16

New York
19. April 2024

D as CyberOperations Training Center der Net Force nahm eine komplette Etage des Terminals ein. Die geräumigen Unterrichtszimmer, Labore und Hörsäle boten mehreren Einführungskursen und Ausbildungsgruppen gleichzeitig Platz. Alex Michaels Rekrutierungskampagne war ein Riesenerfolg gewesen und hatte selbst seine kühnsten Erwartungen übertroffen. Da von den Colleges im ganzen Land Bewerbungen eingegangen waren, gab es inzwischen eine fast zweijährige Wartezeit.

Heute jedoch war das Center verlassen und ruhig, und der Hörsaal wirkte wie eine riesige leere Höhle. Natasha Mori war hierhergekommen, um ihre nächste Einführungsveranstaltung vorzubereiten und um einfach mal aus der Wohnung rauszukommen. Nach den Ereignissen auf Chacagua Island hätte es ihr niemand übel genommen, wenn sie sich ein paar Tage freigenommen hätte. Aber sie wollte nicht zu Hause herumhocken und vor sich hinbrüten. Das hatte sie in letzter Zeit mehr als genug getan, nein danke. Da Bryan oben in Maine war, wo seine Mutter sich nach der Operation um ihn kümmerte, und sich Natashas sporadischer Mitbewohner Duncan Ulysses mal wieder aus dem Staub gemacht hatte, war ihr die Decke auf den Kopf gefallen.

Also nutzte sie jetzt die Zeit und lief im Hörsaal mit einem AR -Headset auf und ab, eine von zahlreichen Erfindungen, die Michaels, ihr ehemaliger Professor, in den letzten fünf Jahren hatte patentieren lassen. Das leichte und transportable Headset verfügte allerdings nicht über sämtliche Funktionen seiner anderen Geräte. Die Hologramme waren nicht besonders detailliert. Aber es erfüllte seinen Zweck und lieferte ihr eine überzeugende Darstellung, die sich aus computergenerierten Elementen und der Wirklichkeit zusammensetzte.

Natasha hatte die Mitte des Hörsaals verlassen, um vom Rand einen Blick auf das Podium zu werfen. Sie trug eine ausgebleichte Jeansjacke über einer langen, weiten violetten Bluse, schwarze Leggings und halbhohe, bunt leuchtende Converse-Schuhe. Ihr fransiges weißes Haar mit ein paar vereinzelten schwarzen Strähnen ragte büschelweise zwischen den Kopfgurten des Headsets hervor.

Erweiterte Realität.

Auf ihre Netzhaut wurde ein Hologramm der hufeisenförmig angeordneten Stuhlreihen projiziert, mitsamt dem Podium, auf dem sie das Wort an die Gruppe richten würde. Sie hatte bereits verschiedene Sitzordnungen ausprobiert, hatte einige unverändert stehen lassen und mit anderen ein wenig herumexperimentiert. Mit Hilfe der interaktiven Software des Headsets hatte sie Beleuchtung und Atmosphäre des Hologramms variiert, die Helligkeit im Raum verstellt und verschiedene Hintergründe und Displays für das Podium durchgespielt. Zweiundvierzig Stühle, einer für jeden Teilnehmer.

Nachdem sie alles aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet hatte, entschied sie sich für die hufeisenförmige Sitzordnung. Auf diese Weise war sie den Auszubildenden am nächsten und hatte ausgezeichnete Sicht, sprich Augenkontakt, was ihr half, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen und eine Gruppendiskussion in Gang zu bringen.

Natasha ging zum hinteren Ende der hufeisenförmigen Sitzordnung und lief in ihre Mitte. Sie hörte, wie die Sohlen ihrer Turnschuhe sanft über das Parkett strichen, das tiefe, rhythmische Zischen des Luftfiltersystems und das Geräusch, mit dem sie seine gefilterte, klimatisierte Luft einsog. Ihre Einbildungskraft erweiterte die erweiterte Realität, und sie hörte die auf den Stühlen herumrutschenden Körper, das Tippen auf den Tastaturen und Touchscreens, das vereinzelte Kratzen altmodischer Stifte auf Notizblättern und, da sie nun mal eine lebhafte Fantasie hatte, wie einer der Teilnehmer aufstand, weil er dringend pinkeln musste. Ihre Vorbereitungen dienten dazu, die Dynamik und Energie zu verbessern, was sich kaum von den Konzertvorbereitungen im Klub Fallout unterschied. Nur dass sie jetzt nicht die Musik und Duncan, ihren musikalischen Mitstreiter, berücksichtigen musste.

Duncan, der spurlos verschwunden war. Seit ihrer Rückkehr von Chacagua Island hatte sie von ihm weder etwas gehört noch gesehen. Allerdings kam es immer wieder vor, dass er, meist ohne Vorankündigung, einfach von der Bildfläche verschwand. Da ihre nächsten Auftritte aber erst in ein paar Wochen stattfanden, verfiel sie vorerst nicht in Panik.

Natasha korrigierte mit der Fernbedienung in ihrer Hand ein paar Einstellungen des Hologramms und lief durch das Innere des Hufeisens, um an der Anordnung noch ein paar kleinere Verbesserungen vorzunehmen. Brauchte sie vielleicht Schreibplatten? Oder ergonomische Sitzflächen? Vielleicht standen die Stühle doch zu weit auseinander …

Sie tippte gerade ihre letzten Änderungen ein, als sich hinten im Hörsaal eine Tür öffnete. Ohne von der Fernbedienung abzulassen, schaute sie quer durch den Raum und sah, dass Kali Alcazar eintrat. Bekleidet mit schwarzer Jeans und schwarzer Lederjacke marschierte sie wortlos zum Hufeisen und bahnte sich ihren Weg zwischen den verwaisten Stuhlreihen hindurch.

Natasha nahm ihr Headset ab. »Mensch, jetzt hast du meine ganze Illusion zerstört.«

Statt zu antworten, kam Kali direkt auf sie zu und tippte ihr auf die Schulter.

»Du musst mitkommen«, sagte sie.

»Wohin?«

»In Morses Büro.«

»Morse? Worum geht’s?«

»Optimum«, sagte Kali.

Ein Moment der Stille. Natashas Augen weiteten sich. »Woher weißt du davon?«

»Das erkläre ich dir, sobald wir Zeit dafür haben. Es sind Menschenleben in Gefahr.«

Natasha öffnete den Mund, aber da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, nickte sie einfach nur.

Einen Moment später eilten die beiden aus dem Hörsaal.

Natasha, die Kali zu Carol Morses Büro gefolgt war, blieb unvermittelt im Türrahmen stehen.

Der Raum war voller Leute. Leo Harris und Jot Musil saßen vor Morses Schreibtisch, und Morse selbst stand rechts von ihnen unter einer Monitorwand. Die einzige Person, die Natasha genau genommen noch nicht kannte, war der Mann auf der anderen Seite des Türrahmens. Carmody. Allerdings hatte sie ihn in den letzten Monaten immer wieder in der Zentrale gesehen, außerdem hatte sie gehört, dass er am Einsatz gegen die technologie vampiri beteiligt gewesen war. Und sie war ihm auf dem Vertiport des Terminals begegnet, als er vor einigen Tagen dort auf Kali gewartet hatte. Er war ziemlich groß, trug jetzt eine Motorradjacke und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

Natasha hatte nicht mit einem Raum voller Leute gerechnet. Sie hatte erwartet, Morse allein in ihrem Büro anzutreffen, und war entsetzt, sie alle hier zu sehen. Aber der wirkliche Grund dafür, dass sie wie angewurzelt dastand, war das Bild auf dem Display.

»Was hat das zu bedeuten?« Sie warf Morse mit entschlossener Haltung einen stechenden Blick zu. »Niemand hat mir gesagt, dass ich zu einer verdammten Party eingeladen bin.«

»Tut mir leid, Natasha …«

»Tut mir leid? Mein Leben gehört mir. Das war unser Deal

»Was hier besprochen wird, bleibt unter uns«, sagte Morse. »Aber Sie müssen uns ein paar Fragen beantworten. Wenn Sie mir kurz zuhören, werden Sie das verstehen.«

Fast unwillkürlich wanderte Natashas Blick zu dem Foto auf dem Breitbilddisplay zurück. Dunkle Schwaden schienen davon aufzusteigen. Der alkalische Geruch von Asche brannte ihr in der Nase. Synästhesie war eine genetisch bedingte Verknüpfung verschiedener Sinneswahrnehmungen, und diese Eigenschaft hatte sich bei ihr bereits vor dem achten Lebensjahr gezeigt. Außerdem war sie ein Tetrachromat. Diese Menschen besaßen einen zusätzlichen Farbrezeptor im Auge, sodass sie ein sehr viel breiteres und differenzierteres Farbspektrum als die meisten anderen Menschen wahrnehmen konnten. Natasha war mit dieser seltenen Mutation bereits zur Welt gekommen. Die Wahrscheinlichkeit, beide Veranlagungen gleichzeitig zu besitzen – sowohl ein Synästhet als auch ein Tetrachromat zu sein –, lag bei nahezu null. Aber sie hatte entgegen aller Wahrscheinlichkeit in der Lotterie für Sinnesüberschneidungen den Jackpot geknackt.

Manchmal empfand sie das als Geschenk. Manchmal war das einfach großartig und wunderbar, wie in der Skittles-Werbung, die einem versprach, den Regenbogen zu schmecken.

Jetzt gerade allerdings nicht. Jetzt gerade attackierte das Foto sie mit einem unangenehmen Durcheinander verschiedenster Sinneseindrücke.

Auf den ersten Blick ähnelte es jedem Klassenfoto in irgendeinem Land der Welt, abgesehen vom unterschiedlichen Alter der Schüler. Unter ihnen waren sowohl kleine Kinder als auch Jugendliche. Sie bildeten vier Reihen mit jeweils sechs bis sieben Schülern, insgesamt siebenundzwanzig an der Zahl. Die älteren, größeren standen in den zwei hinteren Reihen. Die kleineren saßen davor auf Stühlen.

Die Gruppe bestand etwa zu gleichen Teilen aus Jungen und Mädchen. Die Jungen trugen graue Hosen, graue Pullis und weiße Hemden mit roten Krawatten. Die Mädchen graue Kleider und Westen und weiße Blusen mit roten Schleifchen. Auf Pullis und Westen prangte links, über dem Herzen, ein dreieckiges Abzeichen.

Natashas zwölfjährige Version saß in der ersten Reihe, als Zweite von links. Sie hatte weißes Haar, kreidebleiche Haut und lange, knorrige weiße Arme und Beine. Ihre großen tiefliegenden Augen waren völlig ausdruckslos. Die Gesichtszüge starr und leblos.

Ihr Lächeln hatte sich immer fremd angefühlt, wie etwas, das nichts mit ihren Gefühlen zu tun hatte, etwas, das sie jeden Morgen zusammen mit dem Anziehen der Schuluniform aufsetzte. Da die Ausbilder und Wissenschaftler sie aufgrund ihrer Mutationen gründlich unter die Lupe genommen hatten, wollte sie ihre Aufmerksamkeit nicht auch noch auf den Umstand lenken, dass sie unglücklich war.

»Hört mir alle gut zu«, sagte Morse. »Seht euch die Abzeichen an. Ich werde jetzt erklären, was im unteren Teil des Wappens steht.«

Natasha brauchte nicht hinzusehen. Es war ihr nur allzu vertraut. Die dreieckige rote Umrandung, die weiße Fläche, die zwei roten Winkel, die sich wie umgedrehte V s von dem Weiß abhoben. Der fünfzackige rote Stern über der Spitze des größeren, oberen Winkels. Und die ebenfalls roten Buchstaben, die im unteren Teil des Dreiecks aufgestickt waren.

»Das Wort ist verschina «, sagte Morse. »Es bedeutet Gipfel  … oder Optimum. Es ist kein Zufall, dass dies auch der Name eines russischen Geheimprojekts ist, dessen Anfänge bis zu Stalin zurückreichen. Das Ziel dieses Projekts war es, durch genetische Selektion perfekte Exemplare der menschlichen Spezies zu erschaffen und sie zu erstklassigen Spionen und Soldaten auszubilden. Man nannte das erzwungene Evolution . Der Mann, auf den diese Idee zurückgeht, war ein Anhänger Darwins, ein Zoologe, der Füchse züchtete und studierte. Er war der Überzeugung, er könne die Tiere im Laufe mehrerer Generationen domestizieren, sodass sie wie Hunde lernfähig waren und Befehlen gehorchten, und er könne, falls er erfolgreich war, dasselbe auch mit Menschen tun.«

Natasha holte tief Luft. Sie erinnerte sich nur äußerst ungern an das Programm. Außerdem hatte sie immer noch das Gefühl, dass Morse sie überrumpelt hatte. Aber sie konnte die ernsten Gesichter im Raum nicht einfach ignorieren.

»Dmitri Beljajew«, sagte sie. »So hieß der Wissenschaftler. Er war Direktor des Instituts für Zytologie und Genetik. Er starb fünfzehn Jahre, bevor ich geboren wurde.« Sie machte eine Pause. »Auf der Schule hat man uns ihm zu Ehren zahme Füchse genannt. Reizend, nicht wahr?«

»Das muss man ihm lassen«, sagte Morse. »Beljajew war im Grunde ein Scharlatan. Aber während er seine pelzigen Freunde abrichtete, fand der KGB seriöse Wissenschaftler, die das Programm legitimierten. Anfang der Sechzigerjahre führten sie die erste künstliche Befruchtung durch. Und Ende der Achtzigerjahre gelang es ihnen, Chromosomen zu spleißen. Das war der entscheidende Durchbruch. Um 1990 herum produzierten sie dann befruchtete, gentechnisch veränderte Eizellen in einer ihrer ZATO s , oder geheimen Städte.« Sie wandte sich Natasha zu. »Ich denke, Sie sollten etwas zum Projektleiter sagen.«

Natasha holte erneut Luft.

»Er hieß Ivan Mori und war mein Vater. Ich bin ein Kind dieses Programms. Er hat eine Eizelle meiner Mutter modifiziert und ihr wieder eingepflanzt. Darum bin ich auf diesem Klassenfoto zu sehen. Wir waren das erfolgreiche Ergebnis dieser Experimente. Auf die fehlgeschlagenen Versuche gehe ich lieber nicht ein. Es ist einfach zu furchtbar, um davon zu erzählen.«

Niemand sagte etwas. Morse drückte auf ihre Fernbedienung, und das Klassenfoto schrumpfte auf die halbe Größe des Bildschirms. Dann drückte sie erneut, und darunter öffnete sich ein zweites Fenster.

Es zeigte mehrere Fotos, alle von demselben Mann.

Natasha erkannte ihn sofort, und sein Bild rief ein Durcheinander heftiger Sinneseindrücke bei ihr hervor. Sie sah vor dem Display eine milchig braune Aura, die wie der feuchte Ärmel eines Wollmantels schmeckte und nach kaltem Winterregen roch. Außerdem wurde sie von weiteren scheußlichen Farben, Geschmacksnoten und Gerüchen bestürmt.

»Dieser Mann … Wir glauben, dass er meine Töchter hat«, sagte Musil. »Jani und Raysa. Sie sind vierzehn und zehn Jahre alt. Wir glauben, dass er sie entführt hat.«

Natasha wandte sich in seine Richtung. »Oh nein.«

Er wirkte völlig erschöpft.

Natasha schaute kurz zu dem Klassenfoto hoch. In der letzten Reihe, ganz rechts, stand ein etwa siebzehnjähriger Junge mit kurzem hellbraunem Haar und einem unauffälligen Gesicht. Er hatte durchschnittlich große Augen, eine dünne Nase, ein schmales Kinn und einen leichten Unterbiss. Er war offensichtlich das älteste Kind der Gruppe und auch das größte. Er wirkte vollkommen unscheinbar … abgesehen von seinem grausam verzerrten Lächeln.

Natasha starrte auf sein Gesicht. Sie konnte deutlich erkennen, dass er dieselbe Person wie der Mann auf dem Bild darunter war. Zwar jünger, aber dieselbe Person.

»Das ist Grigor«, sagte sie. »Grigor Malkira.«

»Erzählen Sie uns von ihm«, sagte Morse. »Alles, was sie wissen.«

»Ich war noch sehr jung, als wir uns kennenlernten«, sagte sie. »Wirklich sehr, sehr jung. Nachdem mein Vater Russland verlassen hatte, landete ich im selben Waisenheim wie Grigor. Dort wurden viele von uns untergebracht. Das war Jahre bevor man mich in die geheime Stadt brachte, wo die Kinder des Optimum-Projekts ausgebildet wurden. Okean-95. Dort bin ich ihm erneut begegnet.«

»Die Fotos unten … angeblich zeigen sie eine Person namens Stephen Gelfland«, sagte Musil langsam, als würde ein schweres Gewicht auf seinen Worten lasten. »Er wurde für einen Job auf einem Schiff angeheuert. Der CS Stalwart

»Ist das der Kabelleger?«

»Ja«, sagte er. »Ich glaube, dass Grigor Gelfland letzten November getötet hat, bevor das Schiff in See stach. Dass er seine Identität gestohlen und seinen Platz in der Crew eingenommen hat.«

»Und ihn auf den unteren Fotos ersetzt hat.«

»Durch Deepfakes, genau. Auf jedem Pass- und Führerscheinfoto, das im Netz zugänglich war. Sowie in sämtlichen elektronischen Archiven.« Musil sah sie an. »Ki Marton, einer unserer IT -Forensiker, hat die Bilder durch unsere Gesichtserkennungsdatenbank gejagt. Dabei ist er auf die Optimum-Datei gestoßen. Aber als er versucht hat, sie zu öffnen, stellte er fest, dass sie gesperrt war. Von Director Michaels.«

Natasha nickte. »Der Prof hat das für mich getan. Um mir zu helfen. Damit ich in Amerika bleiben kann. Das war Teil des Deals.«

»Mit Russland«, sagte Harris.

»Ja«, sagte sie. »Was alles andere betrifft, müssen Sie sich an ihn wenden. Ich darf darüber nicht reden.«

»War das auch Teil des Deals?«

Sie nickte erneut.

»Natasha … Ki wurde vor nicht mal einer Stunde getötet«, sagte Musil. »Er war mein Freund. Wir waren zusammen, als es passierte.«

Natasha machte ein entsetztes Gesicht. »Ich kannte Ki. Er hat für meine Klassen Vorlesungen gehalten.« Sie hielt inne, schüttelte den Kopf. »Das tut mir leid.«

Musil holte tief Luft.

»Wahrscheinlich hatte man es eigentlich auf mich abgesehen«, sagte er. »Ich habe Nachforschungen zu Gelflands Verschwinden angestellt und mit einigen Leuten über ihn gesprochen.«

Natasha dachte angestrengt nach. »Ihre Töchter. Wie hat er …«

»Malkira, wenn er das ist, hat ihre Schule angerufen. Er hat darum gebeten, sie früher gehen zu lassen, und sie mit einem Wagen abgeholt. Ich kenne den Direktor. Wir sind uns schon öfter begegnet. Dennoch war er überzeugt, dass er mit mir sprach.«

Natasha sah ihn eine Weile an. »Bei dem Programm wusste man nicht immer, wie wir uns entwickeln würden. Eigentlich war das meistens der Fall. Als hätten sie die Zutaten einfach in einem Reagenzglas vermischt, kräftig geschüttelt und dann abgewartet, was dabei herauskam. Nach unserer Geburt brachte man uns in die geheime Stadt und unterrichtete jeden in unterschiedlichen Bereichen. Unsere Ausbildung und Erziehung richteten sich nach unseren Fähigkeiten.« Sie machte eine Pause. »Ich kann Dinge sehen, die andere Menschen nicht sehen. Andere Dinge tun. Außerdem spreche ich unzählige Sprachen. Ich speichere alles sofort ab. Wenn jemand zum Beispiel ein paar Sätze auf Deutsch oder Holländisch sagt, merke ich sie mir. Mein Gehirn analysiert sie und leitet Muster daraus ab. Phonetik, Satzbau, einfach alles.«

»Und Malkira?« Das kam von Carmody hinter ihr.

Sie drehte sich zu ihm um.

»Grigor ist noch eine Stufe über mir«, sagte sie. »Er kann sich die Stimme jedes Menschen aneignen. Oder seine Verhaltensweisen. Aber er imitiert sie nicht einfach nur. Er saugt ihre Dialekte regelrecht auf. Ihre Stimmen. Ihre Art zu gehen. Er macht sich unsichtbar wie ein Chamäleon oder Tintenfisch.«

»Aggressive Mimikry«, sagte Morse. »Das ist der Begriff in der Optimum-Akte.«

Natasha nickte. »Und die Sache ist die …« Sie schluckte trocken. »Man hat uns beigebracht zu töten. Man hat uns wie Tiere abgerichtet. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Denn genau das hat man getan. Ich habe es gehasst. Grigor allerdings nicht. Es hat ihm Freude bereitet, anderen Menschen wehzutun. Schon im Waisenhaus, vor der Ausbildung. Als ich ein kleines Mädchen war … da hat er mir auch wehgetan, okay?«

Für einen sehr langen Moment sagte niemand ein Wort, und Natasha atmete tief durch.

»Was Sie erzählen, passt alles zu Grigor. Bis ins kleinste Detail«, sagte sie. »Der Anruf beim Direktor. Seine Verwandlung zu Gelfland. Er wäre dazu in der Lage. Keine Ahnung, was mit den Deepfakes im Internet ist, aber dabei hat ihm bestimmt jemand geholfen.«

»Die Russen«, sagte Harris. »Von denen reden wir doch die ganze Zeit. Die haben ihn hierher geschickt.«

»Ja.«

Er setzte an, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber offensichtlich anders.

»Was ist denn, Leo?«, fragte Morse.

Er zupfte sich am Ohr. »Ich habe nur nachgedacht.«

Sie sah ihn an, und niemand sagte etwas, während er seinen Blick durchs Zimmer wandern ließ.

»Und was machen wir jetzt?«, sagte er schließlich.

Doch bevor jemand antworten konnte, klingelte Musils Telefon.

Grigor saß auf einem Gartenstuhl im leer stehenden Wintergarten des Bungalows, und ihm gegenüber in einer Ecke, ebenfalls auf Gartenstühlen, hockten die beiden Mädchen. Er hatte das rechte Bein angezogen, und sein rechter Arm lag gerade auf seinem Knie. Die Glock in seiner Hand fand darauf sicher und bequem Halt. Auf diese Weise konnte er die Pistole problemlos hin und her schwenken.

Momentan bewegte er sie nicht und hatte den Lauf auf einen Punkt genau zwischen den Mädchen gerichtet. Mit der linken Hand hielt er sein Satellitentelefon ans Ohr.

»Hallo, Agent Musil«, sagte er mit der Stimme ihres Vaters. »Hier spricht Agent Musil.«

»Wo sind meine Töchter?«

»›Wo sind meine Töchter?‹«, wiederholte Grigor. Seine Stimme hätte eine perfekte digitale Aufnahme von Musil sein können, eine direkte Wiedergabe. Eine halbe Sekunde später wechselte er zu seiner eigenen Stimme. »Tut mir leid. Ich kann einfach nicht anders. Ich wollte Sie nicht ärgern.«

»Wo sind sie?«, sagte Musil.

Grigor schwenkte die Pistole nach links, zur älteren Tochter, dann nach rechts, zur jüngeren, und wieder zurück. Er hatte die beiden angewiesen, sich nicht zu bewegen, und sie hielten sich daran. Er hatte der älteren Tochter allerdings erlaubt, ihren Arm tröstend um ihre Schwester zu legen.

»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, sehe ich gerade ihre hübschen Gesichter«, sagte er. »Gut möglich, dass ich eine Pistole auf sie gerichtet habe. Aber ich kann Ihnen versichern, dass sie noch nicht tot sind.«

»Ich will mit ihnen reden«, sagte Musil.

»Dafür haben wir später noch Zeit.«

»Ich will mit ihnen reden.«

Grigor schwieg einen Moment.

»Ich nehme an, dass Sie in irgendeinem Büro sitzen«, sagte er dann. »Nach dem ganzen Chaos auf der Tenth Avenue haben Sie bestimmt in der Schule Ihrer Kinder angerufen, um sich zu vergewissern, dass sie in Sicherheit sind. Aber als Sie erfahren haben, dass ich sie aus dem Unterricht geholt habe – oder sollte ich sagen, Sie ? –, haben Sie wahrscheinlich Ihre Kollegen um Hilfe gebeten. Und ich schätze, dass Sie jetzt im imposanten Gebäude Ihrer Zentrale alle zusammenhocken.«

»Holen Sie meine Töchter ans Telefon.«

Grigor sah die beiden über den Pistolenlauf hinweg an.

»Sie sollten wissen, dass man es nicht orten kann«, sagte er. »Also, mein Telefon. Das Telefon Ihrer Tochter ist nicht hier. Nur damit Sie keine Zeit vergeuden.«

»Was wollen Sie von mir?«

Grigor schwieg erneut.

»Sie müssen sich über eins im Klaren sein«, sagte er. »Ich habe Ihre Kinder. Ich kann sie töten oder es lassen. Das macht für mich keinen Unterschied. Für Sie allerdings schon. Das heißt also, dass ich das Sagen habe.«

Musil erwiderte nichts. Das gefiel Grigor. Es war ein stummes Eingeständnis.

»Sie haben ein paar Nachforschungen angestellt und dabei eine Menge Staub aufgewirbelt«, sagte er. »Ich muss das wieder in Ordnung bringen. Darum hat man mich hergeschickt. Ich denke, Sie wissen, was das bedeutet, ohne dass ich es aussprechen muss. Ich möchte nämlich Ihre reizenden Töchterchen nicht unnötig beunruhigen. Aber ich schätze, Sie wissen, was ich meine.«

»Ich will mit meinen Töchtern sprechen.«

Grigor warf einen Blick zum Rollo, das jetzt ganz heruntergelassen war, als sollte es den Rest der Welt von diesem Raum fernhalten. Er musste nach Hawaii. Einen wichtigen Auftrag erledigen. Aber das war dort draußen, und was jetzt zählte, war hier drin. Er konnte es sich nicht erlauben, an die Zukunft zu denken.

Er nahm das Telefon vom Ohr und sah die ältere Tochter an.

»Mittha«, sagte er. Ihren Kosenamen hatte er vor der Schule von Musils Lippen abgelesen. Er winkte sie mit der Pistole zu sich. »Komm her. Dein Vater will dich sprechen.«

Sie starrte ihn aus der Ecke kurz an. Dann nahm sie ihren Arm von Raysas Schulter, stand auf und marschierte wie ein Soldat, Kopf und Rücken gerade, mit unerschrockenem Gesicht auf ihn zu.

Grigor wartete, bis sie den Raum zu zwei Dritteln durchquert hatte.

»Okay, das ist nah genug«, sagte er. »Sag deinem Vater, dass du ihn liebst. Mehr nicht. Ich … liebe … dich … Daddy. Ein Wort mehr, und ich schieße deiner Schwester die Vorderzähne weg.«

Jani war verängstigt und verzweifelt, ließ sich aber äußerlich nichts anmerken. Grigor schaltete den Lautsprecher ein, hielt ihr das Telefon hin und nickte.

»Ich liebe dich, Daddy«, sagte sie mit klarer Stimme.

Grigor schaltete den Lautsprecher wieder aus. »Geh zurück zu deiner Schwester«, sagte er und fuchtelte erneut mit der Pistole auf seinem Knie.

Er beobachtete, wie sie in die Ecke zurückging, und nahm das Telefon wieder ans Ohr. »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Jani nicht umbringe? Und die Kleine?«

Schweigen.

»Musil?«

»Ich will nicht, dass Sie ihnen wehtun.«

»Dann hören Sie sich genau an, was meine Forderungen sind.«

Die Verbindung wurde beendet. Malkira hatte aufgelegt.

Musil saß einen Moment regungslos da, und alle im Raum blickten ihn schweigend an. Dann drehte er sich halb in Harris’ Richtung.

»Das Telefon meiner Tochter«, sagte er. »Er hat gesagt, dass er es ihr weggenommen hat.«

Leo sah ihn an.

»Aber meine Töchter haben beide ein Telefon«, sagte Musil.

»Trey, komm mal her!«, rief Wonder Castro hinter ihrem Bedienfeld.

Die Technikerin hatte versucht, mit dem Needlefish-Telefonortungssystem der Net Force Musils Töchter aufzuspüren.

»Eine Sekunde«, sagte Trey, der ihren dringlichen Tonfall bemerkt hatte.

Trey war Wonders Kollege Trevon Raymore. Er saß auf der anderen Seite des Gangs an seinem Bedienfeld und hatte versucht, eine herkömmliche GPS -Ortung durchzuführen.

Die beiden waren Telefonüberwachungsexperten der hauseigenen Operational-Technology-Resources-Einheit (OTTER ). Sie waren in einem Keller untergebracht – das Drecksloch , wie Trey ihn nannte –, etwa sechzig Meter unterhalb des Verwaltungstrakts mit den Büros von Carol Morse, Leo Harris und den anderen hohen Tieren. Da die Renovierungsarbeiten im Lagerhaus noch nicht abgeschlossen waren, konnte man ihren Arbeitsplatz nur über einen quietschenden, altmodischen Lastenaufzug vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts und ein steiles, beengtes Treppenhaus erreichen … das Equipment und die Systeme hingegen waren auf dem allerneusten Stand.

Raymore sprang von seinem Stuhl, eilte zu Castros Terminal hinüber und warf einen Blick auf den Bildschirm mit der Straßenkarte. Sie sah genauso aus wie seine oder jede andere konventionelle GPS -gestützte Navigationskarte. Der große Unterschied bestand in der un konventionellen Software unter der digitalen Haube.

Per GPS ein Handy zu orten war ein alter Hut. Die Mobilfunkmasten empfingen von den GPS -Satelliten ihre Signale, die sie wiederum an die Telefone in ihrer Reichweite übertrugen. Indem man den Abstand des Telefons zu dreien dieser Masten ermittelte, ließ sich seine Position bestimmen. Bewegte sich der Handybesitzer in die Reichweite von drei anderen Masten, konnte man auf der Karte seine Bewegungen verfolgen.

Wenn das Telefon jedoch ausgeschaltet war, wurde die Sache kniffliger. Ein ausgeschaltetes Handy empfing keine Mobilfunksignale, und es war schlichtweg unmöglich, es per GPS zu orten.

Das Needlefish-System hingegen brauchte für die Ortung kein GPS . Es funktionierte auch ohne Handydaten und bediente sich einer weitaus komplexeren und ausgefeilteren Methode, bei der es die Messwerte der Sensoren im Innern des Handys interpretierte.

Sämtliche Mobilgeräte waren damit vollgestopft. In jedem Telefon befanden sich ein Kreiselstabilisator, Temperatursensoren, ein Magnetometer, ein Beschleunigungsmesser, ein Näherungsschalter, Umgebungslichtsensoren und nicht weniger als vier Mikrofone, um nur einige der Bauteile zu nennen. Der Kreiselstabilisator war ein ausgesprochen emsiges Kerlchen. Die Kompass-App war darauf angewiesen, um die Richtung anzuzeigen. Außerdem war der Kreiselstabilisator – zusammen mit dem Beschleunigungsmesser, der die Bewegungsgeschwindigkeit des Handys erfasste – dafür verantwortlich, das Bild auf dem Display zu drehen, wenn man seine Ausrichtung veränderte, etwa, um ein Video im Querformat zu betrachten.

Diese beiden Sensoren – Beschleunigungsmesser und Kreiselstabilisator – dienten dem Needlefish-System im Handy als Informationsquelle. Indem es sich mittels eines installierten Codes Zugang zur Kompass-App verschaffte, konnte es feststellen, ob sich das Handy ein paar Grad nach rechts oder links oder nach oben oder unten bewegte. Diese Technologie war nicht neu. Sie existierte bereits seit etwa zehn Jahren. Aber erst dank der Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz konnte man jetzt die Position eines Handys präzise bestimmen.

Die KI überprüfte, inwiefern all diese Bewegungen mit bestimmten Orten auf einer Karte übereinstimmten, und zog daraus seine Schlussfolgerungen. Zum Beispiel: Drei Ausweichmanöver um fünfzehn Grad nach rechts, gefolgt von einer Bodensenke, ein weiteres Ausweichmanöver, dann ein Gefälle und schließlich eine Kehrtwende und das Ende der Fahrt – und alles innerhalb von fünfzehn Sekunden – konnte bedeuten, dass jemand in Mumbai, Indien, den New-Panvel-Kreisverkehr zum Parkplatz des Birmole Hospital nahm, nachdem er in südwestlicher Richtung von der Matheran Road abgebogen war.

Aber das Ergebnis war nicht immer so eindeutig. Manchmal stimmten dieselben Ausweichmanöver, Bodensenken, Schlenker und Gefälle auch mit den geografischen Verhältnissen verschiedener Städte überein. Manchmal waren die Karten bestimmter Regionen nicht besonders genau oder nicht auf dem neusten Stand. Vielleicht gab es Baustellenumleitungen, Straßensperrungen oder eine geöffnete Behelfsausfahrt. Oder man hatte eine abschüssige Straße kurzerhand aufgeschüttet und begradigt. Oder jemand raste zufällig mit demselben Bewegungsmuster auf einem Schneemobil durch die arktische Tundra. So etwas kam vor. Darum listete das Needlefish-System die vielversprechendsten Kandidaten in der Reihenfolge ihrer Wahrscheinlichkeit auf. Wahrscheinlich handelte es sich um besagten Kreisverkehr in Mumbai. Aber es war auch gut möglich, dass sich gerade jemand dem Kreisverkehr am Arc de Triomphe näherte. Und den Mohanlal-Kreisverkehr in Doha, Katar, konnte man ebenfalls nicht ausschließen, obwohl er nur an dritter Stelle stand.

Es war also hilfreich, wenn man bestimmte Orte ausklammern konnte. Angenommen, man wusste, dass die Person, die man orten wollte, sich weder in Katar noch in Frankreich aufhielt, dann sagte man dem System, dass es diese Kandidaten von der Liste streichen sollte. Noch besser war es, wenn man die Suche auf ein Land, einen Bezirk oder eine Stadt eingrenzen konnte.

Und dazu waren Castro und Raymore in der Lage gewesen, als sie ihre Suche nach Musils Töchtern begonnen hatten.

Sie wussten von Anfang an, dass sich die Kinder in New York aufhielten und von der Woodmere Middle School in Queens aufgebrochen waren. Und sie wussten, dass es von allen fünf Stadtbezirken sehr präzise und aktuelle Straßenkarten und Satellitenbilder gab. Aufgrund dieser Faktoren lag die Treffergenauigkeit des Systems bei nahezu hundert Prozent.

Vorausgesetzt es gab ein Handy, das man orten konnte.

Das war das große Fragezeichen, mit dem die Techniker es zu tun hatten. Wenn es kein Telefon gab, war die Suche mit dem Needlefish-System vergeblich. Laut Musil hatte der Entführer gesagt, er habe es weggeworfen oder vernichtet … aber genau diese Aussage gab Anlass zu verhaltenem Optimismus.

Das Telefon Ihrer Tochter ist nicht hier , hatte der Mann gesagt.

Telefon , Singular.

Nicht Telefone .

Aber laut Musil nahmen seine Töchter stets zwei Handys mit zur Schule. Jede eins.

Trotzdem hatten die beiden Techniker ihre Hoffnungen gebremst. Es war genauso gut möglich, dass sich der Entführer versprochen hatte. Zudem hatte Musil eingeräumt, dass er ihn vielleicht falsch verstanden hatte. Möglicherweise hatte er auch beide Telefone an sich genommen. Deshalb hielt sich ihre Aufregung in Grenzen.

Bis zu dem Moment, als Castro, die Augen auf ihre Karte gerichtet, Raymore aufgeregt zu sich rief und die beiden auf ihr Display starrten.

»Siehst du auch, was ich sehe?«, fragte Castro.

»Pa-ram pam pam pam«, sagte er und nickte.

Sie verstand seine Anspielung mal wieder nicht. Aber inzwischen hatte er aufgehört zu zählen.

»Ja«, sagte er.

Sie warfen einander fast euphorische Blicke zu.

»Das muss es sein«, sagte sie.

Zwei Minuten später ersetzte die Needlefish-Karte die Fotos auf Morses Monitorwand.

»Ich kenne die Gegend«, sagte Musil, den Blick auf die Wand gerichtet. »Wenn meine Töchter dort sind, ist das nur ein paar Minuten von ihrer Schule entfernt.«

»Vielleicht spielt Malkira ein Spielchen mit uns«, sagte Harris. »Er könnte eines der Handys dort platziert haben, um uns auf eine falsche Fährte zu locken.«

»Oder auch nicht«, sagte Carmody.

Musils Gesicht wirkte angespannt und nachdenklich zugleich. Inzwischen war ein Satellitenbild mit der Luftaufnahme des markierten Hauses zu sehen: ein Einfamilien-Bungalow in einer Sackgasse namens Meadows Court.

»Meine Töchter wissen, dass die Needlefish-Software auf ihren Handys installiert ist«, sagte er. »Nach den Ereignissen im letzten August litt Raysa unter Albträumen. Sie hatte Angst, dass man sie entführen könnte und wir sie nicht finden würden.«

»Wegen des kleinen Jungen im Park, den Sie gerettet haben«, sagte Harris.

Musil nickte.

»Sie hat die Nachrichten gesehen und wusste, dass Anton Ciobanu ihn getötet hätte. Um sie zu beruhigen, habe ich dann die Software installiert. Ich habe ihr gesagt, dass sie nichts zu befürchten hat. Dass ich selbst dann weiß, wo sie sich aufhält, wenn in der Stadt der Strom ausfällt und es kein Telefonnetz mehr gibt. Ich erinnere sie jeden Morgen daran, wenn ich die beiden vor der Schule absetze.«

»Sie glauben also, sie hat das Handy noch bei sich?«

»Oder irgendwo versteckt. Allerdings weiß ich nicht, wie sie das geschafft haben sollte. Aber sie hätte es jedenfalls versucht, ehe man es ihr wegnimmt.«

Für einen Moment herrschte im Raum Stille. Schließlich stieß Carmody sich von der Wand ab. »Wir sollten aufhören, hier herumzustehen, und etwas unternehmen.«