«

Anfangs fand Lucas diese Sitzungen aufregend. Er erlebte Lawrence als mächtigen Mann, der ihm vorkam wie der Herrscher des Universums, der aber dennoch all seine kostbare Aufmerksamkeit auf Lucas konzentrierte, als zähle sonst nichts auf der Welt. Das war sehr schmeichelhaft. Die Initiation musste schwer sein, aber sie bedeutete auch, dass er etwas Besonderes, ein Erwählter, war. Nach ein paar Wochen jedoch verblasste der Glanz. Und die Intensität, mit der Lawrence sich ihm zuwandte, wurde zermürbend und verstörend.

Es gab auch erholsame Momente, wenn Lawrence ihn in seine Werkstatt hinter dem Arbeitszimmer mitnahm, wo er Albinitsteine schnitt. Doch auch dort grenzte die Art und Weise, wie er sich in jeden einzelnen Stein versenkte, an Obsession. Als Lucas ihn dazu befragte, folgte langes Schweigen, bis Lawrence schließlich kryptisch antwortete: »Mir hat einst jemand einen perfekten Stein gezeigt, der rechtmäßig mir gehörte, doch nur, um ihn mir wegzunehmen. Und seitdem bin ich auf der Suche danach, obwohl ich weiß, dass ich ihn niemals finden werde. Wie ein Spieler, der immer wieder seine letzte Wette abschließt. Ich kann nicht aufhören.«

Wenn Lawrence sich in Erschöpfung geredet hatte, verschwand er ins Bett und Lucas stieg die Treppe hinauf in Sapphires Reich. Dort war die Atmosphäre freundlicher als im Rest des Hauses. Er legte sich ins Bett, aber häufig fand er keinen Schlaf, sondern starrte an die Decke und lauschte der Stimme, die auf dem Dachboden murmelnd Selbstgespräche führte.

Lawrence war immer vor ihm auf. Häufig war er schlecht gelaunt und schloss sich in seiner Werkstatt ein, sodass Lucas sich selbst überlassen war. Halbherzig erforschte er die Bibliothek oder las. Die schattenhaften Disir trotteten mit ihm, ob beschützend oder bewachend hätte er nicht sagen können. Er bestellte Lebensmittel im Internet, die er mit Lawrence’ Kreditkarte zahlte, und nahm sie an der Küchentür in Empfang. Jedes Mal, wenn Lucas einen Blick in die Außenwelt warf, kam ihm der verlockende Gedanke, einfach wegzugehen. Aber dann machte er doch die Tür wieder zu und verriegelte sie von innen.

Als es Frühling wurde, dachte er öfter daran, wegzugehen. Doch je öfter er es in Erwägung zog, umso weniger schien er dazu in der Lage zu sein. Lawrence hatte ihm lähmendes Entsetzen eingeimpft. Außerdem hatte Lucas das Gefühl, noch immer nicht genug gelernt zu haben, und große Angst davor, ein lebenswichtiges Geheimnis zu verpassen. Und schließlich konnte er auch nicht einfach seinen Vater verlassen. Ginge er, würde Lawrence sicherlich verhungern.

Doch der Drang wurde stärker. Er musste die Erlaubnis einholen, das war die Lösung. Als sie einmal mittags am Küchentisch saßen und Lucas mit zitternden Händen ein Brötchen zerteilte, verkündete er, es sei an der Zeit, seine Familie zu besuchen.

Lawrence erstarrte. »Ich kann dich nicht davon abhalten«, sagte er, »aber ich rate dir davon ab, Lucas. Es ist zu gefährlich.«

»Ich werde mich nicht in die Nähe der Tore begeben.«

Auf dem bleichen Gesicht konnte er deutlich die Missbilligung lesen. »Darum geht es nicht. Ist dir denn nicht klar, dass unsere Feinde da draußen nur darauf brennen, dich in ihre Hände zu bekommen?«

»Mich?«

»Du begreifst die Gefahr, sie aber nicht. Comyn und seine Meute werden die Öffnung der Tore erzwingen, und zwar um jeden Preis. Ist dir nicht klar, dass du, wenn du einen Fuß nach draußen setzt, Gefahr läufst, gekidnappt zu werden?«

Lucas war schockiert. »Das klingt … dramatisch. Das würden sie nicht tun.«

»O doch, das würden sie. Sie schrecken vor nichts zurück. Unser selbst auferlegtes Exil hier ist kein Spaß, sondern ein Opfer, das wir bringen, damit die Sicherheit der Erde gewährleistet bleibt!« Und Lawrence beschrieb mit leiser Wut in der Stimme die Schrecken, die Lucas erwarteten, wenn er ginge.

»Und wenn nun dir etwas zustößt?«, schrie Lucas und sprang auf. »Was ist, wenn der Court mir die Macht wieder wegnimmt und an jemand anderen weitergibt? Was dann? Du kannst die Tore nicht für immer geschlossen halten!«

Lawrence sprang blitzartig auf und warf den Tisch um. Geschirr fiel krachend zu Boden und Essen wurde überall verstreut. »Sprich nicht davon! Wag es nicht, es auch nur anzudeuten!«

Lucas flüchtete.

Später, als er zu zittern aufhörte und sich vom Bett erhob, wo er sich in einer Ecke zusammengerollt hatte, brach die Verzweiflung in ihrer ganzen Wucht über ihn herein. Es gab kein Entrinnen. Er ging sogar davon aus, dass Lawrence ihn eher umbrächte, als gehen zu lassen – aber am schwersten war seine Missbilligung zu ertragen. Wieder hörte er das Kratzen und Weinen des Geistes auf dem Dachboden. Knurrend warf er ein Kissen an die Zimmerdecke.

Entmutigt saß Lucas auf seiner Bettkante und starrte auf seine Füße. Es war nicht das erste Mal, dass sein Vater die Kontrolle verlor. Lawrence würde den Tisch wieder hinstellen und die Unordnung aufräumen, danach würde alles weiterlaufen wie zuvor, obwohl nie ein Wort der Entschuldigung über seine Lippen käme.

Ich bin genauso verrückt wie er, überlegte Lucas. Ich werde hier alt und grau werden und mich in ein kratziges, irres Gespenst verwandeln, wie das Ding auf dem Dachboden … »Verdammt noch mal, sei endlich still!«, sagte er laut. Es ignorierte ihn.

Verzweiflung und Panik überwältigten ihn. Er sehnte sich nach einer Fluchtmöglichkeit, aber der einzige Ort, wo er sich verstecken konnte, war dort oben. Vielleicht könnte er vom Dach springen. Benommen lief er über den Treppenabsatz, bis er die kleine Tür zum Dachboden fand. Er kletterte die schmale Treppe hinauf und tastete oben angekommen nach dem Lichtschalter, an den er sich noch erinnerte.

Der Dachboden war in bräunliches Licht getaucht. Alte Kommoden, Kisten, Stoffe – alles schien unverändert, seit er vor so vielen Jahren hier oben war. Das Ölgemälde von dem zusammengesunkenen Engel stand direkt vor ihm. Die hockende Gestalt, die ihre Arme hängen ließ und deren Gesicht man nicht sah, stimmte ihn traurig. Sie war die Entsprechung seiner Gefühle. Gegen seine Tränen ankämpfend nahm er im Schneidersitz vor ihr Platz. Hier fühlte er sich sicher. In Sapphires Räume wagte Lawrence sich nie, geschweige denn noch höher hinauf. »Weinst du?«, fragte er. »Ich wünschte, du würdest aufhören. Was ist los?«

Lucas streckte seine Hand aus, um die strukturierte Oberfläche zu berühren. Da kam die Hand des Engels aus dem Gemälde herausgeschossen und packte ihn.

Sam lag im Bett und betrachtete Rosie, die aufgestanden war und ihm den Rücken zukehrte, während sie mit Lucas telefonierte. Sie trug nichts außer einem seiner Hemden und darunter zeichneten sich bei jeder Bewegung äußerst delikat die Kurven ihres Hinterteils ab. Sam schob die Decke hinunter bis zu seiner Hüfte, damit sein Körper abkühlen konnte. Sie befanden sich in der Wohnung, die er sich in Ashvale mit Freunden teilte. Er entschuldigte sich dafür, dass sein Zimmer so vollgestellt und schäbig war, aber sie wurde nicht müde, ihm zu versichern, dass ihr das nichts ausmache, da es ihr Allerheiligstes sei.

»Ja, du sagst mir jedes Mal, dass es dir gut geht, aber ich glaube dir nicht«, sagte sie. »Die Tatsache, dass du so einsilbig bist und nicht in Einzelheiten gehst, lässt mich anderes vermuten … Nein, es hat sich nichts verändert, Luc. Mum macht sich immer noch Sorgen. Wir möchten immer noch, dass du nach Hause kommst … Tut mir leid, aber ich werde weiternerven. Ich bin es leid, dich immer wie ein rohes Ei zu behandeln. Wenn du immer nur dasselbe sagst, werde auch ich das tun!« Dann schlug sie einen fröhlicheren Ton an, der mit einem Themenwechsel einherging. »Kommst du dann wenigstens zur Landwirtschaftsaustellung am Samstag? … Oh, das Übliche: Kühe, Pferde, große Traktoren, Moriskentänzer, Tanz der Tiere, all das.«

Sam hörte Lucas’ kratziges Nein.

»Nun komm doch auch, die Musik wird dir gefallen.«

Am anderen Ende hörte man ein klägliches Lachen. »Die Blaskapelle? Wohl kaum. Ich rufe dich nächste Woche wieder an, Ro.«

Rosie schaute mit grimmiger Miene auf das Telefon. »Er hat aufgelegt.« Sie wandte sich Sam zu, wobei das offene Hemd einen aufreizenden Blick auf weiche dunkle Locken zwischen ihren Schenkeln offenbarte. »Was grinst du denn so?«

»Du«, sagte Sam zärtlich, »nackt in meinem Zimmer. Wie ich mir das, als ich in meiner Gefängniszelle lag, immer ausgemalt habe.«

Sie warf in spielerischer Wut mit dem Telefon nach ihm. »Ich habe das Gefühl, du nimmst das nicht richtig ernst.«

Er stützte sich auf die Ellbogen. »Tue ich schon, Liebes, aber Luc hat nicht unrecht. So eine Dorfkirmes ist auch nicht gerade meine Sache. Was hältst du davon, diesen Tag woanders zu verbringen?«

Ihre Augen funkelten. »Wo?«

»Wir könnten Shoppen, etwas essen gehen, einen romantischen Spaziergang machen – alles, was du willst, meine Süße.«

»Ooh«, hauchte Rosie mit gesenktem Blick. »Klingt verführerisch. Einfach mal ausbrechen … das hat fast was Verruchtes.«

»Dann werden wir das auch tun.« Lächelnd kostete er den Kitzel der Verschwörung aus. Rosie teilte ihre Lippen und befeuchtete sie mit ihrer rosa Zungenspitze. Der Glanz ihrer Augen wurde so intensiv, dass deren Glut auf ihn übersprang. »Ah«, sagte er, »du scheinst völlig vermenschlicht zu sein. Das Wort Shoppen hat dich in Erregung versetzt.«

Rosie stürzte sich auf ihn und er gab lachend ihrem Ansturm nach. Sie lag in voller Länge auf ihm und ließ hungrig ihre Zunge und ihre Zähne über seine Haut gleiten. »Nicht das Shoppen. Du«, hauchte sie an seinem Hals. Sie hob den Kopf und versuchte durch ihre wilde Mähne zu schauen. »Du weißt doch, wenn du im Bett liegst und deine Brust zur Schau stellst, dann muss ich über dich herfallen.«

Lucas beendete das Telefonat mit Rosie und schaute hoch an die Decke. Was hätte er ihr sagen sollen. Hilf mir, Ro, ich drehe durch, bitte komm und hol mich? Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er griff nach einer Einkaufstüte und schlich wieder auf den Dachboden.

Der Engel befand sich noch immer außerhalb des Gemäldes. Beim ersten Mal hatte ihn das fast zu Tode erschreckt. Das Wesen war ihm gefolgt, als er aufsprang, und hatte zu seinen zwei Dimensionen noch eine dritte angenommen und stand dann Auge in Auge mit ihm, ein in die Dunkelheit geschnittenes Gespenst, das Gesicht genauso erstaunt wie seines.

Nachdem Lucas den Schock überwunden hatte, wurde ihm klar, dass dieses Geschöpf sich mehr erschrocken hatte als er: Es war harmlos und substanzlos wie ein Elementarwesen. Es sprach nicht, sondern kniete sich auf die Fußbodendielen und versteckte sich unter seinem Haar. Als er das zweite Mal nach oben kam, war es wieder mit der Leinwand verschmolzen und er musste es wieder herauslocken.

Jetzt näherte er sich ihm vorsichtig, bemüht, ihm keinen Schrecken einzujagen. Seine gertenschlanke Gestalt war sienabraun schattiert, das Fleisch cremefarben hervorgehoben, langes, gewelltes bronzefarbenes Haar bedeckte den nackten Körper. Die Leinwand dahinter war von leerem Indigo. Die Form der Flügel hing wie eine Skizze über ihm in der Luft, ein zarter hoher Bogen, der sich mit der Engelsgestalt bewegte.

»Hallo, ich bin es wieder«, flüsterte er. »Ich habe dir etwas Wasser und Essen mitgebracht … hier ist ein Käsesandwich und etwas Kuchen. Ich weiß nicht, ob du was isst, aber …«

Die Kreatur hob ihren Kopf und richtete ihren Blick auf das, was er aus seiner Tasche zog. Ihr Gesicht war feminin zart und perfekt, ein echtes Feengesicht. Die Augen waren feste goldene Kugeln, nicht menschlich, zeitlos und wachsam. »Es ist gut«, sagte er. »Ich werde mich zu dir setzen. Du bist nicht allein.«

Zu seiner Überraschung streckte sie ihre Hand aus und nahm ihm die Flasche Wasser ab. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und goss es sich bei geöffnetem Mund übers Gesicht. Der rote Kringel ihrer Zunge vor dem Dunkel war ein bestürzender Anblick. Sie nahm einen Bissen Brot, den sie aber ausspuckte, der Kuchen schien offenbar eher nach ihrem Geschmack zu sein. Sie leckte und knabberte daran.

»So süß«, sagte sie und hatte dabei tränenfeuchte Augen.

Es war das erste Mal, dass sie gesprochen hatte. Lucas setzte sich mit Herzklopfen neben sie auf den Boden. »Nicht weinen«, sagte er. »Oder erzähl mir wenigstens, warum du weinst.«

»Lucas«, flüsterte sie und berührte seinen Arm mit langen, dünnen Fingern.

»Das bin ich. Hast du auch einen Namen? Ich weiß ja nicht, ob du tatsächlich aus Farbe gemacht bist oder ob ich dich bloß träume, aber du brauchst einen Namen.«

Sie legte ihre Fingerspitzen an ihren Mund. »Iola.«

»Iola, ein hübscher Name.«

Zögernd erforschte sie ihr Gesicht mit ihren Fingern. Ihre Stimme war schwach und mangels Gebrauch brüchig. »Ich bin nicht aus Farbe gemacht. Ich bin wie du.« Er wollte sie fragen, ob sie damit sein elfisches Wesen oder etwas anderes meinte, aber sie unterbrach ihn und ihre Blattgoldaugen wurden groß. »Ist er noch immer hier?«

»Meinst du Lawrence?«

Der Engel bebte. »Ja. Lawrence.«

Lucas wurde das Herz schwer. »Ja, er ist noch da. Warum fragst du?«

Ihre Lippen öffneten sich und sie erstarrte zu einer Skulptur. »Dann darf ich nicht herauskommen.«

»Nein.« Lucas packte sie am Arm aus Angst, sie könnte wieder in der Leinwand verschwinden. Sie zuckte zusammen. »Tut mir leid«, sagte er und ließ los. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Bitte bleib bei mir. Er wird nicht hierherauf kommen, das tut er nie. Warum versteckst du dich vor ihm?« Iola senkte den Kopf und antwortete nicht. »Du hast offenbar Angst vor ihm. Mir geht es genauso. Du bist hier schon seit Jahren, nicht wahr?«

»Du bist warm«, sagte sie seufzend. »Mir ist so kalt.«

»Komm mit mir nach unten. Du solltest nicht allein hier oben sein.«

Sie schüttelte nur ihre hüftlangen Locken. »Ich kann nicht weg. Solange er noch im Haus ist, muss ich mich verstecken.«

Lucas brachte ihr jeden Tag zu essen und Iola gewann immer mehr an Substanz. Sie begann sich auf dem Dachboden zu bewegen, erprobte ihre Füße und Beine. Ihre Flügel waren bald nur noch geisterhafte Schemen, wenn überhaupt. Lucas brachte ihr Kleider, die sie aber nicht anziehen wollte. Sie strich sich mit den Fingern durch ihr Haar, starrte eine volle Stunde lang in einem altersfleckigen Spiegel ihr Spiegelbild an, wirbelte herum, sodass ihr Haar sich wie ein Fächer ausbreitete. Lucas gab sich alle Mühe, nicht die auf diese Weise enthüllte elfenbeinfarbene Haut anzustarren, versagte dabei aber kläglich.

Sie sah noch immer vergoldet und fantastisch aus wie ein Opiumtraum in einem Märchen, hatte inzwischen aber so viel an Substanz gewonnen – hoffte er –, dass es ihr nicht mehr gelänge, in ihre Camouflage zurückzukehren. Sie ließ sich von ihm das Haar flechten und er durfte damit spielen. Als sie freier zu sprechen begann, tat sie dies mit traurigem Gleichmut.

»Wie lange bist du denn schon hier, in diesem Gemälde?«, begann er.

»Ich weiß es nicht. Die Zeit steht still, aber die Erinnerungen sind lebhaft.«

Seidige Flechten glitten durch seine Hände. »Es heißt, wenn Elfenwesen sterben, ist es weniger ein Sterben als eine Verwandlung. Wir werden Elementarwesen oder binden uns selbst an einen Baum, einen Fels oder einen Fluss. Ist es das, was dir widerfahren ist?«

»Gewissermaßen.« Sie richtete ihre gespenstischen goldenen Augen auf ihn. »Ich bin wie du, Luc. Ein Elfenwesen.«

»Hat Lawrence dich … getötet?«

Zum ersten Mal lächelte sie. Der Kosmos ordnete sich in ihm neu. Sie hatte Nachsicht mit seiner Unschuld. Sie war überhaupt kein verängstigtes Rehkitz, sondern ein Geschöpf, so alt, dass es seine Vorstellungskraft sprengte. »Er hat es dir nicht erzählt«, sagte sie. »Wenn alles still ist im Haus, höre ich eure Gespräche. Er will es nicht zugeben.«

Lucas versuchte das zu begreifen. Offenbar hatte sie alles mitgehört, was in diesem Haus seit Jahren vor sich ging. »Ich wusste, dass er etwas zurückhielt!«

»Ich entstamme Asru, dem Reich des Geistes«, fuhr sie fort. »Der Spiral Court schickte mich zu Liliana und ich blieb, um Lawrence zu helfen. Sie schicken immer Wächter, die den Torhütern beiseitestehen sollen. Wir halten uns zurück, sind nicht ganz im Verborgenen, werden aber auch nicht gesehen. Ich war die Herrin der Disir

Lucas war verblüfft. »Davon habe ich noch nie gehört. Hattest du … Vollmacht über ihn?«

»Nein, der Wächter ist nur dazu da, Anleitung und Schutz zu bieten. Wir können eine Verbindung zu den inneren Reichen herstellen. Meine ersten Jahre mit Lawrence waren schwierig. Ich war immer da und half ihm, seinen Weg zu finden … aber er wies mich ab. Dunkler Wahnsinn bemächtigte sich seiner. Ich gab mir alle Mühe, ihm zu helfen, aber ich konnte nichts tun und wurde am Ende überwältigt. Dann ging auch noch seine liebe Frau, aber ich war machtlos und konnte sie nicht zurückbringen. Er vertrieb uns. Ich schäme mich, mein Versagen eingestehen zu müssen, aber am Ende war ich verrückt vor Angst und floh.«

»Warum hierher? Hättest du nicht nach Asru zurückkehren können?«

»Warum hier?«, wiederholte sie. »Du bist doch auch hier. Das ist der Ort, wohin er uns treibt.«

»Oh.« Ihm fiel vor Schreck die Kinnlade herunter, aber sie lächelte.

»Ich konnte ihn nicht verlassen, Lucas. Er war noch immer mein Torhüter. Ich war noch immer an ihn gebunden. Also versteckte ich mich. Und welkte dahin.«

Lucas musste an das Weinen denken, das er und Jon jahrelang immer wieder gehört hatten. »Du warst unglücklich.«

»Oh, der Schmerz in diesem Haus! Ich konnte mich ihm nie verschließen.«

»Weiß er denn, dass du hier bist?«

»Ich denke nicht. Er hat schon vor Jahren seine Augen vor mir verschlossen.«

Eine Schulter tauchte zwischen ihrem wogenden Haar auf. Instinktiv neigte sich Lucas darüber, um sie zu küssen, hielt sich jedoch noch rechtzeitig zurück und meinte, sich verlegen räuspernd: »Äh, Iola, ich bin jetzt der Torhüter. Jedenfalls sagte man mir das.«

»Ich weiß.« Diesmal war ihr Lächeln mädchenhaft und süß. »Das dürfte auch der Grund sein, weshalb ich wieder in die räumliche Welt zurückgekehrt bin. Du hast mich herausgerufen.«

»Dann musst du auch mit mir nach unten kommen«, sagte er hoffnungsfroh. »Gemeinsam können wir Lawrence ins Auge sehen.«

Sie wandte sich ihm zu und legte ihm die Hände aufs Gesicht. »Ich kann nicht.«

Er bedrängte sie zu sehr. Sie war noch immer zart wie Rauch. Außerdem war Lucas nicht gut darin, energisch aufzutreten, weshalb Lawrence ihn sicherlich wie einen Strohhalm umblasen würde. Wie sollte er hoffen, Iola verteidigen zu können, wo er doch nicht mal für sich selbst sorgen konnte? Und vor bitterer Enttäuschung fing er zu weinen an. »Ich kann dich nicht hier oben zurücklassen.«

»Das musst du aber, lieber Freund. Ich bin daran gewöhnt.«

»Ohne dich gehe ich nicht. Wir sind beide seine Gefangenen.«

»Weine nicht. Du hast mich wieder zum Leben erweckt«, sagte sie leise und küsste ihn.

Die süße Überraschung, ihren Mund auf seinem zu spüren, kam wie ein Überfall. Lucas war verloren. Flüsternd fragte er: »Macht ihr das immer – bei euren Torhütern?« Und ein warmer Hauch streifte sein Ohr, als sie flüsterte: »Nein. Noch nie zuvor. Ich brauche dich … damit ich wirklich werden kann …« Und er stürzte in ein weiches goldenes Feuer, taumelte von einem köstlichen Sinneseindruck zum nächsten.

Erinnerungsfetzen berührten ihn wie Elektroschocks. Die wissenden Menschenmädchen, die sich im Dunstkreis der Band bewegt hatten, deren festes Fleisch nach Zigaretten und schalem Parfüm stank und die er nie an sich herangelassen hatte. Er hatte nie eine von ihnen gehabt. Die Drogen hatten einen dämpfenden Schleier über jegliches Verlangen nach Liebe geworfen. Jon war natürlich immer da gewesen, er und die stille Erleichterung, die sie einander anboten, da es sonst niemanden gab, und über die sie bei Tageslicht niemals ein Wort verloren – aber das zählte nicht. Er war noch nie in jemandes Körper gewesen. Hatte sich die flaumweiche Perfektion eines Engelskörpers nicht vorstellen können und genauso wenig die Zärtlichkeit ihres Mundes und ihrer ihn streichelnden Hände, die ihn tief in sich hineinzogen.

Es schien kein Ende zu nehmen und war dann schlagartig vorbei. Sie raubte ihm den Atem wie ein Sturz in den Abyssus. Ekstatische Zuckungen ergriffen Besitz von ihm und schleuderten ihn aus sich heraus, als hätte ihn ein Blitz getroffen.

Während die Lust langsam verebbte, entdeckte er, dass gar niemand neben ihm war. Er umarmte die Falten einer staubigen Decke. Lawrence erwachte aus einem qualvollen Albtraum und da saß wieder der Engel am Fußende seines Betts und zeigte mit seinem Steinfinger auf ihn, die leeren goldenen Augen starr auf ihn gerichtet. »Du wirst den Schatten wecken«, zischte er. »Ich hätte dir helfen können, aber du hast mir den Rücken zugekehrt und mich vertrieben. Jetzt ist das Ungeheuer zu hungrig

»Nein«, keuchte er. »Ich habe die Kontrolle über die Tore!«

»Zu spät, Lawrence.« Blitze zuckten. Ein heißer Wind spielte mit dem welligen Haar. »Du hast Brawth mit deinem Zorn geweckt. Der große Schatten ist der Anfang und das Ende der Zeit

»Bitte.« Er wand sich und erwiderte mit rauer Stimme: »Wie kann ich ihn beruhigen?«

»Indem du alles verlierst, was du am meisten liebst«, kam die weise Antwort. »Wenn dein Schmerz stärker ist als dein Zorn – nur das vermag Brawth zufriedenzustellen

»Nein!«, schrie er und schreckte hoch. Jetzt war er richtig wach und schwitzte in seinen zerwühlten Laken. Es war keiner da. Die Wächterin, Iola, war geflohen und schon vor Jahren verschwunden; er hatte sie vertrieben, weil er auch sie für jemanden gehalten hatte, die sich bei ihm einnisten wollte, weil sie mit seinen Feinden unter einer Decke steckte. Keinesfalls hatte er geglaubt, sie könne ihm helfen, denn das konnte keiner. Aber immer noch suchte sie ihn in seinen Albträumen heim, eine geisterhafte Unglücksbotin, deren steinerner Finger ihn mit Winterkälte und erschreckendem Wissen durchdrang …

Während der Traum fiebrig nachwirkte, begriff Lawrence plötzlich entsetzt den Sinn ihrer Worte. Es geht um mein Ende. Und ich … Er zitterte, als all die Jahre der Angst, der Ablehnung und der eisigen Selbstkontrolle sich in einer Wut entluden, die ihn wie ein Sturzbach mitriss. Ich muss derjenige sein, der dieses Ende herbeiführt.

Der Morgen, an dem die Landwirtschaftsausstellung in Cloudcroft stattfand, war trocken und schön. Jessica und Auberon waren zeitig auf und bereit für die von ihnen übernommenen Aufgaben, darunter das Verkaufen von Eintrittskarten und das Bedienen der Gäste. Selbst Matthew kämpfte sich trotz eines offensichtlichen Katers aus den Federn. Rosie hatte zwar Schuldgefühle, weil sie sich um die Teilnahme drückte, doch sie waren nicht so groß, als dass sie ihre Pläne geändert hätte.

Sam fuhr mit ihr nach Birmingham. Es war zwar nicht gerade ein exotisches Ausflugsziel, aber das Stadtzentrum hatte sich in den letzten Jahren verändert. Die schmutzige Schwerindustrie war vom Glitzerglanz der Einkaufszentren abgelöst worden. Vor dem Eingang des Bullring-Centers stand die große Bronzestatue eines Bullen, der Rosie, als sie über das glatte Metall strich, an Brewster erinnerte. Dahinter erhoben sich hohe Aussichtspunkte, von denen aus man die Skyline der Stadt bewundern konnte. In einem Buchladen tranken sie Kaffee. Sam kaufte ihr ein blutrotes Kristallherz an einem schwarzen Lederband. Sie entdeckten für sich das unerwartet sinnliche Vergnügen, einander Kleider zu kaufen – geschmeidige Seide und Kaschmir und Baumwolle auf der Haut des anderen und dazu das Spiel mit dem Feuer, in den Umkleidekabinen entdeckt zu werden – und später, nach einem ausgedehnten Mahl mit Champagner, wanderten sie Hand in Hand am Kanal entlang, der neu angelegt worden war und jetzt von schicken Bars gesäumt wurde. Spätes Sonnenlicht lag funkelnd auf dem Wasser. Hier kannte sie keiner. Und Rosie, die ihren Arm um Sams schlanke Taille geschlungen hatte, hatte nie so sehr das Gefühl gehabt, dazuzugehören.

»Das war der schönste Tag meines Lebens«, sagte Sam verzaubert.

»Und meiner auch«, ergänzte Rosie. Eng umschlungen standen sie da, nicht willens, den Bann zu brechen. »Ob es in Elfland wohl Designerläden gibt? Und wo kriegt man einen Cappuccino? Gibt es da überhaupt so etwas wie ein Wirtschaftssystem?«

»Nö«, sagte Sam belustigt. »Eigentlich sollst du dein wahres Ich doch auf einem Berg oder in einem heiligen Hain finden. Und stattdessen entdeckst du, dass es hier liegt, in einer schmutzigen alten Stadt in den Midlands, am Ufer eines Kanals. Das perfekte Glück. Absoluter Friede. Wer hätte das gedacht? Ich liebe diese Welt.«

Spaß und Hotdogs und Wimpelgeflatter – es war alles eine große Maskerade zur Freude der Menschen. Sapphire hatte nicht das Gefühl, dazuzugehören, sie war den ganzen Tag angespannt, als hätte sie Lampenfieber. Sobald der Abend anbrach, würde es losgehen: ein Karnevalsumzug, eine traditionelle folkloristische Festlichkeit, die natürliche Fortsetzung der Tagesaktivitäten. Ohne das ganze Drumherum hätte der Tanz der Tiere völlig verrückt gewirkt. Doch eingebettet in diesen Kontext hatte keiner Grund, etwas zu argwöhnen.

Sie verkleideten sich im Hinterzimmer des Green Man. Es war, als würde man sich für ein Dorftheaterstück kostümieren, nur dass alle sich totenstill verhielten. Comyn und Jon befanden sich in einem anderen Raum. Keiner sprach mit Sapphire. Erst als sie die Hundemaske über ihr Gesicht streifte, wurde ihr bewusst, an welch fremdartigem Ritual sie da teilnahm und wie unwirklich das alles war. Es war eine stilisierte Maske mit starren Augenhöhlen – ein Fetischobjekt.

Ich bin nicht mehr ich selbst, überlegte sie angesichts ihres animalischen Spiegelbildes. Nicht die kleine Maria Clara Ramos, nicht Marie Claire Barada, nicht Sapphire da Silva oder Mrs Lawrence Wilder. Ich weiß nicht, wer ich bin. Doch sie war ganz ruhig, konzentriert und entschlossen.

Die Kostüme waren in Grüntönen gehalten und teils mittelalterlich, teils fantastisch. Mit ihren Masken wurden die versammelten Elfenwesen Jäger und Jagdhund in einem. Sie hätte nicht mehr sagen können, wer wer war. Sie waren … eine Meute.

Nur Comyn war in Rot gekleidet, mit einer scharlachroten Jagdjacke im viktorianischen Stil. Dazu trug er eine schlichte schwarze Straßenräubermaske. Als er Jon hereinführte, erschrak Sapphire. Er kam wie ein Wesen aus einer anderen Welt angetrampelt.

Jon überragte alle, und die Tierhaut, die ihn bedeckte, stank. Als sie sich ihm näherte und versuchte sein Gesicht zu sehen, sah sie nur die Fratze eines leeren Lächelns. Offenbar hatte er etwas genommen, aber wer sollte ihm das verübeln? Das gehörte sich so für einen Schamanen. An diesem Abend schien es das Richtige zu sein.

Feuchte Luft umfing sie, als sie in den Abend hinaustraten und sich auf den Weg zum Dorfanger machten. Sapphire spürte das in ihr brennende Feuer der Rache. Ihr ganzes Leben hatte sie auf diesen Moment gewartet: Lawrence’ Ende. Blauviolett senkte sich die Dämmerung herab, als Sam und Rosie nach Cloudcroft zurückfuhren. Das Festival war noch nicht zu Ende. Es war ein schöner Abend und vor dem Green Man standen Menschentrauben bis hinaus auf die Straße. Für sie war der Tag noch nicht zu Ende und sie erklärten die Landstraße zu einer verkehrsfreien Partyzone. Sam musste im Schneckentempo fahren, um niemanden zu gefährden. Am anderen Ende der Dorfwiese herrschte geschäftiges Treiben. Die Leute drängten in diese Richtung und blockierten nun vollends ihren Weg.

»Toll«, sagte Sam und trommelte auf das Lenkrad. »Ich bin davon ausgegangen, dass sie inzwischen fertig sind. Haben die denn alle kein Zuhause?«

»Das ist bestimmt der Tanz der Tiere. Doch auch der müsste eigentlich längst vorbei sein.« Rosie kurbelte ihr Fenster herunter und sprach einen Mann an, der neben dem Wagen stand. »Was tut sich da?«

»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte er fröhlich. Er erinnerte sie ein wenig an Alastair. »Da ist so ein Idiot, der sich als Hirsch verkleidet hat. Sind wohl diese Volksbräuche, in denen sich alles um Fruchtbarkeit dreht, oder?« Er zwinkerte ihr zu.

Rosie grinste zurück. »Äh, ja. Danke.«

Die Menge strömte nun durchs Dorf und folgte der Attraktion. Rosie hörte das Schlagen einer kultischen Trommel. Sam kroch noch ein paar Meter im Wagen hinter der Prozession her und bog dann in eine Seitenstraße ab, um den Wagen abzustellen. »Wir sind schneller zu Fuß«, sagte er.

Die Abendluft war noch warm. Ein rosafarbener Streifen harrte noch am Himmel aus, doch das Licht schwand und er färbte sich schiefergrau. Am Anfang des Zugs funkelten Laternen und Fackeln.

Dort, wo die Straße anstieg, wurde der Kopf der Prozession sichtbar. Rosie entdeckte an die dreißig grün kostümierte Tänzer. Angeführt wurden sie von einer Gestalt mit einem wuchtigen Geweih auf dem Kopf. Das Geweih zuckte und senkte sich, offenbar steckte ein verrückter Schamane darunter. Dieser Kerntruppe folgte ein lockeres Grüppchen von etwa hundert Leuten, ebenfalls meist grün gewandet, Elfenwesen, dem leichtfüßigen, mühelosen Gang nach zu urteilen.

Die Masse der menschlichen Feiernden rannte hinterher, um sie einzuholen. Weiter vorne säumten Zuschauer die Straße. Sie hörte die hellen Töne eines Horns.

»Sie jagen ihn«, sagte Sam. Er und Rosie fingen ebenfalls zu rennen an. Das Geschehen löste eine Erinnerung in ihr aus, die sie aber nicht einordnen konnte. Wohl an ein jahrhundertealtes Ritual mit verborgener Absicht.

Der Tanz der Tiere sah jedes Jahr anders aus, aber normalerweise bewegten die Tänzer sich in einem Kreis ums Dorf, um dann auf der Wiese die Aufführung zu Ende zu bringen. Häufig gab es einen närrischen theatralischen Höhepunkt. Doch diesmal bog die Prozession an der Gabelung nach links ab, in die Straße, die nach Oakholme und somit aus dem Dorf hinausführte. Die Menschen im Gefolge wurden langsam müde und stiegen nach und nach aus.

Rosie warf einen Blick in die Fenster von Oakholme, als sie daran vorbeikamen. Nur in Matthews Zimmer brannte Licht. Doch die Prozession zog weiter. Dort oben kam nichts mehr, es gab keinen Grund, so weit zu gehen. Sie schielte zu Sam, aber der zuckte nur verdutzt mit den Schultern.

»Sind die betrunken?«, wunderte sie sich. Doch die Mitwirkenden waren alles andere als frivol und ausgelassen. Sie bewegten sich mit ernsthafter Entschlossenheit. Als sie Jagdschreie ausstießen, klangen diese roh, brutal und wild. Wieder ertönte das Jagdhorn.

»Sie ziehen hinauf nach Stonegate«, sagte Sam.

Das Dämmerlicht tauchte die Landschaft in schauriges Dunkel. Die Jagd nahm immer mehr die Züge eines Stammesritus an. Das Hirschopfer taumelte und schwankte in Trance. Die Jäger verfolgten es in wilder Erregung wie Hunde, die Witterung aufgenommen hatten, und gingen darin auf. Sapphire gehörte dazu – sie war besessen, befand sich auf einer anderen Bewusstseinsebene, wo sich alles nur auf ihr gemeinsames Ziel hin fokussierte.

Selbst die Menschenwesen, die noch folgten, wurden in diesen Bann gezogen, ohne zu wissen, wie ihnen geschah. Ihre anstachelnden Rufe waren aggressiv. Denn auch die Dörfler hatten weiß Gott keinen Grund, Lawrence zu lieben. Derselbe dunkle Bluthunger hatte alle angesteckt.

Der Hirsch schien erschöpft zu sein. Er taumelte unter dem Gewicht der Tierhaut auf seinen Schultern und der Geweihkrone. Wieder und wieder trieb er sich mit neuer Energie an, rannte und schlug Haken, um dann wieder zu stolpern. Das Jagdhorn ertönte und trieb ihn gnadenlos vorwärts. Die Beute durfte nicht zu früh fallen. Sapphire klopfte das Herz bis zum Hals, als es den Anschein hatte, er werde mitten auf der Einfahrt zusammenbrechen, aber der Kopf mit dem Geweih erhob sich wieder und kämpfte sich weiter voran.

Dort auf den Stufen vor dem Doppelportal von Stonegate Manor: Da würde alles ein Ende finden.

Lucas hielt sich im Wintergarten auf dem Dach auf und presste seine Stirn gegen die Scheibe. Das Ereignis auf dem Dachboden hatte ihn aufgewühlt zurückgelassen. Er war noch einmal hochgeschlichen, hatte aber niemanden dort angetroffen. Jetzt traute er sich nicht mehr dorthin zurück, aus Angst vor dem, was er vorfinden oder nicht vorfinden könnte. Hatte er sich in eine Halluzination verliebt? Wenn ja, dann hatte er, ohne es zu bemerken, den Verstand verloren. Hatte Lawrence dies etwa heraufbeschworen in der Absicht, ihn auf diese Weise an Stonegate zu binden? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden: Er musste Lawrence fragen, was er über Iola, die Wächterin, wusste und dabei auf seine Reaktion achten. Falls aber Iola wirklich real war, würde Lawrence ihn sicherlich fragen, woher er von ihr wusste. Und damit brächte er sie in Gefahr.

Seine Verwirrung verwandelte sich in Verzweiflung. Er hatte geglaubt, ein wunderbar lebendiges Geheimnis in seiner Gruft entdeckt zu haben. Das sich dann jedoch als Staub entpuppte oder als grausamer Scherz. Die Landschaft lag in samtigem Grün unter ihm, er aber war von ihr ausgeschlossen. Den ganzen Tag hatte er Musikfetzen und Lautsprecheransagen gehört, die aus dem Tal herauftönten. Er hatte dazu nur höhnisch gegrinst, doch jetzt wäre er gern Teil davon. Er und Rosie, mit einem Eis in der Hand im Schlepptau ihrer Eltern, wieder Kinder.

Als die Dämmerung hereinbrach, sah er die Prozession die Einfahrt heraufkommen. Bei diesem Anblick löste sich seine Starre. Wieso zum Teufel strömten plötzlich ein paar Hundert Leute nach Stonegate? Sie waren wohl betrunken. Das konnte nur ein dummer Scherz sein, aber Lawrence würde einen Tobsuchtsanfall kriegen.

Lucas nahm nur eine schattenhafte Masse wahr, die Lichter trug. Eine Horde von Dörflern mit brennenden Fackeln kam, um den Unhold aus dem Schloss zu vertreiben – dieses Bild bot sich an, doch dahinter lauerte etwas viel Dunkleres. Als sie auf gleicher Höhe mit den Mauern unter ihm waren, sah er, dass sie verkleidet und maskiert waren. Eine in Hirschhaut gehüllte Gestalt versuchte in symbolischer Flucht mit schwankendem Geweih hierhin und dorthin auszubrechen. Die Jäger mimten die Verfolger.

Verwirrt schaute Lucas zu. Menschliche Beobachter sahen darin mit Sicherheit nur inszenierte Folklore, aber das war es nicht. Es hatte eine finstere, verborgene Bedeutung. Was immer es auch war, unterhaltsam würde es nicht sein.

»Lawrence!«, rief er und rannte durch verlassene Räume, bis er die Galerie erreichte.

Lawrence war bereits auf dem Weg nach unten. Er querte den großen Saal und schaltete dabei die Beleuchtung an. Luc folgte ihm alarmiert. Als sie die Diele betraten, drang höllischer Lärm durch die Tür, ein gedämpftes Geheul wie Hundegebell. Durch die Fensterscheiben sahen sie die Meute, die sich in der halbmondförmigen Einfahrt vor dem Portikus versammelt hatte. »Was wollen sie?«, fragte Luc.

Lawrence’ Gesicht war steinern. »Verräter«, zischte er leise. »Dann also das.«

Lucas sah den vom Vorbau gerahmten Hirsch, der sich umwandte, um sich seinen Verfolgern zu stellen, indem er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, während diese ihn in Schach hielten. Er sah den rot gewandeten Jäger einen Langbogen anheben und zielen. Der Pfeil flog. Der Hirsch neigte seinen vom Geweih gekrönten Kopf und ging zu Boden, wobei er mit einem gewaltigen Schlag gegen die Türen prallte. Lucas sprang auf. Die Türen bebten.

Lawrence’ Hand drehte den Schlüssel und zog die Riegel zurück.

»Nein, nicht!«, schrie Lucas.

»Ich muss«, sagte Lawrence.

Er zog die beiden Türen weit auf. Licht fiel nach draußen. Lucas sah Dutzende glühende Augenpaare auf sich gerichtet, rot wie die Augen wilder Hunde. Nur der Jäger hatte ein menschliches Gesicht, das nur eine einfache schwarze Maske verhüllte, und er hielt ein riesiges gebogenes Messer in seiner Hand.

Als Lawrence die Tür öffnete, hob sich das gewaltige Schlachtermesser des Jägers und senkte sich. Blut spritzte. Der Hirsch brach in einer roten Lache zusammen. Einen Herzschlag lang erstarrte die Szene zum Tableau vivant. Und in diesem kurzen Augenblick, als alle reglos verharrten, erkannte Lucas in dem roten Jägersmann seinen Onkel Comyn.

Ausdruckslos starrte Lawrence vor sich hin. Keuchend und mit wildem, trotzigem Blick sah Comyn ihn an. »Aus«, sagte er. »Es ist aus mit dir, Lawrence Wilder.«

»Was zum Teufel soll das?«, fragte Lawrence mit rauer, zittriger Stimme. »Was verdammt noch mal hat diese Scharade zu bedeuten?«

»Du kennst die Bedeutung.« Der Jäger hielt ihm das blutgetränkte Messer vors Gesicht. »Der Hirsch nimmt dein Verbrechen auf sich und wird geopfert.«

Lucas schrie auf: »O mein Gott, es ist Jon!«

Er torkelte nach vorn, aber Lawrence packte ihn und zog ihn zurück. Für kurze Zeit verwandelte sich die Welt in einen Albtraum, und er sah nur noch Jon, das gefallene Opfer, tot in einer Blutlache.

»Du hast meinen eigenen Sohn rekrutiert, um das in Szene zu setzen?«, flüsterte Lawrence. »Jonathan?«

Rau brannte die Luft in Lucas’ Kehle. Dann hob Jon seinen Kopf. Er war voller Blut, doch dieses trat nicht aus seinem Körper aus. Kunstblut. Er hatte einen Beutel mit Schweineblut umgeschnallt. Sein Gesicht unter dem Hirschkopf war kaum zu erkennen. Er keuchte und seine Augen irrten umher. Er stand unter Drogen, wie hätte er das auch sonst durchgehalten?

»Ich bin nicht dein Sohn«, krächzte er. »Du bist nicht mein Vater.«

Endlich erreichten Sam und Rosie die Spitze der Prozession, dort, wo die Einfahrt vor dem Haus endete. Eine chaotische Masse sorgte für Aufruhr. Es war unmöglich, einen Sinn dahinter zu erkennen. Einige Menschenwesen verfolgten verwirrt das Geschehen und fragten einander, was dort eigentlich gespielt wurde. Andere, die betrunken waren, feuerten das Ganze mit ihren Schreien an. Der harte Kern der verkleideten Jäger scharte sich um die Eingangstüren.

»Was bilden die sich eigentlich ein?«, zischte Sam wütend.

»Die Tür ist offen«, sagte Rosie. Sie drängelten sich am Rand vorbei nach vorne. Der Pulk vor der Tür trug waldgrüne Gewänder und Hundemasken. Rosie glaubte den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wie kam es, dass so viele Elfenwesen hiervon gewusst hatten – nur sie nicht und auch nicht Sam oder ihre Familie?

Plötzlich entdeckte sie ihre Eltern – aber sie hielten sich am Rand und waren nicht verkleidet. Jessica trug einen gebatikten Rock und einen Kaftan in Gelbtönen, Auberon graue Flanellhosen und ein Jackett, und sie sahen beide genauso entsetzt aus wie Rosie.

Nachdem sie eine Lücke zum Durchschauen gefunden hatten, verfolgten Rosie und Sam die Szene auf der Türschwelle. Der Hirsch lag blutbesudelt auf Händen und Knien. Lawrence stand mit bleicher, grauenhafter Miene auf der Schwelle, Lucas an seiner Seite. Sie erkannte Comyns Stimme.

»Das Opfern des Hirschs auf deiner Türschwelle zeichnet dich als Paria, Lawrence. Es steht für eine Missfallensbekundung der Gemeinschaft. Der Hirsch ist dein Verbrechen. Der Hirsch bist du. Wir opfern den alten König und heißen den neuen willkommen.«

Lawrence blieb starr wie eine Säule stehen. Sam wollte auf ihn zugehen, aber Rosie hielt ihn am Arm zurück. Ratlos ließ er es zu. Endlich erhob Lawrence seine Stimme. »Ich kenne die Bedeutung dieses absurden Rituals. Doch ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem es gegen euren Torhüter angewandt wird.«

»Dann weißt du auch, dass das zugelassene Verfahren vorsieht, dass du herunterkommst und gehst«, sagte Comyn.

Lawrence lachte. »Du kannst nicht verlangen, dass ich mein eigenes Haus verlasse.«

»Nein, wir können dich nicht aus diesem alten Gemäuer herauszerren, da hast du recht. Doch die Verdammung durch die Elfengemeinschaft ist etwas anderes. Es ist ein Misstrauensantrag. Damit wird dir jegliche Position und jeder Respekt aberkannt, der dir noch geblieben ist.«

Lawrence wurde aschfahl. Er begann zu zittern. Rosie hatte Angst um ihn.

»Das ist Frevel!«, sagte er. »Lasst mich die Gesichter derjenigen sehen, die mich vertreiben wollen. Dich kenne ich, Comyn – von dir überrascht mich das nicht –, aber die anderen? Habt wenigstens den Mut, mir eure Gesichter zu zeigen!«

Es folgte ein Augenblick betretener Stille, dann wurden die Masken abgenommen. Auch Sapphire und Phyllida waren darunter. Alle Elfenwesen starrten Lawrence ausdruckslos an. Er richtete seine Aufmerksamkeit über ihre Köpfe hinweg direkt auf Auberon. »Auch du?«, sagte er und ließ darauf ein grässliches Lachen hören. »Natürlich! Du hast nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet! Was vermag ich gegen diese massive Verdammung auszurichten?«

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, sagte Comyn.

»Ihr Verräter«, flüsterte Lawrence. »Ihr verdammten, hinterhältigen Verräter, alle, wie ihr da seid – Schwachköpfe!«

»Du kannst an unseren Kleidern sehen, dass wir hieran nicht teilgenommen haben und nichts davon wussten, bis es begann«, rief Auberon. »Außerdem findet es nicht meine Zustimmung. Aber du weißt, dass es so nicht weitergehen kann. Bitte, Lawrence. Um des Friedens willen, komm herunter!«

»Seid ihr gekommen, um mich zu töten?«

»Natürlich nicht«, sagte Comyn.

»Was wollt ihr dann von mir?«

»Lass Lucas gehen«, sagte Comyn. »Händige ihn uns aus. Lass uns wieder einen Torhüter haben. Was du danach tust – das interessiert keinen.«

Rosie verfolgte, wie sich auf Lucs Gesicht Entsetzen ausbreitete. Er sah Lawrence an und sagte: »Vater?«

»Ihn aushändigen?«, sagte Lawrence voller Verachtung. Seine Hand packte Lucas an der Schulter und zog ihn nach vorne. »Er ist keine Geisel. Er ist nicht euer Sklave. Was veranlasst euch zu glauben, er könne die Großen Tore ohne meine Hilfe oder auch nur ohne meine Erlaubnis öffnen?«

Ein vielstimmiger Chor von Elfenwesen erhob sich. Lucas, Lucas, Lucas! Lawrence wartete verbittert, dass er verstummte. Nun ruhten seine beiden Hände auf Lucas’ Schultern und er trommelte rhythmisch mit den Fingern. Seine Augen glitzerten frostig. »Ja, es ist vorbei«, sagte er. »Du hast deinen Willen durchgesetzt, Comyn. Was soll er für dich tun?«

»Die Tore öffnen, das liegt doch auf der Hand.«

»Und du bist dir sicher, dass du das willst?«

»Ja«, antwortete Comyn. »Freien Zugang. Das ist unser Recht.«

»Und das, nachdem du meine Warnungen wohlbedacht hast?«

»Wir erkennen deine Warnungen nicht an«, sagte er voller Ungeduld. »Was auch immer das für eine Gefahr sein mag, wir werden uns ihr stellen, sie bekämpfen und besiegen!« Es folgten Jubelschreie. »Die Großen Tore müssen geöffnet werden!«

Lawrence wartete ein paar Herzschläge lang und sah die Meute dabei düster an. »Wenn es das ist, was ihr wollt – so sei es.« Lawrence packte Lucas am Arm und zog ihn vom Haus weg, vorbei an dem gestürzten Hirsch und hinein in die vordersten Reihen des Mobs. Diese waren völlig überrumpelt. Lucas protestierte, aber ließ sich dann doch Richtung Freias Krone mitschleppen.

»Dann folgt uns«, rief Lawrence über seine Schulter und hatte plötzlich ungeachtet aller Ereignisse wieder das Kommando übernommen. »Dann werden wir ja sehen, ob es das ist, was ihr wolltet. Kommt nur. Oder habt ihr Angst?«

Sam und Rosie folgten am Rande der Meute. Der Sog war so heftig, dass sie nicht hätten eingreifen können, wobei sie sich aber auch nicht sicher waren, ob dies sinnvoll gewesen wäre. Rosie sah, dass ihre Eltern versuchten, sich Lawrence in den Weg zu stellen, doch nur, um beiseitegedrängt und von Comyns Mob überrannt zu werden. Rosie schaffte es nicht, in ihre Nähe zu kommen.

Als sie Freias Krone erreichten, packte Lawrence Lucas an den Schultern und drehte ihn zu den Felsen herum. Rosie fing Lucs Gesichtsausdruck auf: bleich, erschrocken und völlig überfordert. Ihr Instinkt sagte ihr, dass dies nicht geschehen durfte, aber was sollte sie tun? Ein Bann lag auf ihnen, eine Kraft, geboren aus dem geballten Willen der Meute. Es gab keine Individuen, nur noch eine einzige wogende Einheit. Rosie konnte nicht diejenige sein, die heraustrat, um dem Einhalt zu gebieten. Nicht einmal Sam konnte das.

Die Schattenreiche schimmerten weich und der Torhügel fand seine wahre Form: hoch aufragend und glänzend. Die Menge fand sich in der Mulde zusammen. Albinit leuchtete lavendelblau auf. Lawrence sprach mit Lucas, dessen Stimme schwach antwortete: »Ich kann das nicht.«

»Doch, du kannst es.«

»Aber du sagtest doch …«

»Was ich sagte, zählt nicht. Wir müssen dem Willen des Mobs nachkommen. Comyn hat recht: Ich kann es nicht länger hinauszögern. Sollen sie ihren Willen bekommen. Lass es uns zu Ende bringen.«

Sam trat vor und schrie: »Dad, nein«, doch Comyns Arm, der wie eine stählerne Schranke hervorgeschossen kam, traf ihn an der Brust, um ihn aufzuhalten. Der Schlag streckte Sam zu Boden, Rosie trat zu ihm, um ihm aufzuhelfen, aber zu spät, keiner vermochte nunmehr das Ritual zu stoppen.

»Ich weiß nicht wie«, protestierte Luc.

»Doch, das weißt du. Wie ich es dir gesagt habe. Geh in aller Ruhe alle Stadien durch, dann wird dein Instinkt dich leiten.«

»Der Apfelzweig –«

»Hat nur symbolischen Charakter. Dein Schuhabsatz wird es auch tun. Nun fange an.«

Sichtlich am ganzen Leib zitternd ging Lucas hoch zu den Toren. Seine Hand huschte über die Oberfläche, drückte hier und dort, zeichnete Runen nach. Aus dem Inneren des Felsens drang ein tiefes Knirschen und Rumoren. Lichter erglühten und der Luftdruck machte Rosie ganz schwindelig.

Plötzlich schrie Lawrence: »Nun komm schon und tu es endlich!«

Im selben Moment schrie Lucas ein unverständliches Wort und trat mit seinem Stiefel gegen den Felsen. Der Schlag war fast triumphierend. Blendendes Licht ergoss sich. Sämtliche Albinitsteine leuchteten blutrot auf. Lawrence schrie.

Trotz des grellen Scheins konnte Rosie erkennen, wie die Felsschalen der inneren Tore sich eine in die andere schoben, bis alle Öffnungen gleich ausgerichtet waren. Nicht nur der schmale Spalt eines Lych-Tors diesmal, sondern ein triumphaler Bogengang. Armeen hätten hindurchmarschieren können. Die Nacht begann zu leuchten. Überall hörte man Schreie und Stöhnen.

In ihrem Kopf hatte sie das Bild einer gewaltigen schwarzen Statue, die in die Wand des Abyssus geschnitten war. Auf Lawrence’ Aufschrei hin hob diese ihren riesigen Kopf und reagierte auf die Anziehungskraft der Tore. Ihre feste Gestalt verflüssigte sich und strömte vom Abyssus nach oben, ihre Silhouette ragte vor dem nächtlichen Hintergrund auf …

Im breiten hellen Bogengang der Tore näherte sich etwas – eine erst spärliche Dunkelheit, die vor dem hellen Leuchten Gestalt annahm und sich beim Näherkommen flackernd veränderte: eine gewaltige Schwärze, die aus großer Distanz auf sie zugerauscht kam.

Begleitet wurde sie von einem stetig anschwellenden Geräusch, wie das Brüllen von Maschinen und Tornados. Lawrence, der schluchzend auf seinen Knien lag, schrie dagegen an: »Es tut mir leid – meine Söhne, es tut mir leid.« Dann kamen Licht und Dunkelheit gemeinsam hervorgestürzt und ein Feuersturm riss die Welt mit sich fort.