Teterboro Airport, New Jersey
N ick DeBattista wollte gerade Feierabend machen und nach Hause fahren, als sein Telefon klingelte.
»Great Circle Charter.«
»Nick, hier Carmody.«
»Toll. Ich leg jetzt auf.«
»Ich muss nach Hawaii.«
»Ich leg auf.«
»Es bleibt bei derselben Anzahl Passagiere wie zuvor.«
»Welches Zuvor? Es gab kein Zuvor . Ich habe meine Falcon für dich startklar gemacht und dabei eine Menge Kohle verloren. Die genaue Summe erspar ich dir. Aber du hast mich hängen lassen.«
»Bis wann kannst du die Maschine startklar machen?«
»Fick dich, Carmody. Ich sollte dich heute nach Rumänien fliegen. Ich hatte meine verdammten Koffer schon gepackt.«
»Nick …«
»Komm mir nicht mit Nick . Glaubst du etwa, ich betreibe ein Busunternehmen, das alte Damen zu den Casinos in Atlantic City kutschiert? Ich habe dir eine Falcon zur Verfügung gestellt. Quasi einen Kampfjet. Einen verdammten Schallgeschwindigkeits-Kampfjet. Und zwar kostenlos.«
»Nick, ich brauche die Maschine noch heute Abend.«
»Klar, na sicher doch. Wie gesagt, das wird nicht passieren.«
»Bis wann kannst du die Maschine startklar machen?«
»Pass schön auf dich auf, Carmody. Genieß den Rest deines Lebens. Und fick dich selbst.«
»Nick. Ich muss sofort nach Hawaii. Ich brauche ein Flugzeug. Und diesmal kann ich dich bezahlen.«
DeBattista starrte mit dem Telefonhörer am Ohr aus dem Fenster seines Bürowohnwagens.
»Hast du im Lotto gewonnen oder was?«
»Ich rede von staatlichen Geldern.«
»Ernsthaft?«
»Ich sage dir, wem du die Rechnung stellen musst. Dort wird man dich bezahlen.«
DeBattista schwieg einen Moment. Im Westen zeichneten sich am Himmel orange-violette Streifen ab. Der Tag war fast vorbei. Eigentlich hatte er vorgehabt, nach Hause zu fahren, sich etwas zu essen zu bestellen und das eine oder andere Gläschen Wein zu trinken und den Abend vielleicht mit entspannender Opernmusik ausklingen zu lassen.
Aber falls er tatsächlich im offiziellen Auftrag von Uncle Sam fliegen sollte, dann könnte er wegen des kurzfristigen Termins auf seinen üblichen Preis noch eine hübsche Summe draufschlagen.
»Wo in Hawaii soll’s denn hingehen?«
»O’ahu.«
Er stellte ein paar ungefähre Berechnungen an.
»Es ist jetzt nach sechs, und die Falcon ist aufgetankt. Aber trotzdem muss ich noch mal alle Checks durchführen. Es ist mir scheißegal, ob dir das gefällt oder nicht. So läuft das bei mir, verstanden?«
»Ja.«
»Wir starten heute Abend um zehn. Um sieben Uhr morgens seid ihr da.«
»Okay.«
»Das sind neun Stunden. Niemand anders schafft es in weniger als elf.«
»Okay.«
»Und sei pünktlich«, sagte DeBattista.
Ohne ein weiteres Wort legte er auf und blickte auf seinen Rollkoffer in der Ecke des Raums. Er hatte ihn bereits in der Maschine verstaut, bevor Carmody ihn versetzt hatte, und jetzt stand er wieder im Büro. Das nervte ihn. Er ließ sich nicht gern zum Narren halten. Aber er kannte Carmody gut. Und man hatte seiner Stimme am Telefon anhören können, dass die Kacke mächtig am Dampfen war. Obwohl DeBattista sauer war, hätte er ihn wahrscheinlich auch umsonst geflogen. Nicht dass er Carmody das erzählen würde.
Er stand auf, schaltete das Licht aus und schloss den Wohnwagen ab. Zehn Minuten später rollte er seinen Koffer in der kühlen Abenddämmerung zurück zum Hangar.
Vierzehn Meilen jenseits des Hudson River lief Carmody auf den Eingang der metallenen Fußgängerbrücke zu, die das Hauptgebäude des Terminals mit dem kleineren Anbau verband. Dort war er im Erdgeschoss mit Dixon, Long und Kali verabredet. Die Brücke, mit ihrer Blechdecke und den Kurbelfenstern, stammte noch aus einer Zeit, in der es in New York zu einem Verkehrsstau kam, wenn der Pferdekarren des Milchmanns eine Achse verloren hatte und das Fuhrwerk hinter ihm nicht weiterfahren konnte.
Die Brücke ging direkt vom Fusion Center ab, einem Raum, dessen breite Gänge von Schreibtischen gesäumt wurden. Mitarbeiter von FBI , NYPD und Heimatschutz teilten sich die Computer und Monitorwände mit den Leuten der Net Force. Sie bündelten hier ihre Kräfte für Ermittlungen, die eine behördenübergreifende Zusammenarbeit erforderten.
Als Carmody die Tür zum Übergang erreichte, entdeckte er zu seiner Überraschung Jot Musil.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte er.
»Ich habe Sie gesucht.« Musil trat zu ihm. »Einer der Sicherheitsmänner meinte, er habe Sie hochkommen sehen.«
Carmody deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Da drüben ist ein leeres Büro. Ich musste mal telefonieren.«
Musil nickte, und Carmody musterte ihn.
»Ich dachte, Sie wären zu Hause bei Ihren Mädchen«, sagte er.
Musil nickte erneut. Er hatte sich inzwischen den Dreck aus den Haaren gewaschen und seine Kleidung gewechselt. Trotzdem wirkte er erschöpft.
»Jani und Rayna sind bei einem Onkel und einer Tante«, sagte er. »Morse hat ein paar Leute abgestellt, die das Haus bewachen. Von einer Sondereinheit der Polizei.«
»Gut«, sagte Carmody. »Aber es wäre besser, wenn ihr Dad bei ihnen ist, um sie in den Arm zu nehmen.«
Musil verneigte leicht den Kopf.
»Sie haben ihnen das Leben gerettet«, sagte er. »Danke.«
»Sie hatten auch Ihren Anteil daran.«
»Ohne Ihren Einsatz hätte Malkira uns alle getötet.«
»Schon möglich.« Carmody zuckte mit den Achseln. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum Sie heute Abend hergekommen sind.«
»Morse hat mir gesagt, dass Sie eine Vorstellung haben, wo Malkira hinwill.«
»Hat sie auch gesagt, was wir vermuten?«
Musil schüttelte den Kopf. »Sie war nicht sehr konkret. Aber sie meinte ebenfalls, dass ich nach Hause gehen und Ihnen die Sache überlassen soll.«
»Und sie hat recht.«
»Nein«, sagte Musil. »Es ist noch nicht vorbei. Malkira ist irgendwo da draußen unterwegs. Er könnte erneut versuchen, meinen Mädchen etwas anzutun.«
»Ich werde dafür sorgen, dass das nicht passiert.«
»Ich will dabei helfen.«
»Ich habe mein Team bereits zusammengestellt«, sagte Carmody. »Wir brechen heute Abend auf.«
»Wohin?«
»Nach Hawaii. Sechstausend Meilen von hier entfernt. Ihre Familie braucht Sie.«
»Wenn Grigor Malkira New York verlassen hat, stellt er für sie momentan keine Bedrohung dar.«
Carmody schwieg einen Moment.
»Es ist irgendetwas Großes im Gange. Es geht nicht nur um Malkira, sondern auch um die Stalwart und noch sehr viel mehr.«
»Ich weiß.«
»Ich weiß, dass Sie das wissen. Ich will damit nur sagen, dass das, was uns erwartet, verdammt gefährlich ist.«
»Ich will euch helfen.«
»Bleiben Sie hier bei Ihrer Familie.«
Musil schüttelte den Kopf.
»Das wäre die einfachere Entscheidung«, sagte er. »Aber Sie waren früher selbst Soldat. Sie sind ein Kämpfer. Sie wissen, dass man manchmal nicht bleiben kann. Manchmal muss man fortgehen, um seine Familie zu beschützen.«
Carmody schwieg erneut, den Blick auf Musils Gesicht gerichtet. Ein paar lange Sekunden verstrichen. Schließlich deutete er mit dem Kopf auf den Eingang der Fußgängerbrücke.
»Kommen Sie«, sagte er. »Die anderen warten unten auf uns.«
Carmody und Musil liefen über die Brücke zum Anbau, bestiegen einen Aufzug und fuhren nach unten.
Dort traten sie in einen Gang, an dessen Ende ein uniformierter Wachmann stand. Auf seiner Schulter prangte das Abzeichen der Quickdraw, der schnellen Eingreiftruppe der Net Force.
Die Quickdraw war hauptsächlich für Auslandseinsätze gedacht. Bei der Gründung hatte man die Net Force nicht mit denselben Befugnissen für bewaffnete Einsätze im Inland ausgestattet wie FBI , Heimatschutz oder örtliche Polizeibehörden. Im Zuge von Schutzmaßnahmen jedoch konnte sie diese Behörden sowie die Nationalgarde und die Küstenwache bei ihren Einsätzen in den USA unterstützen. Die Net Force verfügte also über einen gewissen Spielraum, was die Beteiligung an Operationen der Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste betraf.
Oder anders ausgedrückt, sie war auf einen solchen Fall vorbereitet.
Carmody nickte dem Wachmann zu, und die beiden liefen an ihm vorbei auf eine große Stahltür zu. Es handelte sich um eine dreißig Zentimeter dicke Brandschutztür. Auf Metallschildern an und über der Tür stand, dass Unbefugten der Zutritt zum Bereich dahinter verboten war. Für den Zugang benötigte man einen Tastencode und musste sich an einem biometrischen Scanner identifizieren.
Carmody drückte seinen Daumen auf das Lesegerät und tippte den Code ein. Dann trat er mit Musil durch die Tür.
Um einen der Räume im Flur dahinter zu betreten, musste man sich erneut an einem biometrischen Scanner identifizieren. Die Räume gehörten zum Equipmentlager und waren alle ähnlich angelegt. Ihre Regale und Schränke waren auf einem motorbetriebenen, freitragenden System aus Fahrgestellen und Schienen befestigt. Über Touchpads auf den Frontplatten der Regale konnte man die Elemente wie riesige Buchumschläge aus Metall hin und her schieben. In einigen Räumen gab es hochmoderne Kommunikations-, Überwachungs- und Computertechnologie.
Carol Morse, Dixon, Schultz, Kali und Natasha Mori warteten bereits im Waffenlager des Terminals. Die Edelstahlregale dort glitten jetzt heraus, öffneten sich und bewegten sich hin und her, und zum Vorschein kamen Gestelle und Vitrinen mit Maschinenpistolen, Sturmgewehren, Granatwerfern und Pistolen. Außerdem gab es eine Waffenwerkbank. Regale mit Munitionskoffern. Eine Lagereinheit mit Sprengstoff und optischen Geräten sowie eine begehbare Einheit mit Schutzkleidung.
Carmody betrat direkt hinter Musil den Raum und betrachtete die Gesichter der Anwesenden.
»Da wären wir also alle zusammen«, sagte er.
Um Viertel nach neun traf der schwarze Rhino GX am Great-Circles-Terminal für Privatpassagiere ein. Die Leuchten entlang der Rollbahn waren eingeschaltet, und die Falcon stand mit laufenden Motoren im hellen Schein der Flutlichter.
Der Rhino, ein riesiger SUV , fuhr auf das Vorfeld und kam fast neben dem Flugzeug zum Stehen. Carmody und seine Leute stiegen aus, während Morse vorne beim Fahrer blieb.
Vor dem Flugzeug sprach DeBattista mit zwei Mechanikern und dem Fahrer eines Förderband-Laders. Als Carmody zu ihm hinüberging, unterbrach er das Gespräch.
»Sag mir, dass ich nicht träume.« DeBattista kniff ihm in den Arm. »Du bist tatsächlich pünktlich.«
»Ich wünschte, du wärst etwas netter zu mir.«
»Wen kümmert’s?«, sagte DeBattista. »Also, was habt ihr an Gepäck dabei?«
»Zwei Holzkisten. Und ein paar kleinere Taschen.«
»Was ist in den Taschen?«
»Hauptsächlich Kleidung.«
»Und in den Kisten?«
»Nur Krimskrams.«
DeBattista musterte die Leute, die am Rhino standen.
»Ich wusste nicht, dass Dixon und Schultz dich begleiten.«
»Nun, jetzt weißt du’s.«
»Wer sind die anderen?«
»Ein paar Freunde.«
DeBattistas Blick verharrte auf Kali. »Die Freundin mit dem dunklen Haar gefällt mir.«
»Hör auf, sie so anzuglotzen. Du brauchst deine Augen noch, wenn du im Cockpit sitzt.«
»Ist das die Frau, die dich ihr Motorrad fahren lässt?«
»Ja.«
»Ist nicht wahr.«
Carmody zuckte mit den Schultern. »So was soll vorkommen.«
»Dieser Krimskrams «, sagte DeBattista. »Wird der uns um die Ohren fliegen?«
»Nur wenn er herumgeschleudert wird.«
»Na klasse.« DeBattista zeigte auf den Mann im Förderband-Lader. »Eddie kümmert sich um die Taschen und Kisten. In der Zwischenzeit könnt ihr an Bord gehen. Wir starten in zwanzig Minuten.«
»Okay.«
Carmody ging zum Rhino zurück, bat sein Team, sich noch einen Moment zu gedulden, lief zu Morses Fenster herum und wartete, bis sie es heruntergelassen hatte.
»So, dann seid ihr jetzt weg«, sagte sie.
»Fast.«
»Captain Harper trifft sich mit euch auf dem Stützpunkt Barbers Point.«
»Ja.«
»Du stimmst dich mit ihm ab. Es wird keinen Alleingang geben.«
»Du kannst dich drauf verlassen.«
Morse musterte ihn einen Moment. »Was macht dein Arm?«
»Der ohne das Einschussloch fühlt sich fantastisch an.«
Sie lächelte.
»Viel Erfolg, Mike. Und halt mich auf dem Laufenden.«
Carmody nickte, trat von der Tür fort, und das Wagenfenster glitt wieder nach oben. Er ging zu den anderen zurück, und sie liefen über das Rollfeld und stiegen die Gangway zum Flugzeug hinauf.
In Hawaii war es sechs Stunden früher als in New York, und um Viertel vor elf am Freitagabend landete Grigor Malkiras Flugzeug auf dem Daniel K. Inouye International Airport. Dank eines leichten Rückenwinds hatte der Flug vierzig Minuten weniger gedauert als geplant.
Vor dem Flughafengebäude bestieg Grigor ein Taxi zum Hafen von Honolulu. Auf dem Nimitz Highway herrschte kaum Verkehr, und sie kamen schnell vorwärts.
»Setzen Sie mich am Parkplatz hinter dem Pier eins ab«, sagte er zum Fahrer.
»Wo genau, Sir? Der ist ziemlich groß.«
»Ich sag Ihnen Bescheid.«
Der Taxifahrer nickte und bog auf den weitläufigen Parkplatz. Grigor dirigierte ihn zu einem flachen, weiß gestrichenen Bürogebäude am Wasser.
Davor wartete Jochi, allein.
»Da wären wir«, sagte Grigor zum Fahrer. »Genau hier.«
Der Fahrer hielt an, um ihn herauszulassen. Als er in ein paar Metern Entfernung in der Dunkelheit Jochis große, massige Silhouette erblickte, schien ihn das nervös zu machen. Grigor bezahlte in bar, stieg aus dem Taxi und sah dabei zu, wie der Fahrer rasch wendete und zur Straße zurückfuhr.
Es war eine klare Nacht, und vom Wasser wehte eine leichte Brise herüber. Grigor atmete die salzige Luft ein.
»Wie war der Flug?«, fragte Jochi.
»Er hat mich hergebracht.«
Jochi gab ein Knurren von sich und deutete mit dem Kopf nach links. Östlich des weißen Gebäudes zeichnete sich der gewaltige Rumpf der Xingyun Liwu ab. »Wir sind fast fertig.«
»Bring mich zum Schiff. Ich will es mir selbst ansehen.«
Kali saß schweigend neben Carmody in der Passagierkabine der Falcon. Ihre Drehsessel waren wie kleine persönliche Inseln. Sie waren riesig, hatten taubengraue Polster, runde Rückenlehnen und hohe Armstützen. Der Bodenbelag der Kabine bestand aus kamelhaarfarbenem Plüsch. Es gab mehrere Sitzecken, Tische und einen Essbereich sowie eine Bordküche mit voll bestückter Bar, einem Weinkühlschrank und einem Regal mit Kristallgläsern. Und der Toilettenboden war mit weißem Marmor gefliest.
Das Team hatte sich über die ganze Kabine verteilt. Schultz und Dixon saßen an einem der Tische und spielten Karten. Natasha lag ausgestreckt auf einem Sofa und schlief. Als Carmody zu Kali hinüberschaute, bemerkte er, dass sie Musil beobachtete. Er saß unendlich weit entfernt auf einem Sessel im vorderen Bereich der Kabine, hellwach und in Gedanken versunken. Seit der Abfahrt vom Terminal hatte er kaum gesprochen.
»Ein tapferer Bursche«, sagte Carmody zu Kali.
»Er glaubt an seine Werte. Du hast mir nicht gesagt, dass er mitkommt.«
»Er ist einfach im Terminal aufgetaucht. Ich habe versucht, ihn davon zu überzeugen, zu Hause zu bleiben.«
»Und er hat dich vom Gegenteil überzeugt.«
Carmody nickte. »Er hat wohl einen wunden Punkt bei mir getroffen. Er hat was von Kämpfern erzählt, die ihre Familie zurücklassen müssen, um sie zu beschützen.« Er machte eine Pause. »Überleg mal, wie es früher war. Bevor es Handys und das Internet gab. Für die Soldaten, die Tausende von Meilen von ihren Frauen und Kindern getrennt waren. Wenn sie voneinander hörten, war die Nachricht schon wieder zwei Monate alt.«
Kali sah ihn an und rückte näher, legte ihre Hand auf seine Armlehne und ließ ihre Finger zu seiner Hand wandern. Sie war doppelt so groß wie ihre. Carmody umschloss ihre Finger und drückte sie sanft.
»Kali …«
»Pssst … Michael.«
Er sah sie an, während er ihre Hand auf der Armlehne festhielt. Kali beugte sich zu ihm hinüber und berührte mit dem Mund eine endlose Sekunde lang seine Lippen. Sie hatte ihn nur leicht geöffnet, und ihr Atem vermischte sich mit seinem. Kali bewegte ihren Kopf zur Seite und sog durch die Nase den Geruch seiner Wange ein. Carmody spürte auf der Haut, wie sie einatmete. Spürte ihre Nähe. Das sanfte Kribbeln schnürte ihm die Kehle zu. Schließlich lehnte sie sich wieder zurück.
Die beiden hielten einander noch für einen Moment die Hände und zogen sie dann langsam fort.
»Ich glaube, wir müssen reden«, sagte Carmody.
Sie sah ihm in die Augen und nickte. »Später.«
Es war schon nach Mitternacht, als im Arbeitszimmer des Oval Office Präsidentin Annemarie Fucillos Handy klingelte. Allerdings nicht das Telefon, das ihr der Secret Service ausgehändigt hatte, sondern das Handy, das sie bereits Jahre vor ihrer Wahl zur Regierungschefin besessen hatte – das Klapphandy, das die Leute passend zur First Cat das First Phone nannten. Nach einigem Hin und Her hatte sie mit ihrem Sicherheitsteam einen Kompromiss ausgehandelt, hatte ein paar Veränderungen an seinem Betriebssystem zugelassen und eingewilligt, es nur für Gespräche mit hochrangigen Beratern und ihren engsten Freunden zu verwenden. Dank der veränderten Einstellungen und Nutzungsbeschränkungen war es fast so sicher wie ihr offizielles Telefon. Und jedes Mal, wenn sie abhob, freute sie sich, von dem Anrufer zu hören.
In diesem Fall war es Carol Morse, die bereits eine treue Freundin und Vertraute gewesen war, lange bevor Fucillo sie in die Führungsetage der Net Force berufen hatte. Und die erst vor wenigen Stunden bei einem mysteriösen Unfall mit Fahrerflucht einen ihrer Männer verloren hatte.
»Carol! Wie geht es dir?«
»Mir geht’s gut, Marie …«
Fucillo fand, dass sie gar nicht danach klang. Außerdem litt Morse im Gegensatz zu ihr nicht unter chronischer Schlaflosigkeit und rief um diese Uhrzeit normalerweise nicht an.
»Du hast einen harten Tag hinter dir.«
»Das ist in letzter Zeit keine Seltenheit«, sagte Morse. »Es ist eine Menge passiert. Du wirst die Einzelheiten zwar bei deinem morgendlichen Briefing erfahren. Aber ich wollte dich schon mal auf den neuesten Stand bringen.«
»Okay, schieß los«, sagte Fucillo und hörte sich an, was Morse ihr zu berichten hatte über das Verschwinden der Stalwart , Grigor Malkira, die Entführung von Musils Töchtern und das Containerschiff in Hawaii, mit dem all diese Ereignisse offensichtlich in Verbindung standen.
»Glaubst du wirklich, dass das Schiff etwas geladen hat, um das wir uns Sorgen machen sollten?«
»Wir werden es herausfinden«, sagte Morse. »Aber die Sache stinkt gewaltig. Die Chinesen sind definitiv darin verwickelt. Es fragt sich nur, wie? Die Regierung selbst? Oder Interessengruppen innerhalb der Regierung?«
»Was ein gewaltiger Unterschied wäre.«
»Ja.«
»Besonders wenn diese Interessengruppen Beziehungen zu Russland haben.«
»Und genau danach sieht es aus.«
Fucillo schwieg einen Moment, bevor sie sagte: »Ich wünschte, wir hätten eindeutige Beweise, dass Moskau hinter der ganzen Sache steckt. Etwas, was ich ihnen präsentieren kann, um zu sehen, wie sie reagieren.«
»Ich auch. Und vielleicht finden wir das«, sagte Morse. »Bis dahin, denke ich, sollte sich Präsident Tsao mal mit seiner Schwester und seinem Schwager unterhalten. Was auch immer da vor sich geht, diese beiden stecken bis zum Hals mit drin.«
»Hältst du es für ratsam, Tsao auf die beiden anzusprechen?«
»Ganz ehrlich? Ja«, sagte Morse. »Unsere beiden Länder haben zu viel zu verlieren, wenn die Sache schlecht ausgeht.«
Fucillo nickte vor sich hin.
»Ich werde ihn anrufen«, sagte sie und machte eine Pause. »Abgesehen von der ganzen Sache – geht es dir wirklich gut?«
Morse erwiderte nichts.
»Carol?«
»Ich habe gerade ein paar private Probleme.«
Fucillo saß, die Stirn in Sorgenfalten gelegt, einen Moment da.
»Wir sollten uns ziemlich bald mal zum Mittagessen treffen«, sagte sie schließlich.
Sobald sie an Bord der Yingyun Liwu gegangen waren, führte Jochi Grigor über das Außendeck, vorbei an Reihen von Containerstapeln mit der Höhe von vierstöckigen Gebäuden. Die in helles Licht getauchten Quer- und Längsgänge zwischen den Stapeln waren so breit, dass darauf zwei Autos mit großem Abstand nebeneinander herfahren konnten.
Im Boden des Decks gab es vier Luken, jede für einen der Laderäume, die sich auf dem Unterdeck über die gesamte Länge des Schiffes erstreckten. Sie waren mit mehreren Stahlplatten bedeckt, die sich mit pneumatischen Hebevorrichtungen bewegen ließen. Luke Nummer eins befand sich hinter dem Vorpiek, direkt am Bug.
Jochi blieb neben dem Zeichen stehen, das sie auf dem Deck markierte, zog einen roten LED -Leuchtstab aus der Jacke und hielt ihn über den Kopf. In einem kastenförmigen Häuschen zwei Meter weiter oben legte ein Mann auf seinem Instrumentenpult einen Schalter um.
Mit einem mechanischen Knirschen klappten die Stahlplatten, die die Luke bedeckten, langsam in die Höhe, bis sie sechs Meter senkrecht emporragten, dann glitten sie zur Seite, indem sie sich wie gigantische Spielkarten zusammenschoben, und die riesige Luke kam zum Vorschein. Auf drei der vier Seiten der offenen Luke führte jeweils ein einfacher Lastenaufzug in die Tiefe.
Jochi deutete auf den nächstgelegenen, der sich ein paar Schritte zu seiner Rechten befand.
»Sei vorsichtig«, sagte er. »Es geht ziemlich weit runter.«
Er betrat die Plattform, wartete auf Grigor und drückte einen Knopf, worauf sie nach unten fuhren.
Luke Nummer eins war ein senkrechter Schacht, der von der Oberseite des Schiffes bis zur Unterseite reichte und in die tiefsten Eingeweide der Xingyun Liwa hinabführte. Grigor hielt sich am geschwungenen Metallgeländer des Aufzugs fest, während er in das umgebaute, geräumige Bootsbecken weiter unten schaute. Es war hell und gleichmäßig beleuchtet, sodass er die drei Schnellboote erkennen konnte, die nebeneinander auf ihrer Startrampe ruhten. Die chinesischen Halbtauchboote der Gahjae-Klasse waren grau lackiert und liefen wie der Kopf eines Hais vorne spitz zu.
Als die Plattform den Boden erreichte, kam sie mit einem heftigen Schlag zum Stillstand, und Grigors Bauch wurde von einem brennenden Schmerz durchzuckt. Doch er verzog nicht die geringste Miene.
Jochi trat von der Plattform, und Grigor ließ das Geländer los und folgte ihm. Er sah mehrere Männer, die sich zwischen den Booten hin und her bewegten.
Zusammen mit Jochi lief er an der Startrampe entlang und musterte die Boote. Sie waren nicht besonders lang – vom Bug bis zum Heck fünfzehn Meter – und konnten von einer Crew aus zwei oder drei Personen gesteuert werden, außerdem bot jedes Platz für weitere Passagiere.
»Auf der Landungsstation am Koko Head ist um halb sechs morgens Wachablösung«, sagte Jochi. »Um sechs geht die Sonne auf. Wir werden um vier dort Position beziehen.«
»Nein«, sagte Grigor. »Wir müssen früher aufbrechen. Ist das möglich?«
»Wie viel früher?«
Grigor warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist jetzt zehn vor zwölf. Ich gebe deinen Männern eine Stunde. Dann brechen wir auf und beziehen mit den Booten dort Position.«
Jochi war verwundert.
»Wie kommt’s?«
»Ich habe meine Gründe«, sagte Grigor. »Wie schnell sind die Boote?«
»Sie schaffen bis zu fünfzig Knoten. Also, auf der Wasseroberfläche.«
»Und unter Wasser?«
»Etwa die Hälfte.«
»Auf wie viel Fuß Tiefe?«
»Zwischen sechzig und siebzig Fuß. Sie sind nicht für große Tiefen gedacht.«
Grigor rechnete schnell nach. Fünfzig Knoten waren sechzig Landmeilen pro Stunde. Unter Wasser schafften die Schnellboote also dreißig Landmeilen pro Stunde. Das war langsamer, als Grigor lieb war. Aber je langsamer sie sich bewegten, desto schwerer konnte man sie orten.
Grigor wollte nicht länger auf dem Schiff bleiben. Die ganze Zeit hatte er geglaubt, dass er den Leuten, die das Verschwinden der Stalwart untersuchten, ein gutes Stück voraus war. Und er hatte geglaubt, dass Musil allein zum Bungalow kommen würde. Zwar hatte er Vorsichtsmaßnahmen ergriffen für den Fall, dass Musil sich nicht an seine Anweisungen hielt. Aber wirklich geglaubt hatte er das nicht.
Er hatte sich in Musil geirrt, ihn wahrscheinlich unterschätzt. Allerdings machte er sich mehr Sorgen um den Irren, der durch das Bungalowfenster gekracht war. Der buchstäblich seinen Plan durchkreuzt hatte. Aber Typen wie er machten jeden Plan hinfällig. Grigor durfte sich über ihn keine Illusionen machen. Er hatte den Ausdruck in seinen Augen gesehen. Das hatte genügt, um zu wissen, mit was für einem Mann er es zu tun hatte. Es würde nicht lange dauern, bis er hier auftauchte. Um ihm zuvorzukommen, musste Grigor schnell handeln.
»Ich möchte mich waschen«, sagte er. »Mir ein paar frische Sachen anziehen. Und irgendwas essen. Kannst du das arrangieren?«
»Ja. Ich kümmere mich darum.«
»Außerdem brauche ich einen Erste-Hilfe-Koffer.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Nur eine Schnittwunde«, sagte Grigor. »Nichts Schlimmes.«
Jochi musterte ihn einen Moment.
»Die Kabinen der Crew befinden sich auf der anderen Seite des Schotts«, sagte er und deutete mit dem Kopf Richtung achtern. »Du kannst meine benutzen, da bist du ungestört.«
Er drehte sich um und lief an den Schnellbooten entlang zur stählernen Schotttür. Grigor folgte ihm. Seine Seite pulsierte, und er spürte den Geschmack von Kupfer auf der Zunge. Jochi hatte ihm den Rücken zugekehrt, und Grigor wischte sich mit der Hand über den Mund und betrachtete sie verstohlen.
Sie war voller Blut.