10

Verschiedene Schauplätze
17. April 2024

New York

C armody fuhr von Teterboro direkt nach Manhattan zurück. Es war der zweite warme, sonnige Tag in Folge. Das Wetter ließ einen an Sommerurlaube und Grillpartys denken.

Nicht dass er sich erinnern konnte, wann er das letzte Mal solche Freuden genossen hatte.

Auf dem Riverside Drive stauten sich die Fahrzeuge. Während Carmody durch den zähflüssigen Verkehr Richtung Süden brauste, führte er über das Bluetooth-System in seinem Helm mehrere Telefonate mit dem Terminal. Nachdem er kurz mit Dixon gesprochen hatte, klingelte er bei Carol Morse durch.

»Herzogin«, sagte er, als sie abhob. »Hast du einen Moment Zeit?«

»Was ist das für ein Lärm?«

»Der Wind. Ich sitze auf einem Motorrad.«

»Immer auf der Sonnenseite des Lebens.«

»Du kannst gerne mal eine Runde mitfahren.«

»Sicher doch. Aber nur mit sehr großen Stützrädern«, sagte sie. »Was gibt’s?«

»Ich muss mit dir reden. Persönlich. Sagen wir in einer halben Stunde? Ich muss vorher noch woandershin.«

Es entstand eine Pause, und Carmody nahm an, dass Morse einen Blick in ihren Kalender warf.

»Heute ist dein Glückstag. Ich habe keine Termine«, sagte sie nach einer Minute. »Ich bin in meinem Büro.«

»Treffen wir uns lieber auf unserer Bank.«

»Du weißt schon, dass auf der Promenade keine Motorräder erlaubt sind?«

»Ich lasse es am Terminal stehen. Das ist meine nächste Station.«

Eine erneute Pause. »Was ist los, Mike?«

»Erklär ich dir später.«

Abermals herrschte für einen kurzen Moment Stille.

»Okay«, sagte sie schließlich. »Aber flieg auf dem Weg hierher bloß nicht auf die Schnauze.«

Carmody grinste hinter seinem Visier, wechselte die Fahrbahn und raste mit Vollgas an den langsam fahrenden Autos vor sich vorbei.

Kurz darauf erreichte Carmody den Terminal, berührte mit seinem Daumen einen biometrischen Scanner, wartete, bis eine dicke Schiebetür aus rostfreiem Stahl in die Wand glitt, und betrat die Schießanlage.

Während die Tür sich zischend hinter ihm schloss, schaute er die Anlage hinunter. Der längliche Innenraum war in zwei Bereiche unterteilt. Der physische Schießstand bestand aus einem Dutzend Bahnen, vier davon, für normale Gewehre, waren ein- bis zweihundert Meter lang, der Rest, für Handfeuerwaffen und Karabiner, dreißig bis fünfzig Meter. Es gab dort ein Lichtpult, bewegliche Ziele und andere programmierbare Elemente, aber keinen überflüssigen Schnickschnack. Der Schießstand glich jenen Anlagen, in denen auch Carmody normalerweise sein Training absolvierte. Wenn man seine Treffsicherheit verbessern wollte, tat man das auf diesem Schießstand mit Punkteanzeige.

Im anderen Bereich, der durch eine schalldichte, deckenhohe Wand von den Schießbahnen getrennt war, befand sich ein interaktiver 360-Grad-Simulator für Schusswaffentraining. Carmody nutzte so etwas nur selten. Die fünf riesigen hochauflösenden Projektionsflächen, die wie die Surroundanlage eines Kinos angeordnet waren, tauchten den Nutzer in ein realistisches Kampfszenario. Man verwendete echte Waffen, die allerdings mit Druckluft funktionierten und einen Laseraufsatz hatten.

Carmody entdeckte Dixon am Kontrollpult des Simulators, wo er eine Gruppe von drei Rekruten in ein virtuelles Chaos stürzte. Einer von ihnen hielt eine Benelli-M2-Flinte Kaliber 12, die beiden anderen hatten MP 7-Maschinenpistolen.

Dixon war stämmig und hatte braunes Haar und grobe Gesichtszüge. Er trug ein eng anliegendes marineblaues T-Shirt, und an einer kurzen Goldkette um seinen Hals hing ein Navy-SEALS -Anhänger mit Dreizack. Auf seinem linken Oberarm prangte die Tätowierung von einem General-Electric-Fernseher mit Testbild, auf dem in geschwungener Graffiti-Schrift der Name Else stand. So hieß sein Mädchen in München.

Carmody trat von hinten an ihn heran und blieb rechts neben ihm stehen. Dixons Kontrollpult bestand aus einem geneigten Doppeldisplay, Schwanenhalsmikro, Joysticksteuerung und Computertastatur. Das Display zeigte eine verkleinerte Wiedergabe des Szenarios auf den Projektionsflächen: gewundene Gänge mit Steinwänden, kunstvolle Teppiche und Ritterrüstungen. Angreifer mit Helmen und Schutzwesten sprangen hinter den Ecken hervor und feuerten ratternd ihre Waffen ab. Die Wände wischten vorbei, und dann stürzten die Rekruten auf einer abgewetzten Granittreppe in die Dunkelheit hinunter.

»Burg Graguscu«, sagte Carmody.

»Du müsstest dich erinnern.«

»Wissen sie, dass es am Ende der Treppe noch schlimmer wird?«

Dixon schüttelte den Kopf. »Ich will sie im Unklaren lassen.«

Carmody schwieg einen Moment. »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ihr euch bereithalten sollt. Du und Long.«

»Wofür?«

»Wir fliegen zurück nach Rumänien.«

»Wann?«

»Übermorgen hoffentlich.«

»Danke, dass du so früh Bescheid gibst.«

Carmody zuckte mit den Schultern. »Ich hätte es dir auch erst morgen sagen können.«

»Oder übermorgen, schätze ich.«

»Siehst du?«, sagte Carmody und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Also komm mir nicht blöd, obwohl ich so rücksichtsvoll bin.«

»Ich dachte, wir wären in Rumänien fertig.«

»Nicht ganz. Sagen wir, es ist ein Trip im Gedenken an die guten alten Zeiten.«

»Hm-hm.«

»Außerdem müssen wir dort einen Zwischenstopp einlegen, bevor wir zur Krim fliegen.«

»Jetzt ist es also die Krim«, sagte Dixon.

Carmodys Gesicht wurde wieder ernst. »Ich habe ein Einsatzteam zusammengestellt. Auf uns wartet eine große Aufgabe.«

Dixon schwieg eine Weile. Dann deutete er mit dem Kopf auf den Trainingsbereich. »Im Schacht unter der Burg werden sie in einen Hinterhalt laufen. Wie hat Wheeler ihn nochmal genannt?«

»Einen Initiationsbrunnen «, sagte Carmody. »Er wurde von den Tempelrittern erbaut.«

»Genau«, sagte Dixon und lachte wehmütig. »Rumänien. Mein Gott.«

Carmody musterte ihn und zeigte auf die Tätowierung an seinem Oberarm. »Dich erwartet ein verlängerter Urlaub, wenn wir fertig sind. Dich und Else, in den bayerischen Alpen.«

Dixon schwieg erneut. »Die Sache wird heftig, oder?«

»Ja.«

»Jetzt machst du mir Angst.«

Carmody zuckte mit seinen breiten Schultern.

»Besser, du weißt Bescheid und bleibst nicht im Unklaren«, sagte er.

Grigor hielt sich ein oder zwei Wagenlängen hinter Musil, nachdem er beobachtet hatte, wie dieser seine Töchter abgesetzt hatte. Er folgte ihm zur Queensboro Bridge nach Manhattan, und als der Agent die Auffahrt nahm, fuhr Grigor auf der belebten Straße ein kurzes Stück daran vorbei, bog in eine Seitenstraße und stellte sich auf einen leeren Parkplatz.

Er schaltete den Motor aus, holte sein Telefon hervor und rief eine Immobilien-Webseite auf. In die Suchleiste konnte man eine bevorzugte Postleitzahl, Adresse oder Gegend eingeben, und er tippte WOODMERE MIDDLE SCHOOL .

Sofort wurden fünf Einträge angezeigt. Der dritte von oben lautete: »Wunderschöner Bungalow am Ende einer sehr ruhigen Sackgasse. 3 Zimmer, 2 Bäder, stilvoller Wintergarten. Kurzer Fußweg zur Main Street in Flushing. In unmittelbarer Nähe der U-Bahn und Mittelschule. Zum Verkauf durch Eigentümer. Sofort beziehbar. Tel.: 718 – 555 – 7834.«

Grigor sah sich die Fotos der Immobilie an und überprüfte auf der GPS -Karte neben dem Eintrag ihren Standort. Das Haus war nur ein paar Blocks entfernt.

Er bog aus der Parklücke und fuhr zu der Adresse hinüber. Die Straße hieß Meadows Court. Grigor rollte am Bungalow vorbei und ließ kurz seinen Blick darüber wandern, während er sich dem Sackgassenschild näherte, bevor er erneut den Motor ausschaltete.

Das Haus stand leer. Die von Bäumen gesäumte Straße war ruhig und das Metallgeländer an ihrem Ende mit Gestrüpp und Unkraut überwuchert. Grigor blickte durch die Windschutzscheibe und sah, dass er sich auf der Kuppe eines kleinen Hügels befand.

Perfekt .

Er wählte die Nummer aus dem Eintrag. Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine Männerstimme. »Hallo?«

»Guten Morgen«, sagte Grigor. »Mein Name ist Wendell Balen, ich rufe wegen Ihrer Wohnungsanzeige an. Tut mir leid, dass ich Sie so früh belästige.«

»Kein Problem«, sagte der Mann am anderen Ende. »Ich wollte sowieso gerade ins Büro, Sie stören also nicht.«

»Wunderbar.«

»Ich heiße übrigens Fred Kaplan. Ich nehme an, Sie sind an dem Haus interessiert?«

»Ob Sie’s glauben oder nicht, Fred, ich stehe gerade mit meinem Wagen direkt davor. Ich habe gestern Abend im Internet die Anzeige gelesen und dachte, dass ich gleich am Morgen rüberfahre, um es mir anzuschauen. Es sieht genauso aus wie in der Anzeige … einfach wunderschön.«

»Ich mag es wirklich sehr«, sagte Kaplan. »Der Bungalow gehörte meiner verstorbenen Mutter. Sie hat ihn in einem tadellosen Zustand gehalten, wie Sie sehen können.«

»Ja, absolut«, sagte Grigor. »Mr. Kaplan, ich weiß, das ist ein dreistes Ansinnen … aber könnte ich einen Blick ins Innere werfen, wo ich schon mal da bin? Ich bin ernsthaft interessiert, sonst würde ich nicht fragen.«

Es entstand eine Pause. »Ich sag Ihnen was. Ich bin ganz in der Nähe. Wenn Sie eine kurze Führung durchs Haus wollen, kann ich auf einen Sprung vorbeikommen und es Ihnen zeigen, bevor ich zur Arbeit fahre.«

»Das wäre fantastisch, tausend Dank«, sagte Grigor. »Ich weiß das wirklich zu schätzen.«

»Kein Problem. Ich möchte das Haus an jemanden verkaufen, dem es wirklich gefällt, Mr. Balen. Sollen wir uns in einer Viertelstunde davor treffen?«

Grigor lächelte zufrieden.

»Ich warte dort auf Sie«, sagte er.

»Wir sollten wirklich aufhören, uns heimlich zu treffen«, sagte Carol Morse.

»Den Spruch habe ich ja noch nie gehört«, sagte Carmody.

Sie lächelte. Die beiden saßen auf der Bank an der Uferpromenade, wo Carmody mit seinem Espresso und ihrer Erdbeerlimonade in einem Papphalter gewartet hatte.

»Ich bin zwar langweilig, aber nicht blöd«, sagte sie. »Wir sind hier in Sichtweite der Zentrale. Man könnte uns sehen. Es könnte der Eindruck entstehen, dass wir irgendwas Unangemessenes besprechen.«

»Läuft es zu Hause so schlecht?«

»Ich meinte beruflich.«

»Aber ist es so schlimm?«

»Bleiben wir beim Thema.« Sie holte Luft und deutete mit dem Kopf auf den Terminal. »Ich möchte nicht den Anschein erwecken, dass wir vor irgendjemandem Geheimnisse haben.«

»Obwohl wir hier sitzen.«

Sie erwiderte nichts. Carmody reichte ihr die Limonadenflasche, nahm den Espresso aus dem Halter und zog den Plastikstreifen von seinem Deckel ab.

»Also zur Sache«, sagte er. »Ich habe eine große Bitte.«

Sie sah ihn an. »Es ist mal wieder einer dieser Tage.«

»Jetzt schon?«

»Ja«, sagte sie. »Okay, du zuerst.«

»Was meinst du damit?«

Morse nahm einen Schluck aus ihrer Flasche.

»Das heißt, dass ich auch eine Bitte habe.«

Fred Kaplan fuhr mit einem Nissan Altima am Bungalow in der Meadows Court vor und hielt vor der angrenzenden Garage. Grigor winkte ihm aus dem Vorgarten zu, während er ihn von Kopf bis Fuß musterte. Kaplan war in den Fünfzigern, nicht besonders groß, hatte schütteres Haar und trug eine Brille. Er hatte eine durchschnittliche Figur und einen dicklichen Hals. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte.

Er kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Haben Sie sich ein wenig umgesehen, während Sie gewartet haben, Mr. Balen?«

Grigor schüttelte ihm lächelnd die Hand.

»Nennen Sie mich bitte Wendell«, sagte er. »Ja, das ist wirklich ein hübsches Grundstück. Ziemlich abgeschieden.«

Kaplan zeigte auf das Ende der Sackgasse. »Hier oben auf dem Hügel hat man das Gefühl, als wäre man draußen auf dem Land. Aber weiter unten verläuft eine Straße, die zum belebtesten Viertel in ganzen Bezirk führt.« Sein Lächeln wurde noch breiter. »Als Kind habe ich hier eine wunderbare Zeit verbracht. Ich konnte auf dem Hügel spielen und so tun, als hätte ich mich im Wald verirrt. Aber wenn ich Hunger bekam, musste ich nur nach unten klettern und zur Pizzeria in der Main Street laufen. Man ist zu Fuß in fünf Minuten da.«

Grigor lachte. »Perfekt.«

»Das ist kein Queens-Akzent, den ich da höre«, sagte Kaplan. »Sie kommen aus dem Süden, oder? Entschuldigen Sie meine Neugier.«

»Aus North Carolina«, sagte Grigor. »Ich handle mit importierten Lebensmitteln, und achtzig Prozent meines Geschäfts läuft über New York. Darum habe ich beschlossen umzuziehen.«

»Haben Sie Frau und Kinder?«

»Irgendwann vielleicht«, sagte Grigor. »Momentan bin ich zu viel unterwegs.«

»Wahrscheinlich macht das den Umzug weniger stressig.«

»Allerdings.«

Kaplan deutete aufs Haus.

»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen. Wie ich schon am Telefon gesagt habe, meine Mom hat es in einem tollen Zustand gehalten.«

Die beiden betraten das Haus. Die Eingangstür führte in einen großen, hellen Wintergarten mit Panoramafenster. Abgesehen von einem heruntergelassenen Rollo war der Raum leer.

»Ich habe alle Möbel rausgeräumt«, sagte Kaplan. »Einige habe ich behalten, einige verkauft. Wenn Sie sich das Haus irgendwann später noch mal ansehen wollen, hole ich zwei Gartenstühle aus der Garage und wir können einen Kaffee trinken.«

Grigor nickte. Er folgte Kaplan durch das Haus und prägte sich den Grundriss ein. In der Küche fragte er: »Gibt es auch einen Keller? Ich kann mich nicht erinnern, ob das in Ihrer Anzeige stand.«

Kaplan deutete auf die Tür zu seiner Rechten. »Ich zeig’s Ihnen«, sagte er. »Meine Eltern haben ihn nie fertiggestellt, aber mein Dad hat ihn als Werkstatt benutzt. Der Keller liegt teilweise über der Erde, sodass er trocken bleibt.«

Er trat an die Tür und hielt sie auf.

Grigor lächelte. »Nach Ihnen.«

Kaplan schaltete das Licht ein und begann hinunterzusteigen. Grigor zählte zwölf Stufen. Sie waren ziemlich steil und führten links an einer Wand entlang, rechts verlief ein schlichtes Holzgeländer. Der Boden unten war aus Beton.

Grigor wartete, bis Kaplan den ersten Schritt machte, dann versetzte er ihm mit beiden Händen einen kräftigen Stoß. Kaplans Füße rutschten von der Stufe, und er stürzte mit einem stummen Aufschrei überraschten Entsetzens in die Tiefe. Dort klatschte er mit einem dumpfen Schlag auf den Beton, und Grigor eilte ihm hinterher.

Kaplan lag mit dem Gesicht nach unten stöhnend auf dem Boden, und aus seiner Stirn strömte Blut. Grigor ging über ihm in die Hocke, packte mit beiden Händen seinen Kopf und knallte ihn einmal, zweimal, dreimal gegen den Beton, bevor er ihn zur Seite drehte, sodass seine Wange den Boden berührte. Dann platzierte er ein Knie in seinem Nacken und drückte es nach unten.

Kaplan schlug wild um sich, rang keuchend nach Luft. Doch Grigor ließ sein Knie, wo es war. Nach drei Minuten begann Kaplan zu zittern, entleerte seinen Darm und starb.

Grigor durchsuchte seine Taschen, nahm ihm Schlüssel, Brieftasche und Telefon ab und zerrte die Leiche in eine Ecke, hinter den Warmwasserspeicher. Dabei hinterließ das Blut aus Kaplans zertrümmertem Schädel auf dem Beton eine Schleifspur.

Auf dem Weg zurück zur Treppe achtete Grigor darauf, nicht hineinzutreten.

Nordpazifik

Li Quangs einstündige Sinkfahrt war fast zu Ende; die vertikalen Strahlruder arbeiteten gegen die Bewegungsrichtung, und die Schrauben wirbelten eine feine Gesteinswolke auf, während das Boot zehn Meter über dem Meeresboden verharrte.

Bis jetzt war glücklicherweise alles ohne Zwischenfall verlaufen. Er hoffte, dass es so bleiben würde, und machte sich zum Aufsetzen bereit, indem er die hellen Stroboskoplampen am Rumpf und die Scheinwerfer auf der Oberseite einschaltete. Ihr gleißendes Licht überstrahlte den weicheren Schein der Frontleuchte und tauchte den Boden in eine grelle Lichtsäule. Kleine Meeresbewohner bohrten sich auf der Flucht vor der plötzlichen Helligkeit in den Schlammteppich.

Li warf einen Blick auf seine Instrumente. Die hohe Wasserdichte verminderte und verzerrte seine räumliche Wahrnehmung, sodass er nur noch, wie U-Boot-Piloten es nannten, ein zweieinhalb-dimensionales Sichtfeld hatte. Gefährliche Objekte konnten näher oder weiter entfernt, größer oder kleiner erscheinen, als sie tatsächlich waren. Er würde mit einem Auge das Terrain im Blick behalten und mit dem anderen das digitale Bedienfeld.

Momentan stimmten seine Beobachtungen und die elektronischen Anzeigen überein. Das Terrain unter ihm war flach und eben. Es gab in unmittelbarer Nähe keine erkennbaren Erhebungen oder aufragenden Felsen. Und auch keine langen Hügelketten, wie er sie im Marianengraben gesehen hatte; die etwa fünfzehn Meter hohen Hügel stießen wie Schornsteine extrem heißes, weiß gefärbtes Wasser aus. Die Huŏshānshi , oder vulkanischen Schlote, hätten die PVC -Beschichtung seiner Kameras und Messsonden geschmolzen.

Die Hand fest am Steuerknüppel glitt Li weiter vorwärts. Nach mehreren hundert Metern fuhr er nach rechts in nördliche Richtung, bis unter ihm der Graben mit dem Glasfaserkabel erschien.

Er hielt darüber an und tippte eine Nachricht für die Techniker an Bord der Xingyun Liwu in seinen Computer. Anschließend schaltete er die Strahlruder aus und pumpte etwas Wasser aus dem Tauchtank.

Um 05:17 pazifischer Sommerzeit setzte Li mit einem sanften Schlag auf dem Meeresboden auf. Der Einsatz lief genau nach Zeitplan, sein kleines Gefährt befand sich jetzt lotrecht über dem Glasfaserkabel. Er konnte durch sein kugelförmiges Sichtfenster sehen, wie es sich direkt vor ihm scheinbar endlos in die Ferne erstreckte.

Er nahm die Hände vom Steuerpult, holte aus einem Fach einen Elektrolytdrink und trank mit einem Strohhalm ein paar Schlucke der süßen Flüssigkeit. Sie schärfte seine Sinne und versetzte seinem Körper einen Energieschub.

In den nächsten sechs Stunden wartete auf ihn eine Menge Arbeit. Und er durfte sich keinen Fehler erlauben.

New York

Nachdem Grigor den ganzen Morgen unterwegs gewesen war, kehrte er nach Manhattan ins Hotel zurück. Er hatte Kaplans Wagen in eine Gegend mit leer stehenden Fabrikgebäuden gefahren, die Nummernschilder entfernt und sie ein paar Blocks weiter in eine Mülltonne geworfen. Anschließend hatte er eine Mitfahrzentrale angerufen und sich zu seinem Mietwagen in der Meadows Court zurückbringen lassen.

Kurz nachdem er das Hotelzimmer betreten hatte, holte er eine frische Wasserflasche aus dem kleinen Kühlschrank, klappte seinen Laptop auf und suchte auf Google nach der Webseite der Woodmere Middle School in Flushing, Queens. In der Ergebnisliste erschien ein Link, und er rief die Homepage auf und klickte auf einen Menüpunkt, worauf der monatliche Klassenkalender angezeigt wurde. Daraus ging hervor, dass der Unterricht am nächsten Tag um drei Uhr endete und keiner der Schüler vorzeitig nach Hause gehen würde.

Grigor klickte auf den Menüpunkt für Kontakte, und es erschienen eine alphabetische Namensliste sowie E-Mail-Links von Direktor, Konrektor, Tutoren und Lehrern. Auf der Seite stand auch die Nummer der Telefonzentrale.

Er prägte sie sich zusammen mit den Namen von Interesse ein und nahm erneut einen Schluck Wasser. Einen Teil der nötigen Informationen hatte er jetzt in Erfahrung gebracht, der Rest jedoch war etwas schwieriger.

Er öffnete ein neues Fenster, klickte auf das YouTube-Symbol und tippte »Musil Interview Cyberangriff New York« in die Suchleiste.

Es erschien eine lange Liste mit Posts. Die meisten von einem vierminütigen Videoclip – er zeigte einen Ausschnitt aus einer im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz, die das FBI mehrere Wochen nach dem Angriff abgehalten hatte.

Grigor spielte ihn ab. Der Agent schien sich vor der Kamera nicht wohl zu fühlen.

»Agent Musil, der 27. Juli ist ein Tag, den wohl niemand in diesem Land je vergessen wird. Wie fühlt es sich an, dass einige Leute Sie als einen der größten Helden dieses Tages bezeichnen?«

»Das ist sehr nett von ihnen. Aber ich betrachte mich nicht als Helden.«

»Sie haben einem Jungen das Leben gerettet und dabei einen professionellen Killer verfolgt, einen Mann, der versucht hat, die Präsidentin zu töten. Verstehen Sie, warum Ihre Geschichte die Menschen so berührt?«

»Bei allem Respekt, Sir, aber ich habe nur meinen Job gemacht. Ein Kind war in Gefahr, und ich habe entsprechend gehandelt.«

»Agent, ist es für Sie als Sikh, als Mitglied einer Glaubensgemeinschaft, die oft missverstanden wird, nicht befriedigend, dass man dieser Gemeinschaft seit Ihrem Eingreifen mit so viel Wohlwollen begegnet?«

»Wenn Sie Gemeinschaft sagen … Ich bin Ehemann, Vater, gläubiger Sikh, New Yorker und Amerikaner. Das ist nicht voneinander zu trennen. Ich bin überzeugt, dass es zum Leben gehört, anderen ein Beispiel zu geben. Und falls die Menschen an diesem Tag etwas gelernt haben, dann hat er vielleicht doch noch etwas Gutes bewirkt.«

Der Clip ging noch zwei Minuten weiter. Grigor schaute ihn sich zu Ende an und sprach stumm Musils Antworten mit, eignete sich sein Sprachmuster an. Als er den Clip ein zweites und drittes Mal abspielte, antwortete er zusammen mit Musil in einem natürlichen Tonfall.

»Ich habe nur meinen Job gemacht. Ein Kind war in Gefahr, und ich habe entsprechend gehandelt … Wenn Sie Gemeinschaft sagen … Ich bin Ehemann, Vater, gläubiger Sikh …«

Grigor schaute sich das Video noch ein paarmal an und zerlegte die Stimme des Agenten in ihre Bestandteile: Tonlage und Variationen der Klangfarbe, Phrasierung und Artikulation, Betonungen, Intonation und Wechsel in Rhythmus und Sprachmelodie. Es gab noch zwei, drei weitere Interview-Clips, und er spielte jeden mehrmals ab und imitierte Musils Antworten auf die Fragen der Reporter, indem er die Eigenschaften seiner Stimme nachahmte und weiter verfeinerte.

Eine Stunde später stand er auf und ging zur Frisierkommode hinüber. Er war jetzt bereit, seine Imitation zu überprüfen.

»Hallo, hier ist Amenjot Musil«, sagte er vor dem Spiegel. »Ich rufe wegen meiner Töchter an, sie gehen auf Ihre Schule.«

Er grinste zufrieden.

Und sein Spiegelbild grinste zurück.

Kali saß gerade vor ihrem Laptop, als Carmody in ihre Wohnung zurückkehrte. Beim Geräusch der Tür klappte sie rasch den Bildschirm herunter.

»Alles startklar«, sagte er beim Betreten des Wohnzimmers.

»Wann brechen wir auf?«

»Übermorgen.«

»Ich muss noch mit Natasha Mori sprechen.«

»Ja.«

Er zog einen Stuhl hervor und setzte sich neben sie an den Tisch.

»Ein wirklich nettes Motorrad hast du«, sagte er.

»Hast du es geschafft, diesmal keinen Unfall zu bauen?«

»Das ist nicht fair. Beim letzten Mal habe ich ein frisiertes Auto im Schnee verfolgt. Und überall standen riesige Heuhaufen herum.«

Sie stieß ein Lachen hervor. Tief aus ihrem Innern, rau und zäh wie Sirup. Carmody hatte sie nie zuvor so lachen gehört.

»Ich habe mich auf dem Rückweg vom Flughafen mit der Herzogin getroffen«, sagte er. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

»Als Gegenleistung wofür?«

»Für den Gefallen, den sie mir tut. Es hat mit dem verschwundenen Schiff zu tun. Ich erkläre es dir später.«

»Fahr fort.«

»Es gibt eine Firma namens Seven Winds, mit Sitz außerhalb von Penang«, sagte er. »Ich brauche ein paar Dateien aus dem System ihrer Personalabteilung.«

»Wie schnell brauchst du sie?«

»Bevor wir fliegen.«

Kali blickte ihm in die Augen.

»Der Zeitunterschied beträgt zwölf Stunden«, sagte sie. »Das heißt, ich müsste sofort loslegen.«

Carmody zuckte leicht mit den Achseln.

»Ich werde versuchen, dir nicht in die Quere zu kommen.«

Leo Harris hockte an seinem Schreibtisch, vor sich einen dicken Stapel Adoptionsformulare. Das Treffen mit Morse und Michaels wegen der Stalwart war jetzt eine Stunde her, und er hatte ein paar Telefonate geführt, um wegen der Durchsuchungsbeschlüsse für CloudCable etwas Druck zu machen.

Als er damit fertig war, beschloss er, sich ein wenig mit den Formularen zu beschäftigen. Er hatte sie sich bereits gestern Abend zu Hause vorgenommen. Er hatte vor ihnen an seinem Küchentisch gesessen und eine Tiefkühlpizza in sich hineingestopft, während Mack, seine Schildkröte, sich neben der Spüle über den Obstsalat in seiner Schüssel hergemacht hatte.

Er hatte es für das Beste gehalten, die Dokumente etappenweise durchzuarbeiten. Für ein, zwei Stunden die Kästchen anzukreuzen und Fragen zu beantworten, anschließend eine kurze Pause einzulegen und weiterzumachen, bis er nicht mehr konnte.

Die beiden ersten Seiten betrafen vor allem seine Absichten, und er war ziemlich schnell damit durch. Als Nächstes musste er seine persönlichen Daten angeben. Den üblichen Kram.

Aber auf der dritten Seite kam er ins Stocken. Man verlangte seine vollständige Krankengeschichte, Informationen zu seinem Gesundheitszustand und sämtlichen Medikamenten, die er nahm, sowie die Namen, Adressen und Telefonnummern seiner Ärzte. Leo hatte alles nachgeschlagen und eingetragen und anschließend eine Pause gemacht, um heiß zu duschen.

Im nächsten Abschnitt ging es hauptsächlich um Informationen zu Rachel, darunter seine handschriftliche Beurteilung ihrer Persönlichkeit und geistigen Verfassung. Was glaubt das Kind, warum es von seinen Eltern/seinem Elternteil getrennt wurde? Bitte erklären. Nehmen Sie das Kind als ausgeglichen wahr? Bitte erklären. Was würde dem Kind am meisten ein Gefühl von Zuhause vermitteln? Hat das Kind Lieblingsspielzeuge, bestimmte Schlafzeiten, Angewohnheiten etc.? Bitte erklären. Welchen religiösen Hintergrund hat das Kind, und welche Anforderungen sind damit verbunden?

Erklären, erklären, erklären.

Leo hatte eine Weile dagesessen und nachgedacht. Er kannte Rachel seit ihrer Geburt. Damals waren er und Charlotte bereits über ein Jahrzehnt lang enge Freunde gewesen, seit ihrer ersten gemeinsamen Ermittlung. Sie hatte ihm danach den Spitznamen Zweifacher Mitzwa-Mann verpasst – Mitzwa bedeutete auf Jiddisch gute Tat .

Der Kinderpornoring Dr. Midnight war ein Zusammenschluss reicher, politisch vernetzter Perverser gewesen, und Leo hatte ihn wie einen Ballon voller Schlamm zum Platzen gebracht. Mitzwa Nummer eins, hatte Charlotte es genannt. Jedes Mal wenn er daran zurückdachte, fand er stets, dass dies der größte und wichtigste Erfolg seiner gesamten FBI -Laufbahn gewesen war. Außer der Präsidentin das Leben zu retten natürlich. Aber das war später.

Zum Zeitpunkt der Verhaftung arbeitete er für die Sondereinheit Internetverbrechen gegen Kinder und Charlotte in ihrem ersten Jahr als Staatsanwältin für den östlichen Regierungsbezirk von New York. Sie war eine besonnene, blitzgescheite, hartnäckige Frau und verließ sich bei der Gerichtsverhandlung voll und ganz auf seine Unterstützung. Falls es sie je belastete, als Neuling gegen ein hochkarätiges Verteidigerteam anzutreten – und das tat es bestimmt –, dann merkte er es ihr nicht an. Sie stand den Fall mit ihm von Anfang bis Ende durch und war genauso entschlossen wie er, für diese Widerlinge die Höchststrafe zu erwirken. Das spornte Leo an, nach weiteren Beweisen zu suchen, die die Anklage gegen sie untermauerten.

Er fand sie im E-Mail-Konto des Oberperverslings, das dieser unter einem falschen Namen eingerichtet hatte: einen Dropbox-Link, mehrere verschlüsselte Dateien und schließlich ein Video von dem Typen selbst, das ihn beim Analverkehr mit seinem Neffen zeigte. Diese Fundgrube der Verdorbenheit zwang den Mann, einen Deal einzugehen und seine widerwärtigen Komplizen ans Messer zu liefern. Außerdem konnte Charlotte auf diese Weise verhindern, dass die von ihm missbrauchten Kinder im Zeugenstand ihre schrecklichen Erlebnisse erneut schildern mussten. Mitzwa Nummer zwei für Charlotte.

Daher der Name zweifacher Mitzwa-Mann.

Bei dem Essen, das zur Feier der Verurteilung stattfand, hatte Leo Charlottes Ehemann Drew kennengelernt. Er war ein netter Bursche, erzählte schlechte Witze und unterrichtete am John Jay College Strafrecht. Soweit Leo sich erinnerte, wurde bei ihm zwei Monate nach dem Essen Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium diagnostiziert. Genau zu dem Zeitpunkt, als Charlotte erfuhr, dass sie schwanger war.

Drew Pemstein sollte sein einziges Kind nie kennenlernen. Er wusste, dass es ein Mädchen war, und er gab seiner Tochter zusammen mit Charlotte den Namen seiner Großmutter. Aber wenige Wochen vor ihrer Geburt starb er.

Leo erinnerte sich, wie Charlotte auf Drews Beerdigung von ihren Gefühlen überwältigt worden war, und dann später in ihrem Haus bei der Schiv’a, der Woche der gemeinsamen Trauer nach dem Begräbnis. Aber danach nie wieder. Kurzerhand brach sie ihren Mutterschaftsurlaub ab und kehrte mit ihrem gewohnten Optimismus ins Büro des Generalstaatsanwalts zurück. Sie erklärte Leo und Carol, dass sie es ihrem ungeborenen Kind schuldig sei, positiv zu bleiben, da es für das Baby schädlich sein könne, wenn sie sich während der Schwangerschaft gehen lassen würde. Das sollte Leo nie vergessen.

Ebenso wenig jenen Moment, als Charlotte ihm die große Frage stellte. Rachel war damals etwa achtzehn Monate alt, und Leo führte mit Charlotte erneut gemeinsame Ermittlungen durch, gegen eine Bande von Drogendealern, die über die sozialen Medien Stoff an Teenager verkauften. Eines Tages, während der Vorverhandlungen, stellte sie ihm bei einem Mittagessen in Chinatown einfach diese Frage. Ohne Vorrede, ohne Warnung, ohne irgendeinen Fingerzeig, dass sie dieses Thema ansprechen würde. Sie verglichen gerade ihre Notizen zu den Beweismitteln, und man hatte ihnen ihre Frühlingsrollen serviert, als sie plötzlich damit herausplatzte.

»Ich möchte, dass du Rachels Patenonkel wirst. Kannst du dir das vorstellen?«

Leo, der mit seinen Stäbchen eine Frühlingsrolle von seinem Teller genommen hatte, hielt damit vor seinem Mund inne.

»Warum ich?«, fragte er.

»Gibt es jemand Besseren?«, sagte sie.

»Charlie, ich bin kein Jude«, sagte er. »Ich dachte, es geht darum, das Kind in der Religion zu unterweisen, falls dir irgendwas zustößt.«

»Nicht für mich«, sagte sie. »Für mich geht es darum, dass jemand auf sie aufpasst und ihr den Unterschied zwischen Recht und Unrecht beibringt. Und es schadet auch nichts, dass sie dich anhimmelt. Also noch mal … Gibt es jemand Besseren?«

Leo saß mit der Frühlingsrolle vor seinem Mund da. »Rachel wird mich nicht brauchen, damit ich ihr irgendwas beibringe«, sagte er. »Du wirst lange genug auf der Welt sein, um Urgroßmutter zu werden.«

Sie lächelte ihn an. »Ich gebe mir Mühe, Leo. Aber ich möchte ruhig schlafen können. Du kennst ja den Spruch: Hoff auf das Beste, und sei auf das Schlimmste vorbereitet

In Leos Erinnerung hatte die darauf folgende Stille mehrere Minuten gedauert. Aber wahrscheinlich war es nicht so lang gewesen.

Schließlich zuckte er mit den Schultern.

»Angenommen, ich bin einverstanden«, sagte er. »Wäre ich dann ein dreifacher Mitzwa-Mann?«

Charlottes Lächeln wurde breiter, aber ihre Augen blieben ernst.

»Diese Mitzwa geht auf mein Konto«, sagte sie. »Ich gebe meinem einzigen Kind etwas ganz Besonders. Jemanden ganz Besonderes. Wenn dieser jemand einverstanden ist, ihr Patenonkel zu werden. Und verspricht, sich um sie zu kümmern, falls ich das nicht mehr kann.«

Erneutes Schweigen. Leo schluckte schwer. Holte tief Luft. Und nickte einmal.

»Okay, das werde ich«, sagte er. »Versprochen.«

Das war vor acht Jahren gewesen.

Wo sind die Eltern des Kindes? Wird das Kind eine aktive Beziehung zu ihnen aufrechterhalten? Werden die Eltern es anrufen oder besuchen? Bitte erklären .

Gestern Abend am Küchentisch hatten Leos Augen irgendwann so sehr angefangen zu brennen, dass er sie immer wieder heftig gerieben hatte. Schließlich war er aufgestanden, hatte Mack zu seinem Terrarium getragen und sich aufs Ohr gehauen.

Heute Morgen hatten sie dann in Carols Büro über China und dessen Geheimnisse gesprochen. Über die CIA , die NGA und deren Geheimnisse. Und dass all diese Geheimnisse, wie Carol zu Recht gesagt hatte, zu einem Krieg führen könnten.

Leo nahm einen Stift aus dem Becher auf seinem Schreibtisch. Wie jeder Cop oder Ermittler war er es gewohnt, in seinen Berichten lediglich die für einen Fall relevanten Fakten und Beobachtungen festzuhalten.

Bei dem Formular vor ihm auf dem Tisch war das anders. Es verlangte von ihm, seine Gedanken und Gefühle ausführlich darzulegen, und er wusste nicht, ob er dazu in der Lage war.

Was glaubt das Kind, warum es von seinen Eltern/seinem Elternteil getrennt wurde? Bitte erklären.

Leo holte Luft, zögerte, holte erneut Luft und tippte mit dem Stift auf das Blatt. Dann schrieb er:

Rachel Pemsteins Eltern sind beide tot. Ihr Vater ist vor ihrer Geburt gestorben. Ihre Mutter während des Cyberangriffs im Jahr 2023 bei einem Autounfall. Rachel denkt, dass …

Plötzlich erstarrte seine Hand. Ihm wurde klar, dass er keine Ahnung hatte, was Rachel über den Tod ihrer Eltern dachte. Er hatte sie nie gefragt.

Dafür gab es eine Menge Gründe. Er hatte monatelang im Krankenhaus gelegen, während eine entfernte Tante sich um Rach gekümmert hatte. Danach hing er zu Hause mehrere Monate an einem Atemgerät. Schließlich kehrte er in seinen Job zurück, und es gab den Angriff auf den Janus-Stützpunkt. Und jetzt ging es um China und alles andere.

Lauter Gründe. Gute Gründe, wie er fand.

Aber stimmte das?

Leo saß da und dachte an Charlotte. Und an Rachel. Dachte an das, was er tun musste.

»Okay, das werde ich«, sagte er plötzlich in die Stille hinein. »Versprochen.«

Eine Minute später griff er nach dem Telefon.

Es war nicht besonders schwer oder kompliziert, sich in das System zu hacken. Kali musste dabei nur geduldig, methodisch und gewissenhaft vorgehen.

Als Erstes startete sie eine Websuche mit den Stichwörtern Seven Winds Group Malaysia Personalabteilung. Als vierter Treffer wurde in der Ergebnisliste die LinkedIn-Seite der Personalchefin, einer Frau namens Farah Tan, angezeigt.

Ein Klick mit dem Touchpad, und schon konnte Kali die öffentlich zugänglichen Informationen lesen, die Tan auf die Seite gestellt hatte. Darunter ein Profilfoto sowie Angaben zu Berufserfahrung, Ausbildung und Studienabschluss. Rechts im Fenster, unter der Überschrift Ebenfalls Angesehen , war eine Liste mit etwa zwanzig Namen und Profilfotos von Personen, deren Links bei ähnlichen Suchanfragen angezeigt wurden. Vier davon – drei Frauen und ein Mann – arbeiteten ebenfalls für die Personalabteilung von Seven Winds in Malaysia.

Kali kopierte die fünf Treffer zu ihren digitalen Notizen und sah weiter die Ergebnisliste durch. Auf der nächsten Seite fand sie zwei weitere Mitarbeiterinnen der Abteilung. Eine hatte wie Farah Tan ein öffentliches LinkedIn-Profil erstellt, die andere ein ähnliches Profil auf einer Seite namens ZoomFind. Erneut rief Kali die dazugehörigen Such-Links auf und kopierte sie.

Nach einer halben Stunde hatte sie eine Liste mit achtzehn Angestellten der Personalabteilung. Sie loggte sich unter einem Decknamen bei LinkedIn ein, um auf die nur für Mitglieder einsehbaren Kontaktdaten wie Büronummern und E-Mail-Adressen zuzugreifen.

Die Hälfte war geschafft. Nach ein paar Schlucken Tee und einer kurzen Dehnübung, um ihren verspannten Nacken zu lockern, nahm sie den nächsten Schritt in Angriff.

Sie musste jetzt auf den wichtigsten Social-Media-Plattformen die achtzehn Mitarbeiter der Personalabteilung aufstöbern. Dafür loggte sie sich mit falschem Benutzernamen und Passwort in die jeweilige App ein und tippte die Namen der Mitarbeiter in die Suchleiste.

Sie erzielte jede Menge Treffer. Vierzehn der achtzehn Mitarbeiter waren bei Facebook, Instagram oder Chirp registriert. Und zwölf der vierzehn hatten bei gleich mehreren Seiten ein Konto. Nur drei hatten die höchste Sicherheitsstufe der Datenschutzeinstellungen aktiviert. Die Inhalte der anderen waren öffentlich zugänglich.

Kali ignorierte die drei sicheren Konten und durchsuchte die anderen. Für ihre Zwecke am interessantesten waren die Konten der Personalreferenten und stellvertretenden Personalchefs, da die Bewerbungen und Lebensläufe in der Regel zunächst bei ihnen landeten.

Diese Gruppe bestand aus sechs Frauen und drei Männern. Vier der Frauen und zwei der Männer hatten als Beziehungsstatus Single angegeben. Alle waren jünger als fünfunddreißig und drei jünger als fünfundzwanzig. Die perfekte Altersgruppe, denn sie war am anfälligsten für Phishing-Angriffe.

Kali durchforstete eine Stunde lang gewissenhaft die in der persönlichen Chronik der Mitarbeiter geposteten Fotos und Videos und machte sich ein Bild davon, welchen Personentypus sie emotional und körperlich attraktiv fanden. Sie betrachtete die Fotos und Videos ihrer Partner und der von ihnen bewunderten Berühmtheiten: Schauspieler, Musiker, Sportler und andere bekannte Persönlichkeiten. Sie las die Kommentare und versteckten Andeutungen der Mitarbeiter zu Aussehen und Figur dieser Personen und notierte sich, wenn möglich, die angegebene oder mutmaßliche sexuelle Orientierung des jeweiligen Nutzers. Dabei scrollte sie in ihren Chroniken so weit zurück, wie sie konnte.

Zwei Stunden später stand Kali mit einem zufriedenen Nicken auf, machte einen weiteren Tee, goss Carmody ebenfalls einen Becher ein und setzte sich wortlos trinkend neben ihn aufs Sofa. Er fragte weder, wie sie vorankam, noch, wie lange sie noch brauchte. Er saß einfach nur da und trank, gab ihr Gelegenheit, sich zu entspannen.

Das mochte sie an ihm.

Nach einer kurzen Pause kehrte sie zum Computer zurück und sah sich ihre Zielpersonen an. Alle sechs waren geeignete Kandidaten für ihren gezielten Phishing-Angriff. Kali würde zwei E-Mails mit eingebetteten Links zu webbasierten Lebensläufen verfassen, eine für die Männer, eine für die Frauen. Die detaillierten Lebensläufe sollten möglichst glaubwürdig klingen und enthielten als Clickbait ein vergrößerbares Profilfoto. Sowohl die Identität der Bewerber – einer männlich, einer weiblich – als auch die Fotos waren gefälscht; es handelte sich um Deepfake-Bilder, die Kali mit einer KI -gestützten Software generierte.

Drei Stunden später warf sie ihren Köder aus.

Nun musste sie warten, welcher ihrer Kandidaten anbiss.

Der chinesische Imbisswagen vor dem Eingang des Terminals an der Tenth Avenue gehörte zu Jot Musils bevorzugten Anlaufstellen, und es war Zeit fürs Mittagessen. Harris hatte einen Eilantrag für einen Durchsuchungsbeschluss eingereicht, um Zugang zu CloudCables elektronischen Unterlagen zu bekommen, und Musil war zuversichtlich, dass die Notlage der Stalwart den Vorgang beschleunigen würde. Aufgrund der Informationen, die er zusammen mit Ki Marton über den falschen Gelfland zutage gefördert hatte, musste man von einer unmittelbaren Gefährdung der nationalen Sicherheit ausgehen; hoffentlich würden ihre Ermittlungsergebnisse einen Richter davon überzeugen, den Antrag zügig zu bewilligen.

Musil wollte unbedingt nach New Hampshire zurückfliegen, sobald der von einem Richter unterschriebene Durchsuchungsbeschluss bei ihnen einging. Da er annahm, dass man die Angelegenheit nicht hinauszögern würde, müsste das in Kürze passieren. Bis dahin blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten.

Und sich beim Chinesen etwas zu essen zu holen, denn die Warterei hatte ihn unglaublich hungrig gemacht.

Er verließ das Gebäude an der Tenth Avenue und lief nach rechts auf den Gehweg. Der Imbisswagen stand wie üblich einen halben Block entfernt an der südwestlichen Ecke der Fifty-Fifth Street. In der Schlange warteten nur drei Personen.

Musil stellte sich an, warf einen Blick auf die Speisekarte und bestellte Hähnchen mit Brokkoli, gebratenem Reis und Frühlingsrollen. Als er die Tüte mit dem Essen zum Terminal zurücktrug, begann sein leerer Magen zu knurren. Das Essen duftete köstlich.

Grigor, der in der Menschenmenge auf der anderen Straßenseite stand und Musil durch seine Sonnenbrille beobachtete, nahm mit einem Strohhalm einen Schluck von seiner Cola. Nachdem der Agent das Gebäude betreten hatte, beschloss Grigor, ein paar Minuten die Gegend zu inspizieren.

Er lief die Tenth Avenue hinauf, vorbei an einem kurzen Abschnitt mit Restaurants, Pizzerien und Lebensmittelgeschäften. An der Fifty-Ninth Street, wo sich die Tenth Avenue zur Amsterdam Avenue verengte, entdeckte Grigor einen großen Haushaltswarenladen und trat ein. Nachdem er in der Klebstoffabteilung eine Rolle Gaffer-Tape geholt hatte, durchstöberte er die Gänge nach einer Packung weißer Stofftaschentücher, bezahlte und verstaute die Sachen ordentlich in seinem Rucksack.

Grigor schenkte der Kassiererin ein freundliches Lächeln, verließ den Laden und lief wieder Richtung Downtown. Auf der Straßenseite gegenüber dem Terminal ging er den Weg zurück, den er gekommen war, vorbei am Haupteingang mit dem Imbisswagen, wo Musil sich etwas zu essen geholt hatte.

Als Grigor die Gegend zwei Blocks weiter südlich des Gebäudes erkundete, entdeckte er vor sich am Straßenrand eine Reihe parkender Taxis. Insgesamt fünf Wagen. Da die Fahrspuren der Tenth Avenue alle nach Norden verliefen, zeigten die Taxis mit der Motorhaube in diese Richtung.

Grigor blieb auf dem Gehweg stehen. Während er dort stand, hielt ein sechster Taxifahrer, parkte seinen Toyota neben dem letzten Wagen in zweiter Reihe und stieg aus. Er hatte dunkle Haut, kurz geschorene Haare, einen Vollbart und trug eine gestrickte Takke , die Kopfbedeckung muslimischer Männer. Er lief zum Bordstein und weiter nach Norden, in Grigors Richtung. Nach ein paar Metern betrat er rechts von sich einen Laden oder ein Restaurant.

Grigor ging weiter Richtung Downtown, auf den Taxistand zu. Dabei bemerkte er entlang der Straße mehrere indische, pakistanische und bangladeschische Restaurants und Gewürzläden. Die Tür, durch die der Fahrer getreten war, gehörte zu einem Restaurant namens Share Punjabi. Davor stand eine Reklametafel mit der Aufschrift MITTAGSBUFFET 12 – 5 UHR .

Er marschierte darauf zu, blieb erneut stehen und spähte wie ein potenzieller Gast durch die großen Fenster. Auf der linken Seite des Innenraums stand ein riesiges Buffet und in der Mitte ein langer Tisch wie in einer Kantine. An der rechten Wand konnte er ein paar kleinere Tische erkennen und dahinter, in einer Ecknische drei Männer, die auf einem verzierten Gebetsteppich knieten. Grigor bemerkte, dass einer von ihnen der Taxifahrer war, der draußen in zweiter Reihe geparkt hatte.

Grigor blickte auf seine Uhr, es war kurz nach zwölf. Die Männer waren dem islamischen Ruf zum Gebet gefolgt. Genauer gesagt, zum dhuhr salah , dem Mittagsgebet.

Er stand auf dem Gehweg und dachte nach. Die Taxifahrer in New York arbeiteten normalerweise in Zwölf-Stunden-Schichten. Die erste ging von fünf Uhr morgens bis fünf Uhr abends. Und die zweite erstreckte sich über die nächsten zwölf Stunden. Die Männer hatten also etwa die Hälfte ihrer Schicht absolviert. Zu diesem Zeitpunkt legten sie meistens eine Pause ein. Wenn sie ihr Gebet beendet hatten, würden sie im Restaurant zusammen essen. Der Lage des Taxistands nach zu urteilen, trafen sie sich wahrscheinlich regelmäßig. Angenommen, sie würden zwanzig Minuten im Gebet verbringen und anschließend etwas essen, dann würden sie eine Stunde im Restaurant bleiben und alle etwa gleichzeitig zu ihren Taxis zurückkehren.

Grigor lief ein paar Meter weiter und blieb neben dem Taxistand stehen. Mit einem flüchtigen Blick erkannte er zwei Toyota-Hybridmodelle, einen Tesla Model 3 und zwei Nissan-Personentransporter. Zusammen mit dem in zweiter Reihe parkenden Fahrzeug waren es insgesamt drei Personentransporter.

Nach einer Minute richtete er den Blick auf den in nördlicher Richtung fließenden Verkehr. Die New Yorker Taxiflotte bestand aus nur einer Handvoll unterschiedlicher Marken und Modelle. Auf den ersten Blick sahen sie alle gleich aus.

Grigor beobachtete weiter den Verkehr.

»Almadi shabah, almustaqbal hulm« , murmelte er auf Golf-Arabisch.

Die Vergangenheit ist ein Geist, die Zukunft ein Traum.

Während er dort stand und auf die Autos schaute, begannen seine Gedanken zu rasen, wie die Taxis, die auf der Tenth Avenue zwischen den Lkws, Bussen und Pkws hindurchflitzten.

Schließlich nickte er kaum merklich und lief, inmitten der Menschenmenge, weiter Richtung Downtown.

Nordpazifik

Li Quang hatte damit gerechnet, dass er sechs Stunden auf dem Meeresgrund verbringen würde, aber nach gut vier Stunden war er schon wieder zum Auftauchen bereit. Der Einsatz war ohne technische Probleme verlaufen, was seine Fahrt erheblich verkürzt hatte.

Er schrieb die mühelose Durchführung seinen Vorbereitungen und der modernen Ausstattung des U-Boots zu, besonders den acht elastischen, tentakelartigen Greifarmen. Sie waren den Gliedmaßen eines Tintenfischs nachempfunden, und ihre künstlichen Muskeln bestanden aus weichen, zusammenziehbaren Polymeren, sodass man sie mit demselben flexiblen Aktionsradius wie bei diesem Meeresgeschöpf strecken, zusammenrollen und sogar ihre Form verändern konnte. Die Arme waren technisch sehr viel ausgereifter als herkömmliche Robotergreifer und ermöglichten eine überaus präzise Handhabung.

Dank ihrer zielgerichteten, minutiös genauen Bewegungen konnte man wie ein Chirurg mit ihnen hantieren. Unter Lis gewissenhafter Aufsicht hatten sich die zwei Meter langen Tentakel über dem Graben ausgestreckt, hineingebohrt und das Kabelsegment herausgezogen, ohne die Sandschicht darüber großartig aufzuwirbeln. Li hatte das Auftrennen des Kabels und die Installation des Dämpfungsglieds in einem AR -Trainingsraum immer wieder geübt und dabei eine physische Version der Greifer in einer virtuellen Unterwasserumgebung benutzt. Die Simulation hatte die Bedingungen, unter denen er arbeiten würde, bis ins kleinste Detail wiedergegeben, selbst die Reichweite und Helligkeit seiner Halogenscheinwerfer.

Der Job war erledigt – das Kabel lag wieder fein säuberlich in seinem Graben, der Graben war mit Schlick aufgefüllt, und die Tentakel des U-Boots ruhten zusammengerollt auf seinen metallischen Rundungen. Erneut tippte Li eine Nachricht für sein Unterstützerteam und begann sorgfältig, Vorbereitungen zum Auftauchen zu treffen.

Einige Minuten später schaltete er die Strahlruder ein. Das U-Boot erhob sich vibrierend vom Grund, schaukelte und erzitterte, bevor es sich allmählich stabilisierte und langsam, aber stetig aufstieg.

Li lehnte sich in seinen Sitz zurück, um es sich, soweit das ging, gemütlich zu machen.

Hinauf zum Schiff war es ein langer Weg.