*June

Der Hörer rutschte mir aus den Fingern.

Ich stand da, sekundenlang taub, als hätte mir eine unsichtbare Hand eine schallende Ohrfeige verpasst. Hinter den beschlagenen Scheiben verschwamm der Garten. Die Luft in der Telefonzelle flirrte vor Hitze und schien zu dick zum Atmen.

Vor Liebeskummer war mir heute jeder Bissen im Hals stecken geblieben und es wäre möglich gewesen, dass ich gerade ohnmächtig am Boden lag und fantasierte.

Aber ich hatte mir diese Stimme nicht eingebildet!

Eindeutig hatte jemand »Dieser Ryan ist ein verdammtes Arschloch!« gesagt.

Mit rasendem Herzen angelte ich nach dem herunterbaumelnden Telefonhörer.

»Mama?«, stolperten die Buchstaben von meinen Lippen und ich bereute sie noch beim Ausatmen.

»Jaaa, mein Kind?«, flötete jemand mit einer künstlich hohen Stimme. Ein Junge. Und er zielte direkt in mein offengelegtes Herz.

Heiß kochten Zorn und Scham in meiner Brust über. Mein Hals schwoll an, bis die Worte aus mir herausplatzten: »Hey, du Penner! Raus aus meiner Leitung!«

Allerdings war das … Blödsinn.

Verstohlen linste ich an dem altmodischen Telefonapparat

Es gab keinen Anschluss.

Und dennoch hörte ich aus dem Hörer ein Lachen!

»Du hast gesagt, du brauchst jemanden, der dir sagt, dass Ryan ein Arschloch ist«, antwortete der Junge, die Belustigung immer noch in seiner Stimme hörbar.

»Kennst du Ryan?« Mit einem Zipfel des T-Shirts wischte ich Gucklöcher in die angelaufene Scheibe. Misstrauisch scannte mein Blick jeden Schatten im Garten. Bewegte sich da hinter der Weide ein Ast oder war es ein Arm? Und leuchteten da nicht Augen in dem Busch mit den lilafarbenen Blüten, dessen Namen ich immer vergaß? Garantiert kauerte Ryan mitsamt seinen bescheuerten Hohlbirnenkumpels im Gestrüpp. Wahrscheinlich beobachteten die mich schon die ganze Zeit, kugelten sich vor Lachen und feierten sich dafür ab, mich mal so richtig zu verarschen. Mit brennenden Wangen malte ich mir aus, wie sie meinen tränenreichen Zusammenbruch mitbekommen und lautlos »Mama?« mit den Lippen geformt hatten, um mich nachzuäffen. Reichte es nicht, dass Ryan mich vor der ganzen Klasse bloßgestellt und mein Vertrauen mit Füßen getreten hatte?

Mir entfuhr ein Wimmern und ich biss mir schnell in die Faust.

Ich hörte den Jungen an meinem Ohr atmen. Ruhig. Selbstsicher. Er schien sich kein bisschen zu schämen. Wie abgebrüht musste man sein?

Ich untersuchte Hörer und Apparat erneut. Es lag unverkennbar noch eine jahrealte pudrige Staubschicht als Zeichen meiner seltener werdenden Besuche auf allem.

Früher hatte ich Mama mal jeden Tag angerufen. Doch seit ein paar Jahren … Mein Gewissen machte sich mit einem unangenehmen Brennen im Magen bemerkbar. Augenblicklich wurde ich wieder wütend. Warum sollte ich mich denn mies fühlen?

Der Junge am anderen Ende war schon länger still und ich dachte, er hätte nun doch aufgelegt. Mir entschlüpfte ein Seufzen, warum, wusste ich selbst nicht genau. Wahrscheinlich war ich einfach vollkommen fertig und hatte mir das Ganze nur zusammengesponnen. Stress, niedriger Blutzucker, Hitze …

Ich ließ den Hinterkopf gegen die feuchte Scheibe sinken.

»Also, was ist jetzt mit diesem Ryan? Soll ich ihn mir mal vorknöpfen?«, fragte er.

Mein Herz zuckte zusammen.

»Um ehrlich zu sein, hoffe ich, du sagst Nein, denn ich lehne jede Art von Gewalt ab, auch wenn der Typ es vermutlich verdient hätte. Ich bin leider gar nicht gut im Prügeln … Aber notfalls … Ich meine, ich kenne jemanden, der das echt gut kann …«, plapperte er weiter.

Obwohl ich insgeheim weiterhin auf das hämische Gelächter aus dem Busch wartete, sträubte sich etwas in mir dagegen, das Gespräch enden zu lassen. Vielleicht, weil ich noch nie zuvor eine Stimme aus diesem Telefonhörer wahrgenommen hatte. Dabei war der Typ gewiss der Allerletzte, mit dem ich über Ryan sprechen sollte. Um ehrlich zu sein,

Andererseits … hatte ich den Moment eines glorreichen Abgangs sowieso schon verpasst. Zudem hatte mein innerer Mysterien-Spürhund Fährte aufgenommen und meine Neugier verhinderte, dass ich die Gabel hinunterdrückte.

Unsicher linste ich erneut in den Garten hinaus. Ich entdeckte niemanden.

Warum zögerte ich überhaupt noch? Nun hatte ich mich sowieso bis auf die Knochen blamiert, dann konnte ich auch herausfinden, wie Ryans Minions das angestellt hatten.

»Wer bist du?« Das hätte ich schon längst fragen sollen.

»Ich bin deine Mama …«, sagte er.

Ich biss mir fest auf die Zähne. Es knirschte. »Findest du das nicht geschmacklos?« Meine Stimme war eine Katze mit aufgestelltem Buckel und ausgefahrenen Krallen. »Meine Mutter ist tot.« Spätestens jetzt war der Moment gekommen, aufzulegen, Neugier hin oder her. Diese alten Apparate hatten immerhin den einen Vorteil: Es schepperte ordentlich, wenn man den Hörer hinknallte.

»Oh!« Beim Ausatmen schien er hörbar in sich zusammenzusacken. »Mist! Das … das tut mir leid. Ehrlich! Bitte leg nicht auf.«

Verdammt. Er klang aufrichtig und – auch wenn ich es mir möglicherweise nur einbildete – ein wenig verzweifelt. Und er sagte Mist!. Das konnte keiner von Ryans Typen sein, oder?

»Nenn mir nur einen Grund, weshalb ich das nicht tun sollte? Du platzt hier in meine Leitung, während ich ein privates Gespräch führe.«

Er war immerhin so freundlich, mich nicht darauf

»Ungefähr seit: ›Was ich brauche, ist jemand, der mit mir redet, der mir einen Rat gibt. Oder zumindest jemand, der mir sagt: ‚Dieser Ryan ist ein verdammtes Arschloch!‘‹«, zitierte er mich wortgetreu.

»Und da hast du nicht daran gedacht, mir vielleicht zu sagen, dass du dich in die Leitung gehackt hast, namenloser Spion?«

»Wie? Du hast doch mich angerufen! Und vorgestellt hast du dich genauso wenig.«

Wieder musterte ich die herunterbaumelnden Kabel. Die nächste Frage wälzte ich auf meiner Zunge umher, aber egal, wie ich sie drehte und wendete, sie fühlte sich klobig an und würde mich zielsicher als Durchgeknallte abstempeln.

»Sag mir nur einen Grund, weshalb ich dir vertrauen sollte!«, forderte ich meinen unbekannten Gesprächspartner auf.

Es blieb einen Augenblick still. Insgeheim befürchtete ich, er würde mir sagen, dass es ihm zu dumm wurde und er mich von rein gar nichts überzeugen musste. Gleichzeitig imponierte mir, dass er nicht sofort mit irgendeiner Antwort herausplatzte. Er schien ernsthaft nachzudenken.

»Drehen wir die Zeiger

Auf Viertel vor Herzschlag

Und begegnen uns

Zum ersten Mal erneut.«

Ich schnappte nach Luft, weil seine Worte mich an einem Punkt in der Brust trafen, wo es wehtat.

»Im Ernst? Ich heiße auch Jones!«, rutschte es mir begeistert heraus, ehe ich mir auf die Zunge beißen konnte. Ganz toll!

»Das ist ja ein lustiger Zufall, Miss Jones! Vielleicht bist du mit dem großen Zacharias Jones verwandt?«

»Nicht dass ich wüsste …« Zumindest klang ich jetzt wieder kühl und abweisend. Doch ich befürchtete, dass mein erster Eindruck schon ruiniert war.

»Mein Nachname ist übrigens auch der einer Dichterin. Ich heiße Archer. Lucas Archer. Wie die amerikanische Poetin Ruby Archer. Wir sind allerdings auch nicht verwandt.«

»Schade …«, sagte ich. Und weil das Wort sehnsüchtiger klang, als ich es wollte, fügte ich schnell hinzu: »Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Lucas Archer. Mein voller Name lautet Juniper Jones, du kannst mich June nennen. Und Witze über Alliterationsnamen sind unzulässig!«

Was? Tat? Ich? Denn? Da??? Scherzte ich mit Ryans fiesem Handlanger? Leider ließ er mir keine Zeit, meinen Kopf auf die Tischplatte zu donnern.

»Das würde mir niemals in den Sinn kommen, Miss Juniper – June – Jones. Ich bin absolut entzückt!«

Bei seinen Worten strömte Wärme in meine Brust. Es fühlte sich an, als hätte ich versehentlich einen Sonnenstrahl verschluckt. Vermutlich lag es daran, dass man sein Lächeln beinahe durch die Leitung wahrnehmen konnte. Obwohl ich ihm noch nie begegnet war, sah ich ihn vor mir, mit freundlichen Augen und weichen Lippen. Oh Himmel. Es musste wirklich zu heiß hier drin sein.

»Ich finde deinen Namen äußerst wohlklingend. Man

Das Misstrauen meldete sich kribbelnd wie Ameisen auf meiner Haut zurück. Exzentrische Künstlerin war Ryans Aufreißerspruch gewesen, mit dem er schon vor Monaten versucht hatte, sich mein Vertrauen zu erschleichen …

Und tatsächlich war ich vorhin überstürzt unter dem Wildrosenstrauch durchgekrochen, der dringend einen Grünschnitt verlangte. Ertappt fischte ich mir ein paar Rosenblätter aus den Haaren und spähte erneut durch mein Guckloch in der Scheibe. Doch in den Büschen ringsherum raschelte nach wie vor nur der Wind. Außerdem lag der zweite Teil seiner Vorstellung von mir komplett daneben. So weit, dass Ryan nicht nur blöd, sondern auch blind sein musste, wenn ihm mein Äußeres bisher nie aufgefallen war.

»Ich trage nur Schwarz«, antwortete ich hölzern.

»Mh … Eine Puristin – wie mein Bruder.« Noch immer schien er vor sich hin zu lächeln, zumindest hörte ich keinerlei Anspannung in seiner Stimme.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Trotz allem wollte ich immer weniger, dass er auflegte. Zuerst musste ich das Geheimnis um unser unmögliches Telefongespräch knacken. Zugegeben, ich verfolgte des Rätsels Lösung nicht gerade wie Enola Holmes. Es war halt auch kompliziert, die richtigen Worte zu finden.

Ich schwieg. Lange. War Lucas jemand, der Stille aushielt? Oder sollte ich lieber schnell etwas Belangloses sagen, um das Gespräch am Laufen zu halten?

»Du hast also einen Bruder?«

»Ja.«

»Wie ist das so, Geschwister zu haben?« Es war eine ehrliche Frage, ich hatte mir immer einen weiteren Vertrauten für Pops und mich gewünscht. Jemanden, dem ich nicht alles erklären musste, der dieselben Erfahrungen gemacht hatte wie ich. So stellte ich es mir zumindest vor, Geschwister zu haben. Ryan hatte einen kleinen Bruder und fand ihn unglaublich nervig. Doch ich wollte ja nicht mehr an Ryan denken!

»Es ist das Beste überhaupt!«, sagte Lucas voller Überzeugung. »Ich kann mir kein Leben ohne meinen Bruder vorstellen. Er ist klug, sieht super aus und ist wahnsinnig witzig und … auch ein bisschen verrückt. Seit ich als Fünfjähriger im Italienurlaub mal fast ertrunken bin, glaubt er irgendwie, er muss mich beschützen. Er weiß immer ganz genau, was er will. Du würdest ihn bestimmt mögen.«

Ich sagte nichts, weil in meinem Kopf auf einmal ein unangenehmer Gedanke laut wurde: Er würde mich aber nicht mögen!

»Ich steh nicht auf perfekte Typen«, sagte ich und ärgerte mich, weil ich schon wieder extrem steif klang. Bestimmt hielt er mich bald für seine Oma.

Lucas lachte. Das Geräusch kitzelte meine Mundwinkel, bis sie sich ebenfalls zu einem hauchzarten Lächeln anhoben. In einem letzten Aufbäumen meines Misstrauens presste ich die Hand auf den Mund.

»Ein Glück«, sagte Lucas. »Vielleicht bevorzugst du ja eher unperfekte Kaliber wie mich?«

»Das ist schon okay …«, beruhigte er mich. »Mein Herz ist auch anderweitig vergeben, obwohl sie mich bisher nicht erhört hat. Also können wir ja vielleicht gemeinsam einsam sein?«

Schon wieder musste ich lächeln und dieses Mal versteckte ich es nicht. »Das hört sich nach einem guten Plan an, Lucas Archer.«

»June!« Die Silhouette meines Vaters hob sich unscharf vor der Dunkelheit der Türöffnung ab. Obwohl es, ohne, dass ich es mitbekommen hatte, schon Abend geworden war, zündete er wie immer kein Licht an. »Juniper Jones! Die Geister rufen!«

»O Mann …«, murmelte ich. Manchmal war Pops peinlich. Hoffentlich hatte Lucas das nicht gehört, sonst würde er mich gleich komplett abstempeln.

»Jemand ruft dich …« Lucas klang sehnsüchtig oder bildete ich mir das nur ein?

»Ja …«, gab ich zu. »Das ist mein Vater. Er macht nur Scherze.«

»Du solltest ihn nicht warten lassen, sonst gibt er dir noch Telefonverbot und dann können wir morgen nicht wieder miteinander sprechen.« Er wartete einen Augenblick. »Das wäre schade.«

Mein Herz hüpfte bei seinen Worten schneller, als es sollte. »Ja, das wäre es. Wollen wir morgen also wieder miteinander telefonieren?«

»Das möchte ich sehr gerne. June.«

»Ich ebenfalls. Lucas.«

»Ruf mich morgen wieder an, ja? Ich warte auf deinen Anruf«, sagte er aufgeregt.

»Gib mir deine Nummer!«, bat ich, einen halb vertrockneten Filzstift hervorkramend, mit dem ich sonst auf die Holzstreben der Kabine doodelte.

Pops bahnte sich einen Weg durch den überwucherten Garten und pflückte fluchend ein paar Dornenranken aus seinem Hemdsärmel.

Ich biss den Deckel vom Stift ab und wartete auf Lucas’ Antwort.

Die Stille im Hörer klang dieses Mal anders als unser gemeinsames Schweigen zuvor. Irgendwie spürte ich, dass Lucas nicht mehr da war, trotzdem flüsterte ich seinen Namen in den Hörer. Einmal, zweimal, lauter.

»June!« Nur noch wenige Meter trennten Pops von der Telefonzelle.

»Verdammt. Lucas, wenn du das hörst, ich bin bald wieder hier, okay?«, wisperte ich, die Hand als Muschel über Mund und Hörer gelegt. »Bis morgen, Lucas!«

Mit einem seltsam leeren Gefühl in der Brust legte ich auf.

Zeitgleich öffnete mein Vater die Häuschentür. »Warum antwortest du nicht? Ich dachte schon, du wärst hier drin vor Hitze geschmolzen, Miss Jones!«

Das Telefon noch immer umklammert, als wollte ich die Verbindung zu Lucas nicht aufgeben, stand ich ein paar Augenblicke da. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn kontaktieren sollte. Mir war ja nicht einmal klar, wie dieses Gespräch überhaupt stattgefunden hatte! Es gab zu viele offene Fragen.

Am liebsten hätte ich den Hörer sofort erneut abgehoben und überprüft, ob Lucas durch ein Wunder noch (oder wieder) dran war. Möglicherweise musste ich irgendeine magische Formel sprechen, um ihn anzurufen …

Doch mein Vater stand da und sah mich mit diesem typischen versteckt besorgten Papa-Blick an.

Pops war ein Zauberer. Er erfüllte die Rolle von Vater und Mutter, so gut er es konnte. Und überall dort, wo es ihm nicht gelang, ließ er sich eine kreative Lösung einfallen. Als Mama gestorben war, hatte er zum Beispiel diese selbst gebaute Telefonzelle für mich aufgestellt, damit ich weiterhin mit ihr sprechen konnte. Wir hatten das alte Gewächshaus gemeinsam abgeschmirgelt und das Holz neu gestrichen. Im Lauf der Jahre hatte ich das Telefonhäuschen mit zahlreichen Zeichnungen, Lichterketten und einer gemütlichen Sitzgelegenheit dekoriert, während die Witterung und die Pflanzen des Gartens es von außen geschmückt und zu einem Teil von sich gemacht hatten.

Pops tat zwar grundsätzlich, als wäre sein Leben in bester Ordnung, doch manchmal sah ich ihn mit leerem Blick am Küchentisch sitzen und alle paar Monate erwischte ich ihn in der Telefonzelle. Da saß er dann, den Hörer im Schoß anstarrend, als würde er sich nicht trauen, hineinzusprechen.

Er würde umkommen vor Sorge, wenn ich ein Wort über Ryan verlor. Und, noch schlimmer, wenn ich ihm von dem Gespräch mit Lucas erzählte. Darum schwieg ich und folgte ihm ins Haus.

Heute war der Tag unseres gemeinsamen Geisterdinners.

Tatsächlich nutzte Pops meine Faszination für Okkultes aus, um mir Geschichte und Allgemeinbildung beizubringen.

Letzten Monat hatten wir versehentlich die unglückliche Kombination aus den Geistern von Charles Dickens und einem französischen Landadligen namens Gerard de la Tour du Pin zu uns beschworen. De la Tour du Pin hatte sich nicht besonders mit Dickens verstanden, selbst post mortem belasteten die mehrfachen Kriegsniederlagen Frankreichs gegen England die Beziehung. Pops hatte gesagt, wenn noch einmal ein Geist bei Tisch einen anderen »Tête de putois« (Stinktierkopf) nannte, flog er raus, und zwar genauso schnell, wie die Erbsensuppe auf Dickens’ inexpressibles (für die Briten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts war es schlichtweg unschicklich, ihre zu engen, offenherzigen Hosen als solche zu benennen …) gelandet war.

»Ich habe Lammeintopf mit Curry gemacht, um Charlie Chaplin anzulocken. Etwas Spaß könnten wir heute gebrauchen«, bemerkte Pops und zeigte damit, dass er mein Maskenlächeln wie üblich durchschaut hatte, jedoch zu feinfühlig war, um nachzufragen. Lieber Pops!

»Letztes Mal hast du behauptet, seine Leibspeise wären saure Kutteln gewesen …« Ich schüttelte mich heftig bei dem Gedanken an klein geschnittenen Kuhmagen auf meinem Teller.

Heute war mir ehrlich gesagt weder nach Lamm noch nach Geistern zumute. Meine Gedanken kreisten ununterbrochen um Lucas und die seltsame Verbindung, die rein technisch gar nicht hätte zustande kommen können. Da mir kein plausibler Grund einfiel, erneut in den Garten zu rennen, erwog ich, eine Magenverstimmung zu simulieren. So könnte ich mich in mein Zimmer verkriechen und mir über das unmögliche und zugleich wunderbare Gespräch mit Lucas den Kopf zerbrechen, jedes Wort analysieren und vielleicht ein paar Tarotkarten befragen. Pops’ hoffnungsvoll leuchtende Augen, mein knurrender Magen und der dampfende Eintopf auf dem Tisch machten einen Rückzug aber unmöglich. Manchmal vergaß ich, dass Pops im Grunde genauso einsam war wie ich.

Ich atmete tief ein und klatschte in die Hände. Ihm zuliebe. »Auf gehts, Mister Jones! Hoffen wir, Mister Chaplin hat Hunger.«

 

Dicke rote Tropfen weinten von der Wachskerze. Unter meinen Fingerkuppen vibrierte das warme Holz des OuijaBretts, als Pops etwas Lamm-Stew daraufträufelte. Es war immer wieder das gleiche Spektakel und dennoch packte mich die Aufregung erneut, als wäre es das erste Mal.

Als Hausherr und Koch übernahm Pops die Rolle des Einladenden. »Ist ein Geist in diesem Raum, der diesen köstlichen Lammeintopf mit uns teilen möchte?«

Mein Atem beschleunigte sich, sobald die Markerscheibe sich bewegte.

Wie üblich fragte ich mich, ob Pops die Scheibe verrückte,

»3ApaBCTByNTe«, las ich. »Was soll das bedeuten?«

Pops hob die Hand und lauschte. Ich hörte nur das Kratzen der Rosenranken an unserem Cottage, ein Geschenk des Windes, das die herrlich gespenstische Stimmung unterstrich.

»Ich glaube, das ist kyrillisch …«, sagte er. »Kommst du aus Russland?« Die Wählscheibe schwieg. Pops behauptete, der Geist wäre offensichtlich überfordert mit unserem Alphabet, nannte ihn kurzerhand Piotr, dichtete ihm eine tragische Geschichte (Verlust der Zunge durch unglückseliges Ausplaudern einer Affäre seines Lehnsherrn) an und servierte ihm eine Portion Stew, die Piotr nicht anrührte. Wie auch – ohne Zunge?

»Auf jeden Fall ist das nicht Charlie Chaplin. Wir hätten doch Kutteln nehmen sollen …« Ich schob mir mit der freien Hand einen Löffel Eintopf in den Mund.

»Ist noch ein hungriger Geist da?«, fragte Pops hoffnungsvoll.

Hallo, hier ist Luc…, buchstabierte der Anzeiger und ich verschluckte mich an meinem Bissen. Im Reflex fegte ich das Lamm-Stew vom Brett.

»Den nicht!«, sagte ich hustend und war schon im Begriff, die Kerze auszublasen. Pops’ Augenbrauen bildeten misstrauische Striche, sodass ich schnell meine bekleckerte Hand an einer Serviette abwischte.

»Jemand mit so einem Ganovennamen macht bestimmt Ärger … lass uns weitersuchen.« Ehrlich, mir war selbst nicht klar, weshalb ich derartig reagierte. Es hätte ja ein völlig anderer Name dabei herauskommen können, der nur zufällig wie der von Lucas begann. Oder hatte Pops mit der Scheibe ganz unbewusst zu den Buchstaben geglitten?

»Tut uns leid, Luc …«, sagte Pops zum Glück unbeeindruckt von meinem Blödsinn. »Wir suchen einen anderen Geist … Vielleicht einen, der Englisch kann und Humor hat?«

Goedenavond, min Name ist Antchen …, buchstabierte das Brett.

»Entchen?« Ich musste lachen.

»Ich denke, Antje. Bist du aus den Niederlanden, Antchen?«, fragte Pops den Geist.

Heftig prustete ich in mein Stew, weil er einen absolut albernen Akzent nachahmte, bei dem er ständig ch-Laute an unpassenden Stellen einwarf.

»Was?« Pops lächelte zufrieden. »Holländisch klingt in etwa wie Deutsch mit einer Kehlkopfentzündung.« Ich wusste genau, dass er die Show nur abzog, um mich zum Lachen zu bringen – und es funktionierte.

Während ich den Eintopf löffelte, bei dem Pops es wie immer ein bisschen mit dem Salz übertrieben hatte, diskutierte er mit Antchen Prostitution im vierzehnten Jahrhundert. Die Scheibe flog nur so übers Brett und wir lachten uns halb kringelig über Antchens Beschreibung, wie lange es bisweilen dauerte, einen Mann aus Gugelhaube (kein Kuchen, sondern eine Kopfbedeckung), Houppelande (irgendein komischer Mantel), Suckenie (ein ärmelloses Überkleid), Beinlingen und den zahlreichen Unterkleidern geschält zu haben. Mein Vorschlag, doch wenigstens die Haube aufzulassen, erfüllte sie mit Entsetzen.

Antchens Erzählungen waren urkomisch. Dadurch schweiften meine Gedanken nur selten zu Lucas und zum

Nur als ich am Ende die Kerze ausblies und die Stew-Reste vom Ouija-Brett wischte, erinnerte ich mich noch einmal an Luc. Hätte das Brett ohne meine Unterbrechung wirklich Lucas buchstabiert? Oder doch eher Lucien, Luciano oder Lucky Luke? Hatte Pops die Zeigescheibe absichtlich auf diesen Namen gelenkt, weil er wissen wollte, mit wem ich in der Telefonzelle gesprochen hatte? Würde er das tun, anstatt mich direkt danach zu fragen?

»Pops, kennst du zufällig einen Lucas Archer?« Ich atmete flach, um meine Aufregung zu verbergen.

Er stand mit dem Rücken zu mir in der Küche und spülte ab. »Wieso fragst du?«

»Nur so …« Ungeduldig trippelte ich von einem Fuß auf den anderen und schnappte mir ein Handtuch, um meine Finger zu beschäftigen. »Kennst du ihn?«

Er warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder abwandte und den gusseisernen Topf ins Wasser tauchte. »Nie gehört.«

»Okay …« Manchmal wünschte ich mir, Pops wäre wie normale Väter und würde mich jetzt ausquetschen über diesen Jungennamen. Immerhin könnte Lucas ja potenziell ein neuer Freund von mir sein. Irgendwie enttäuschte es mich, dass er nicht nachfragte. Doch das war bescheuert und ich brachte hastig unsere Teller weg, damit er mir nicht ins Gesicht schauen konnte.

 

Trotz des lustigen Abends war der nächste Tag für mich eine einzige Quälerei. Ich war zu spät ins Bett gekommen und meine Träume waren wirr von herumfliegenden Zungen, Telefonhörern, die mich auslachten, und einer blonden

Wie Schweineborsten! Jawohl! Nichts, was ich jemals wieder anfassen wollte. Seufzend fixierte ich die weiße Rückenlehne vor mir.

Egal, wie lange ich auf diese Schule ging, es fühlte sich auch nach Jahren noch an, als sei ich zu Unrecht im Gefängnis eingesperrt. Okay, in einem palastartigen Luxusknast mit Schülerinnen und Schülern, die sich alle für etwas Besseres zu halten schienen. Ich hielt mich an die Kleiderordnung – Schwarz war zum Glück immer erlaubt – und ich schrieb passable Noten und störte nicht im Unterricht. Doch es änderte nichts daran, dass ich mir in den langen, überfüllten Fluren und den unpersönlichen Klassenräumen immer wie ein Fremdkörper vorkam.

An manchen Tagen war es schlimmer als an anderen, zum Beispiel heute. Die Schulstunden zogen sich ewig hin und dann schlug mir ein unangekündigter Vokabeltest in Französisch in die Kniekehlen. Mir fiel partout nicht ein, was »verärgert sein« hieß, obwohl ich mir sicher war, dass De la Tour du Pin Dickens mehrfach mitgeteilt hatte, wie sehr das Verhalten des »Rosbifs« ihn verärgerte … Wunderbar, dass ich mir gemerkt hatte, wieso die Franzosen – die laut

Zu allem Übel behielt mich mein Lehrer nach der letzten Stunde länger da, weil er mit mir etwas besprechen wollte, was von meinen Mitschülern die üblichen zum Himmel verdrehten Augen und hämisches Tuscheln zur Folge hatte. Meistens störte mich das kaum noch, aber heute hielt ich es irgendwie nur schwer aus.

»Schläfst du in letzter Zeit gut, Juniper?«

Ich atmete langsam aus, bevor ich ihm direkt in die Augen sah. »Alles bestens. Danke für Ihre Sorge, Mister Blake. Ich habe nur ein wenig Eisenmangel, deswegen nehme ich schon ein Medikament ein.«

»Hast du dir die Sache mit dem Theaterklub überlegt? Ich denke nach wie vor, du wärst eine Bereicherung mit deinem Wissen über Literatur und …«

… Anschluss zu Gleichaltrigen würde dir ebenfalls guttun, vollendete ich in meinem Kopf den Satz, den ich oft genug gehört hatte.

»Ich habe im Moment privat wahnsinnig viel um die Ohren. Vielleicht im nächsten Schuljahr.« Auch meine Antwort kannte Blake auswendig und er nickte nur resigniert.

»Komm zu mir, wenn du reden willst.« Ohne mich aus den Augen zu lassen, packte er seine abgewetzte Ledertasche. Ich bedankte mich erneut gezwungen höflich und floh aus dem Klassensaal. Natürlich war mein Bus dann schon weg.

Der Ort, an dem mein Vater den Lebenstraum meiner verstorbenen Mutter erfüllte, lag etwas abgelegen auf dem Land. Besuch bekamen wir fast nie, das gehörte unter anderem zum Charme unseres wild-romantischen

Leider bedeutete es auch, dass nur einmal pro Stunde ein Bus fuhr (der in jedem Kuhkaff anhielt, obwohl dort nur alle paar Jahre jemand ein- und ausstieg) und nach sechs Uhr abends gar keiner mehr. Normalerweise machte mir das nichts aus, ich las beim Warten einfach oder nutzte die Zeit für einen Bibliotheksbesuch. Doch heute wollte ich unbedingt schnellstmöglich in meine Telefonzelle. Mit jeder Minute, die sich quälend langsam dahinzog, verstärkte sich das Kribbeln in meinem Bauch.

Unruhig rutschte ich auf dem Plastiksitz der Bushaltestelle herum und stieß dabei gegen meinen Sitznachbarn. Sein Comic fiel herunter. Er fluchte leise, während er ihn aufhob und abklopfte, als wäre er sauer auf das arme Buch.

Er roch gut.

Die Kapuze seines schwarzen Hoodies war ihm beim Vorbeugen über den Haarschopf gerutscht und ich senkte schnell den Blick, als er sich wieder aufrichtete.

Eine Entschuldigung murmelnd, starrte ich auf meinen Daumen, wo die Nagelhaut vom nervösen Herumknibbeln eingerissen war.

Anhand der Bewegung seiner Schulter an meiner spürte ich, wie er den Kopf drehte und mich ansah. Plötzlich war die Luft schwer und aufgeladen wie bei einem Gewitter. Irritiert rieb ich die aufgestellten Härchen auf meinen Unterarmen, während er mit einem scharfen Einatmen aufsprang, als hätte ich Stromschläge verteilt.

Ausgerechnet.

Diese Stadt war groß genug, dass manche Menschen spurlos darin verschwanden und man sie nie wiederfand.

Und trotzdem saß die einzige Person, die ich in meinem Leben niemals hatte wiedersehen wollen, genau neben mir und tat, als hätte sie mich noch nie gesehen.

Das Teufelchen auf meiner Schulter sagte etwas. Ich drehte die Musik lauter, sodass ich sein fieses Geschwätz nicht hören musste. Doch selbst der treibende Doublebass-Beat half nicht, ihre Anwesenheit neben mir auszublenden.

Ich klammerte mich an mein Comicbuch wie an einen Rettungsring auf hoher See. Wenn ich die erste Seite wieder und wieder lesen würde, wäre ich sicher.

Captain!

Die Worte verschwammen vor meinen Augen. Doch ich musste sie lesen, sie beschützten mich, sie –

Ihr spitzer Ellbogen traf mich in die Seite und das Buch flog mir aus der Hand. Die rettenden Worte verschwanden und ich ging unter.

Sie reagierte nicht, starrte nur auf ihre Hände und tat so, als wäre ich Luft.

Schlagartig hielt ich es nicht mehr aus.

Sie. Ihre schneeweiße Haut. Die Schatten unter ihren Augen. Den dunklen Pony, unter dem sie ihren Blick versteckte. Ihren Atem. Ihren Herzschlag.

Ich hielt es nicht aus, dass sie lebte.

Ich sah ihm nach, wie er davonstürmte. Dabei geschahen mehrere Dinge gleichzeitig:

– Ein Gefühl des Erkennens traf mich, als seine hastigen Schritte ihm die Kapuze von den schwarzen Haaren wehten. Dabei war ich mir sicher, in meinem ganzen Leben noch kein Wort mit dem Typen gesprochen zu haben.

– Mein Herz zog sich so schmerzhaft zusammen, dass ich mir an die Brust fassen musste wie eine schwindsüchtige Jungfrau in zu engem Korsett.

– Zu guter Letzt dämmerte mir, was für eine Empfindung mir aus seinem Verhalten entgegengesprungen war: Feindseligkeit.

Verdattert starrte ich ihm hinterher, bis er um die nächste Häuserecke verschwunden war.

Der Comic lag noch neben mir auf dem Sitz. Als der Bus kam, nahm ich das Buch aus einem Impuls heraus mit, obwohl ich mich wie eine Diebin fühlte.

Das miese Gefühl nagelte mich die ganze Heimfahrt über in den Sitz. Ich war es gewohnt, nicht gerade beliebt zu sein. Meine Mitschüler fanden mich schon immer seltsam und wichen mir aus. Aber dass mich jemand, den ich überhaupt nicht kannte, derart hasserfüllt anstarrte und sogar weglief, weil er es offensichtlich nicht in meiner Gegenwart aushielt, war neu.

Pops behauptete, ich hätte gewisse Antennen für die Gefühle anderer. So wie manche Menschen das Talent besaßen, zielsicher die passende Kleidungs- oder Haarfarbe empfehlen zu können. Oder wie Musiker ein Instrument spielen konnten, ohne es gelernt zu haben. So ging es mir

Autsch.

Auf diese Erfahrung hätte ich gern verzichtet.

Ich starrte das bunte Buch in meinem Schoß an. Die Ecken waren abgerundet und der Buchrücken voller Rillen. Warum hatte ich diesen doofen Comic mitgenommen? Ich traute mich nicht einmal, ihn aufzuschlagen, aus lauter Angst, dass mir daraus ebenfalls der blanke Hass entgegenschlagen könnte. Das war selbstverständlich hysterischer Unsinn, trotzdem ließ ich das Buch lieber zu und presste es auf meinen Schoß, als könnte es von selbst aufspringen und mich in die Hand beißen.

Quatsch, Quatsch, Quatsch!

Ich ignorierte den hämmernden Puls in meinem Hals und klappte den Deckel auf.

Captain!

Deine Seele

Ist ein finsteres Loch.

Doch es wachsen

Die schönsten Gefühle darin.

Für immer deine andere Hälfte,

Littlefoot

Die Erkenntnis fühlte sich an wie ein kalter Regenschauer. Offensichtlich war der Comic ein Geschenk von seiner Freundin gewesen. War er deshalb sauer, weil er es meinetwegen fallengelassen hatte? Das wäre zwar etwas übertrieben,

Das schlechte Gewissen nagte an mir, als ich in meinem Dorf ausstieg. Auf dem gewundenen Pflasterweg, der zu unserem Cottage führte, wog der Comic zwei Tonnen.

Pops war noch nicht zu Hause und ich packte das Buch vorsichtig in einen Jutebeutel und dann in meine Schultasche. Den ganzen Tag über hatte ich es kaum erwarten können, zur Telefonzelle zu kommen, und jetzt schien es mir wichtiger, zuerst das Buch zurückzubringen.

Seufzend ging ich durch die Hintertür hinaus in den Garten. Es war wahrscheinlich sowieso umsonst, Lucas würde nicht da sein, es war unmöglich. Besser, ich stellte mich schon einmal auf die Enttäuschung ein …

Der Weg zur Kabine war heute voller Dornen und ich brauchte gefühlt dreimal so lange wie sonst. Auch die Tür wog schwerer und knarzte lauter. Ich überlegte sogar, erst Öl für die Scharniere zu besorgen und ob es nicht Zeit für eine Grundreinigung des Häuschens war. Doch schließlich gab ich mir einen Ruck, trat ein und hob den Hörer ab. Besser, ich bereitete dem Spuk ein Ende und gestand mir ein, dass ich mir das Ganze gestern nur eingebildet hatte. Und dann würde ich endlich mal die Psychologin anrufen, deren Visitenkarte Pops auffällig unauffällig vor ein paar Monaten in eine Rahmenecke des Garderobenspiegels geklemmt hatte.