Ich hatte weder zu Abend gegessen, geschlafen noch gefrühstückt, doch der Zorn verlieh mir Flügel. Meine finstere Miene schreckte wohl alle in der Schule ab. Zumindest wurde ich im Unterricht und in den Pausen in Ruhe gelassen. Gut! Denn ich fühlte mich, als müsste ich beim kleinsten Geräusch aus der Haut fahren.
Meine Gedanken kreisten um den Unfall und die Frage, was Pops mir so krampfhaft verschwieg. Ich verfluchte mein dummes Gehirn, dass es mit den Informationen nicht herausrückte. Gleichzeitig fürchtete ich mich jedoch davor, was ich aufdecken könnte, falls ich nachforschte. Was war schrecklich genug, dass es Pops dazu trieb, mich derart zu behandeln?
Egal! So ungut sich meine Vorahnungen auch anfühlten, die Unsicherheit war schlimmer. Ich würde herausfinden, was mir passiert war.
Nur hatte ich keine Ahnung, wo ich anfangen sollte. Gab es über solche Unfälle Zeitungsberichte? Und wenn ja, wie kam ich an die Zeitung von vor sechs Monaten? Gab es dafür Archive? Online-Mediatheken? Wenn ich Glück hatte, stand da unter Verkehrsdelikten ein Zeugenaufruf zum Unfall oder eine kurze Meldung über eine ungeklärte Fahrerflucht. Es sei denn, selbst das wäre gelogen, denn Pops hatte behauptet, der Fahrer des Wagens sei abgehauen. Der Arzt, der damals mit sorgenvoller Miene herumgeschlichen war, hatte dem nicht widersprochen. An den Mediziner erinnerte ich mich sogar erstaunlich genau! War das ein Zeichen?
Ich nahm die Bahn zum Krankenhaus. Am Empfang musste ich eine Ewigkeit warten, bis der Pförtner auf meine Beschreibung hin den Namen des Arztes erraten hatte. Okay, möglicherweise gab es mehrere Mittvierziger mit Schmalztolle und lila Wasserfarbklecks-Clogs … doch irgendwie bezweifelte ich das.
»Ah! Du hast Glück, da kommt er gerade! Doktor Singh! Einen Moment, bitte.«
Ich fuhr dem Fingerzeig des Pförtners folgend herum, halb überzeugt, dass es nicht derselbe Arzt von damals sein würde. Doch genau der Mann stand mir nun gegenüber und nach ein paar Sekunden stirngerunzelter Musterung weiteten sich seine Augen. Er hatte mich erkannt.
Ha! Keine Ausreden möglich, Bürschchen!
»Juniper! Wie geht es dir denn? Du siehst gut aus!«
Vor lauter Überraschung wusste ich einen Moment lang gar nicht, was ich sagen sollte. Er hielt seine Hand wenige Zentimeter hinter meinem Rücken, wie um mich sanft in eine Richtung zu lenken, doch ohne mich zu berühren. Zögerlich ging ich los.
»Kann ich dir einen Kaffee anbieten? Oder eine heiße Schokolade?«
»Kaffee wäre toll«, krächzte ich. War es normal, dass ein Arzt sich Monate später an eine Patientin mit einer läppischen Gehirnerschütterung und Platzwunde am Kopf erinnerte? Mein Misstrauensradar schlug Alarm.
Er leitete mich in die Cafeteria, wo ich das Sandwich, welches er mir fragend hinhielt, ablehnte. Ich beobachtete ihn, wie er zwei Kaffee Crema auf der Maschine bestellte, Milch und Zucker auf das giftgrüne Tablett warf und noch ein Stück Pfirsichkuchen auf seine Rechnung schreiben ließ. Er schien nicht besonders nervös. Nur, hatte er überhaupt einen Grund dazu?
Doktor Singh dirigierte mich zu einem Tisch für zwei Personen in einer Ecke und bedeutete mir, mich auf einen der beiden grauen Plastikstühle zu setzen. Er schob das Kunstblumengesteck und den Salzstreuer sorgsam beiseite, ehe er das Tablett in die Mitte stellte.
»Also, June. Dann erzähl doch mal: Machst du Fortschritte mit deiner Amnesie? Irgendwelche Erinnerungen, Flashbacks, wirre Träume?«
Ich würde sehr geschickt sein müssen. Vielleicht so tun, als wüsste ich schon alles? Und ich würde ihn sprechen lassen. Hoffentlich plauderte er etwas aus.
Um Zeit zu schinden, kippte ich Milch und Zucker in den Kaffee, rührte um und verbrannte mir trotzdem prompt die Zunge am ersten Schluck.
»Ja. Alles drei«, wich ich schließlich aus. Ich konnte mich ab jetzt wohl Sherlock nennen. Nicht.
Er nickte. »Das ist normal. Es ist ein Zeichen, dass deine Erinnerung zurückkommt. Das wird immer häufiger passieren, sei nicht besorgt deswegen.«
»Haben Sie ein sehr gutes Gedächtnis?«, fragte ich.
Er schmunzelte. »Na ja … wenn es darum geht, wo das letzte Stück Zartbitterschokolade versteckt ist, schon. Wann ich allerdings meine Schwiegermutter treffen sollte, kann ich mir seltsamerweise nie merken.«
Ich verdrehte die Augen, schenkte ihm aber auch ein kurzes Lächeln. »Erinnern Sie sich denn an all Ihre Patientinnen?«
Er stach mehrmals mit der Gabel in den Kuchen. »Nein.«
Noch ein Stich. Der Kuchenteller glich zunehmend einem Massaker.
Es war klar, dass auf die Weise nichts aus ihm herauszubringen war, und ich schob die Kaffeetasse von mir. Eigentlich hatte ich gehen wollen. Doch dann fiel mir noch etwas ein und ich sagte beiläufig, obwohl mir das Herz bis zum Hals klopfte: »Sie erinnern sich wegen dem Jungen an mich.«
Allerhöchstens würde er mir nahelegen, mein Gehirn überprüfen zu lassen. Er ließ die Gabel sinken und starrte auf den Pfirsich, der wie Eingeweide aus einem überfahrenen Tier seitlich aus dem Kuchen quoll. Mir war ein bisschen schlecht.
»Dann weißt du es also …«
Ich ersparte mir die Lüge, da er sowieso nicht aufsah. In mir stritten sich Engelchen und Teufelchen. Der Engel schämte sich für den schmutzigen Trick und dass ich Pops’ Regel gebrochen hatte, der Teufel jubelte. Endlich würde ich etwas herausfinden. Mein Herz flatterte zwischen Hoffnung und Bangen hin und her.
Dann schaute Doktor Singh mich an: »Es ist nicht deine Schuld, June. Es war einfach ein tragischer Unfall.«
Er nickte ein paarmal, als wollte er sich selbst von der Aussage überzeugen, seufzte und deutete auf meinen Kaffee. »Trink in Ruhe aus, meine Pause ist leider vorbei. Wenn du reden willst oder Sorgen hast, kannst du jederzeit herkommen, dann nehme ich mir Zeit für dich. Oder ruf vielleicht besser bei der Therapeutin an, die ich euch empfohlen habe. Und richte deinem Vater schöne Grüße aus.«
Ich nickte.
Es ist nicht deine Schuld, June.
Er stand auf.
Es war einfach ein tragischer Unfall.
Doktor Singhs Hand fiel etwas zu fest auf meine Schulter. Ich zuckte zusammen, er drückte einmal zu. Die Flügeltüren wehten ihn hinaus. Meine Augen brannten, als ich ihm hinterherstarrte.
Nicht deine Schuld … Ein tragischer Unfall … June … Dann weißt du es also …
Ich kam erst wieder zu mir, als ich an der Bushaltestelle stand, den Henkel der Krankenhaustasse noch umklammernd.
»Ah! Shit!«, fluchte ich und drehte mich Richtung Mülleimer, um zumindest den kalten Kaffee wegzukippen. Die Tasse prallte gegen einen Widerstand.
Schwarzer Kaffee schwappte auf schwarzen Hoodie.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund und begann sofort mit dem Ärmel an dem dunklen Fleck herumzureiben.
»Verflucht. Tut mir leid! Das war wirklich ein Unfall …«
Es war einfach ein tragischer Unfall.
Etwas stimmte nicht. Mein Kollisionspartner stand wie erstarrt da. Er sagte nichts, nur sein Hass brüllte mir entgegen. Und sein Geruch … Ich hörte auf zu rubbeln und sammelte all meinen Mut.
Was für ein Zufall, dass ich ausgerechnet jetzt den Kapuzentypen traf und das Dare erfüllen konnte.
»Also …« Gerade als ich genug Mut gesammelt hatte, um den Kopf anzuheben und ihm zum ersten Mal ins Gesicht zu blicken, wirbelte er herum und rannte davon.
Nicht mit mir, Freundchen! Ich werde mich heute entschuldigen, komme, was da wolle!
»Hey!« Der restliche Kaffee schwappte mir über die Hand, als ich ihm nachsetzte. Er sah sich gehetzt um, hatte jedoch einiges an Vorsprung. Er war schnell und trug keine erkalteten Heißgetränke mit sich herum. Schon nach wenigen Metern verfluchte ich mich dafür, nicht gelegentlich joggen zu gehen. Dieser Typ trainierte anscheinend für den London-Marathon. Es entging mir nicht, wie geschmeidig und leichtfüßig er sich um Autos, Fußgänger und Cafétische herumschlängelte, während meine Lunge sich verflüssigte und meine Schritte auf den Asphalt platschten, als trüge ich Schwimmflossen.
Wenn ich nur wenigstens diese verflixte Tasse loswerden könnte! Ach, wem machte ich etwas vor? Das Ding konnte mich gar nicht langsamer machen. Ich war eine Schnecke! Und er war ein Blitz.
»Warte!«, japste ich. Selbstverständlich spornte ihn das nur an, noch schneller zu rennen. Scheiße! Ich beschränkte mich aufs Atmen, für mehr Worte hatte ich sowieso keine Luft. Falls ich nachließ, würde ich ihn verlieren und das kam heute nicht infrage.
Picadilly Circus war der ideale Ort, um jemanden in dem Gewimmel aus Autos, Bussen, Touristen und schreienden Verschwörungstheoretikern abzuschütteln. Doch ich war verzweifelt und boxte mich rücksichtslos durch die Menge, die er vor mir scheinbar ungehindert durchschnitt wie ein heißes Messer die Butter. Ich hatte es Lucas versprochen, es gab kein Zurück mehr. Jetzt sah ich eh schon aus wie die absolute Stalkerin, dann konnte ich es auch wenigstens beenden. Ein für alle Mal.
Er bog in den Saint James’s Park ab. Zwar hatte er da freie Bahn, um noch schneller zu rennen, dafür konnte ich ihn aber auch besser sehen. Er preschte über die Brücke auf die andere Seeseite. Ein paar Wasservögel stoben auf und ein Eichhörnchen keckerte aufgebracht, als ich ihren Weg kreuzte. Bald konnte ich wirklich nicht mehr!
Er verließ den Park in Richtung eines dieser schicken Wohngebiete. Hier würde er mir wahrscheinlich endgültig entkommen, weil ich mich auf der offenen Rasenfläche vollkommen ausgepowert hatte.
Ich sammelte meine allerletzten Kraftreserven, gab ein weiteres Mal Gas und sauste um die Häuserecke.
RUMMS!
DA LAG ICH. DIE BESCHEUERTE TASSE IMMER NOCH UMKLAMMERT. UND VOR MIR STAND …
»LUCAS!«
PLÖTZLICH SPÜRTE ICH WEDER DIE ZITTERNDEN BEINE NOCH MEINE BRENNENDE LUNGE. ICH SPRANG AUF UND SCHLANG DIE ARME UM IHN.
ICH UMARMTE EINEN EISKLOTZ.
ER SCHIEN NICHT EINMAL ZU ATMEN UND ES HÄTTE MICH KAUM GEWUNDERT, WENN SICH TÖDLICHE STACHELN DURCH SEINEN SCHWARZEN KAPUZENPULLI GEBOHRT HÄTTEN. MOMENT …
SEIN GERUCH …
LUCAS … WAR … DER KAPUZENTYP?
ICH VERSUCHTE, DIE PUZZLESTÜCKCHEN IN MEINEM KOPF ZUSAMMENZUSETZEN, DOCH IRGENDETWAS PASSTE NICHT. ALS OB ICH VERSUCHEN WÜRDE, TEILE VON ZWEI VERSCHIEDENEN PUZZLES ZUSAMMENZUFÜGEN.
BEVOR ICH ZU EINEM SCHLUSS KAM, EXPLODIERTE DER JUNGE IN MEINEN ARMEN. ER VERPASSTE MIR EINEN SO HARTEN STOSS, DASS ICH ZURÜCKTAUMELTE UND MIR DIE HERUMSCHWINGENDE (VERDAMMTE) TASSE INS GESICHT SCHLUG. DANN GING ICH ZU BODEN. AUGENBLICKLICH FÜLLTE SICH MEINE NASE MIT HITZE UND ETWAS LIEF MIR AUS DEN NASENLÖCHERN. DOCH ICH FÜHLTE GAR KEINEN SCHMERZ.
ICH STARRTE NUR ZU DEM JUNGEN AUF, DER MICH SO UNVERHOHLEN HASSERFÜLLT ANFUNKELTE, DASS KEIN RAUM FÜR ZWEIFEL BLIEB.
»FASS MICH NIE WIEDER AN, KLAR?«
DIE STIMME? SIE PASSTE NICHT. WAS WAR HIER LOS? ICH KANNTE SEIN GESICHT. DIE DICHTEN SCHWARZEN HAARE, DIE IHM IN DIE STIRN FIELEN, DIE SCHLANKE NASE, DIE ETWAS TROTZIG AUFGEWORFENE UNTERLIPPE. MIT HUNDERTPROZENTIGER SICHERHEIT HATTE ICH IHN KURZ VOR MEINEM UNFALL GESEHEN.
ER GING EINEN SCHRITT RÜCKWÄRTS, DIE HÄNDE VON SICH GESTRECKT MIT ABGESPREIZTEN FINGERN, ALS SEI ICH EIN GEFÄHRLICHES TIER. DABEI HATTE ER MICH GESCHUBST.
Es war einfach ein tragischer Unfall.
Und dann traten mir die Tränen in die Augen. Ich presste die Handballen so fest auf meine Lider, dass ich blaue Punkte sah. Doch das Schluchzen konnte ich nicht zurückhalten.
»Entschuldigung«, flüsterte ich.
Er sagte nichts. Vermutlich war er längst über alle Berge.
»Es tut mir … tut mir so … so leid.«
Mir antwortete nur das Knattern eines Motorrollers in der Ferne und sein nach wie vor eisiges Schweigen. Zögerlich ließ ich die Hände sinken. Erstaunlicherweise stand er immer noch an derselben Stelle. Seine Arme baumelten an den Seiten, als hätte ihm jemand die Muskelkraft geraubt. Überhaupt schien er kaum mehr stehen zu können. Nur ein letzter Faden von Wut hielt seinen Körper aufrecht.
Er sah mich nicht an, sondern das Blut, welches auf dem Boden vor mir ein Klecksbild auf den Asphalt gemalt hatte.
Ich glaubte, ihn mit den Zähnen knirschen zu hören.
Er atmete laut. Mehrmals. Ein. Pause. Aus. Pause. Pause. Ein …
»Komm!« Es war mehr ein Knurren als ein menschlicher Laut.
Ich schüttelte den Kopf und das Nasenblut sprenkelte meine Hose.
»Ich sage es nur noch ein einziges Mal: Steh auf und komm jetzt. Du blutest.«
Na klar! Wieso sollte ich nicht dem bösen Wolf in seine Höhle folgen?
Und weshalb zum Teufel rappelte ich mich auf und stolperte ihm hinterher?
Er überquerte die Straße, stapfte drei Stufen hoch und schloss eine weiße Haustür mit einem dieser Messingtürklopfer in Form einer gewundenen Schlange auf. Ohne sich nach mir umzusehen, ging er hinein, ließ die Tür aber offen.
Meine Nase blutete so stark, dass selbst meine hohle Hand nicht alles auffangen konnte und ich befürchtete, in dem fremden Haus eine Schweinerei anzurichten. Darum nutzte ich kurzerhand die verflixte Tasse, die sowieso schuld an dem Ganzen war.
Im Haus war es kühl und es herrschte eine seltsame Stille. So leise war es bei uns nie. Selbst wenn keiner daheim war, knarzte irgendwo ein alter Balken oder man hörte die Vögel durch die undichten Fenster pfeifen. Seit die Haustür hinter mir ins Schloss gefallen war, drang hier nicht einmal mehr Autolärm herein.
Auf Zehenspitzen schlich ich hinter dem Jungen, der wie Lucas aussah, her. Ich fühlte mich wie ein Schmutzfleck in diesem makellosen Haus. Der Kapuzentyp schaltete keine Lampe an, doch er bewegte sich zielsicher durch den dunklen Flur. Als er die Tür zu einem Badezimmer aufstieß, fiel ein Streifen Licht in den Gang und ließ mich eine Reihe gerahmter Fotografien an den Wänden erkennen.
»Genug geglotzt?«, maulte er aus dem Bad.
Ich blieb im Türrahmen kleben. Weiße Plüschvorleger bedeckten den gekachelten Boden, als ob ein Riese sie verstreut hätte. Betreten blickte ich auf meine schmutzigen Boots und versuchte, die Tasse zwischen den Knien balancierend, die Schnürsenkel aufzuknoten.
Er kickte die Teppiche unwirsch beiseite und winkte mich herein. »Jetzt mach schon! Und lass gefälligst die Schuhe an!«
Kopfschüttelnd zerrte ich an einem Knoten.
Er seufzte, dann zog er mit spitzen Fingern die Tasse beiseite und hielt mir stattdessen ein schneeweißes Handtuch hin. Als ich es nicht nehmen wollte, drückte er es mir mit einem genervten Laut kurzerhand ins Gesicht. Ich heulte leise auf. Wie peinlich, ich machte hier alles dreckig!
Ich fühlte eine Berührung an meinem Bein. Wegen des Handtuchs konnte ich nicht sehen, was passierte, also knüllte ich das Tuch unter der Nase zusammen und linste auf seinen vornübergebeugten Haarschopf.
Er kniete vor mir. Vorsichtig, als wären meine Schuhe aus Glas, löste er die Schnürsenkel und zog mir erst den einen, dann den anderen Stiefel vom Fuß. Seine Hände zitterten.
»Danke«, murmelte ich.
Er schüttelte nur den Kopf, öffnete ein Schränkchen und zog einen ganzen Stapel (weißer! Wer hätte es gedacht?) Waschlappen hervor. Zwei davon hielt er kurz unter den laufenden Wasserstrahl im Waschbecken. Sekunden später klatschte er mir einen in den Nacken, sodass mir das Eiswasser den Rücken hinunterrann. Ich schauderte. Er nahm mir das Handtuch weg und gab mir einen weiteren tropfnassen Lappen.
»Halt dir damit mindestens zehn Minuten die Nase zu.«
Lieber Himmel, war das alles peinlich!
Brav befolgte ich seinen Befehl und musterte ihn verstohlen, wann immer er beschäftigt war.
Es war nicht schwer, ihn zu beobachten, er wich meinem Blick fast schon krampfhaft aus. Blass war er. Und er schwitzte. Komisch, heute war einer dieser frühen Oktobertage, die sich so richtig nach Herbst anfühlten, und im Haus herrschten Temperaturen, die nach Wollsocken und heißem Tee schrien.
Vielleicht lag es an unserem Wettrennen vorhin? Unwahrscheinlich, selbst ich unsportliche Stelze schwitzte mittlerweile nicht mehr.
Als er das blutbesudelte Handtuch aufhob, krallte er sich auf einmal an den Wannenrand, sodass seine Fingerknöchel spitz hervorstachen. Sein Atem ging gepresst.
»Alles okay?«, näselte ich.
»Nicht! Sprechen!«, keuchte er. Er hatte die Augen geschlossen. Sein Körper bebte.
Ich ließ die Nase los und legte ihm im Reflex eine Hand auf die Schulter.
Er wimmerte. Dann sank er in sich zusammen.
»Shit!« Ich drehte ihn auf den Rücken und überprüfte seine Atmung. Puls hatte er zum Glück auch. Ächzend hievte ich seine Beine auf den Wannenrand. Dabei blutete meine Nase wieder los, tropfte auf seine Jeans, den Boden, überall hin. Dieses Mal war mir das vollkommen egal. Fahrig machte ich einen weiteren Waschlappen nass und tupfte ihm damit den Schweiß von der Stirn. Sollte ich ihn besser in die stabile Seitenlage drehen? Einen Notarzt rufen?
Er stöhnte und griff nach meinem Handgelenk. »Ich hab gesagt, zehn Minuten!«, murmelte er mit schwerer Zunge.
»Es wird jetzt nicht geschlafen!«, motzte ich, wobei meine Stimme zitterte.
Er klappte die Lider auf. Wenn er einen nicht gerade hasserfüllt anstarrte, hatte er eigentlich sehr schöne Augen. Dunkelgrau – fast blau.
»Nase zuhalten! Zehn! Minuten! Du blutest mir aufs Shirt, und wie du siehst, bin ich ein bisschen … empfindlich mit Blut.«
»Ohhhh!« Ich wich hastig zurück, bis wir beide bemerkten, dass er noch immer mein Handgelenk festhielt. Er ließ mich los, als hätte er sich an mir verbrannt.
Schnell hielt ich mir wieder die Nasenlöcher zu. »Sorry, ich wusste nicht, dass du kein Blut sehen kannst …«
Er schien seine Offenheit schon zu bereuen, denn er sprang auf und ging sofort wieder in die Knie. Ich wollte ihm helfen, doch sein Blick hielt mich davon ab.
»Vergiss es!«, zischte er. »Und halt einfach die Klappe.«
Okay. Immerhin konnte er schon wieder unfreundlich sein. »Setz dich wenigstens hin, ich räume solange alles weg, damit du es nicht sehen musst.«
Widerwillig lehnte er sich mit dem Rücken an den Wannenrand und ließ den Kopf nach hinten sinken. Sein Adamsapfel hüpfte. »Es ist mehr der Geruch …«
Ich beeilte mich, das kleine Milchglasfenster zu öffnen und das Massaker zu beseitigen. Zwischendurch flog mein Blick ihm immer wieder zu. Wie er dort mit angewinkelten Knien saß, die Augen geschlossen, hatte er irgendetwas Verletzliches an sich, das ich ihm nach seinem ruppigen Auftreten gar nicht zugetraut hätte.
Er blinzelte, als ich unschlüssig mit den versauten Handtüchern im Arm vor ihm stehen blieb. »Lass sie einfach liegen.«
»Kommt nicht infrage! Ich wasche das raus«, verkündete ich.
Er schnaubte. »Wenn es unbedingt sein muss, stopf den Scheiß in die Waschmaschine.«
Suchend drehte ich mich in dem steril anmutenden Badezimmer um die eigene Achse. Spiegel, weiß, Spiegel, weiß, Spiegel … Unsere Blicke trafen sich. Etwas passierte in dem Moment:
Der Junge streckte mir den Brief entgegen.
Lucas.
Lucas gab mir den Brief. Seine Augen warm und voller Hoffnung. Aus irgendeinem Grund glitt mein Blick an ihm vorbei zu dem Jungen, der im Hintergrund stand. Er schien eine Kopie von Lucas zu sein – und dann doch gar nicht. Denn während Lucas die Sonne war, war der andere der Mond.
Etwas faszinierte mich an ihm und Lucas bemerkte offensichtlich, dass ich abgelenkt war, und drehte sich um.
»Das ist mein Bruder Cole.«
»Cole …«, wiederholte ich etwas, an das ich mich gerade erst erinnert hatte.
»Küche«, sagte Cole – und ich stürzte hinaus, dankbar, etwas Abstand zwischen uns bringen zu können.
Nach drei Anläufen fand ich schließlich den richtigen Raum. Ich stopfte die Handtücher in die Maschine, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass die Flecken nie wieder rausgehen würden. Darum kippte ich eine Extraportion Oxy-Powder hinterher und drehte den Temperaturregler auf 90 Grad.
Ich entdeckte eine angebrochene Colaflasche auf der Anrichte. Da ich nicht weiterschnüffeln wollte, verzichtete ich auf das Glas und klemmte mir die Flasche unter den Arm. Ein bisschen Koffein tat Cole sicherlich gut.
Cole …
Das ist mein Bruder Cole …
Mein Blick wurde magisch von den gerahmten Familienfotos angezogen.
Kinder.
Zwillinge!
Lucas und Cole.
Es war, wie in eine Zeitmaschine zu blicken. Die beiden Jungen, die auf jedem Foto vertreten waren, wirkten, als hätte sie jemand gespiegelt. Nur ab einem gewissen Alter bemerkte ich eine Veränderung, wodurch ich sie auseinanderhalten konnte. Während Lucas’ Gesicht rund und weich war, bestanden Coles Züge auf einmal aus Kanten. Er lachte nicht mehr. Seine Augen waren stets leicht zusammengekniffen, wogegen sein Bruder scheinbar Zahnpastawerbung machte. Je älter die beiden wurden, desto deutlicher unterschieden sie sich voneinander. Cole schien immer härter zu werden. Gleichzeitig strahlte Lucas eine Unbeschwertheit aus, die ich sogar durch das Telefon spüren konnte.
Telefon!
Es war einfach ein tragischer Unfall!
Die Flasche rutschte mir aus der Hand, genau in dem Moment, in dem Cole die Badezimmertür aufstieß.
Er sah dem herumkullernden Gegenstand hinterher, als hätte er ihm etwas getan. Vermutlich galt seine Verachtung mir. Immerhin war er so nett, nur die Colaflasche mit Blicken zu töten.
Schnell bückte ich mich danach – und rumste mit der Stirn gegen seine.
»Verfickte Scheiße!«, fluchte er.
Ich biss mir auf die Lippen, um ihm nicht zuzustimmen. So redete ich normalerweise nicht, allerdings passte es echt verdammt gut zu der Situation.
Er rieb sich den Kopf, sah jedoch nicht auf. Ich dachte, dass Lucas sich zuerst nach mir erkundigt hätte. Aber Cole war nicht Lucas.
Sein Blick zuckte blitzschnell zu mir und wieder weg. Wahrscheinlich hatte ich es mir nur eingebildet. Doch dann stach er mit dem Finger in die Luft knapp unter meinem Auge (ohne hinzusehen – ein Glück, dass er meinen Augapfel verschonte) und murmelte:
»Du hast da noch was.«
»Oh … Danke.« Hastig rieb ich mir über das Gesicht. Er konnte kein Blut sehen. Logisch, dass er mich nicht ansehen wollte, wenn ich aussah wie Gräfin Dracula nach einem Festgelage.
»Da nicht.« Er trat einen Schritt auf mich zu. »Hier.«
Sein Finger rieb an meiner Oberlippe herum.
In Filmen war das der Moment, in dem sich die Blicke der beiden verhakten, bevor sie in einem romantischen Kuss versanken.
Uhhh … Er kratzte mir einen Blutfleck mit dem Fingernagel von der Schnute und schien eher auf den Fußboden kotzen als mich leidenschaftlich küssen zu wollen …
Klar.
Warum lag sein Daumen dann weiterhin sanft in der Kuhle über meinem Mund?
Mein Herz hatte offensichtlich eine verspätete Schockreaktion, denn es begann zu rasen, als hätte es etwas nachzuholen.
Cole sah mich an.
Die Härte war aus seinem Blick gewichen, und was ich nun sah, war purer Schmerz.
Ich! Ich verursachte diesen Schmerz. Ich verstand den genauen Zusammenhang zwischen mir und Coles Gefühlen noch nicht, aber er ließ mir keinen Raum für Zweifel. Das einzig Richtige, was ich noch tun konnte, wäre abzuhauen. Doch ich ging nicht. Es gelang mir nicht einmal, wegzusehen.
Er öffnete leicht die Lippen. Mit einem Ausatmen schloss er sie wieder und mir entfuhr ein Seufzen. Keine Ahnung, was ich gedacht hatte. Dass er etwas sagen würde? Dass er mich küssen würde? Schnell schüttelte ich den Kopf, woraufhin er seine Hand zurückzog und mehr Abstand zwischen uns brachte, als nötig war.
»Ich leih dir ein T-Shirt. So kannst du nicht raus. Die Leute denken, du bist ein Vampir.«
»Erzähl mir was Neues …«, brummte ich. Er war bereits auf dem Weg in ein Zimmer.
Ich sollte ihn zurückrufen. Offensichtlich konnte er es kaum erwarten, mich loszuwerden, und ich hatte schon genug Chaos angerichtet. Kleidung von ihm zu tragen, fühlte sich viel zu intim an, ich würde das Shirt sowieso nicht annehmen.
Aber ich wollte nicht gehen. Außerdem war ich, wegen der positiven Erfahrung mit dem Kleid, heute tatsächlich in einem hellen T-Shirt in die Schule gegangen. Verdammter Lucas, der mich dazu brachte, mit meinen Gewohnheiten zu brechen.
Die Colaflasche war ein wenig den Flur hinuntergerollt. Ich bückte mich, um sie aufzuheben, da schwang die Tür, an der sie gelandet war, ein Stück weit auf.
Aus irgendeinem Grund wusste ich sofort, in wessen Zimmer ich durch die schmale Türöffnung spähte.
Die Decke auf Lucas’ Bett war etwas zerknittert, als hätte er eben noch darin gelegen. Ich konnte ihn mir geradezu vorstellen, wie er auf der türkisfarbenen Tagesdecke lümmelte und mit mir telefonierte. Ich sah ihn vor mir die grauen Kissen in seinem Rücken zurechtknuffen und über etwas lächeln, das ich gesagt hatte.
Wie ferngesteuert betrat ich den Raum und sog jede Information in mich auf. Es roch hier nicht nach Cole. Komischerweise hing überhaupt kein Geruch in der Luft. So als wäre dies kein Jungenzimmer, sondern mehr eine … Abstellkammer.
Das mulmige Gefühl in meinem Magen nahm zu und es kam nicht nur daher, dass ich unerlaubt in einem fremden Zimmer herumschnüffelte. Doch anstatt umzukehren, bevor Cole mich erwischte, schlich ich noch weiter in den Raum.
Wohin schaute Lucas, wenn er aus dem Fenster sah? Ich zog den Vorhang beiseite und stieß dabei mit dem Fuß gegen ein kleines Tischchen, von dem prompt einige Gegenstände kullerten.
Schnell kniete ich mich hin, um sie aufzuheben. Wie peinlich, spätestens jetzt hatte ich mich verraten.
Meine Hand schloss sich um einen Briefumschlag.
Ein komischer schwarzer Rand zog sich quer um die Anschrift:
Das Adressfeld, in dem Coles Name stand – in der Handschrift meines Vaters.
Der Brief war ungeöffnet und es befand sich noch ein ganzer Stapel davon unter dem Tischchen. Allesamt adressiert an Cole.
Ich erkannte das Papier sofort, es war das, was Pops für seine erlogenen »Abrechnungen« benutzt hatte.
Was stand darin? Warum schrieb mein Vater Cole Briefe, die dieser nicht las, aber hier aufhob?
Mit zitternden Fingern legte ich den Umschlag zurück, und obwohl sich mir die Nackenhaare aufstellten, kroch mein Blick zu den restlichen Gegenständen auf dem Tischchen.
Es war eine wilde Mischung aus Kaugummiautomatenringen, zerknickten Fotos von den lachenden Zwillingen, Comicstrips, einem Basketballschlüsselanhänger, hastigen Notizen auf Bonbonpapierchen in krakeliger Kinderschrift. Schätze, deren Bedeutung nur dem Besitzer bekannt waren.
Ein Zeitungsausschnitt.
SIEBZEHNJÄHRIGER RETTET MÄDCHEN VOR HERANRASENDEM AUTO UND BEZAHLT MIT DEM LEBEN.
Es gibt Momente, da fließt die Zeit wie Sirup aus einer Flasche mit enger Öffnung.
Tropf.
Tropf.
Tropf.
Mein Puls schleppte sich durch die Adern.
Ich versuchte die Worte zu lesen, doch nichts davon erreichte mein Gehirn. Es fühlte sich an, als wäre alles in japanischen Hiragana geschrieben.
Trotzdem starrte ich so lange auf den Artikel, bis sich mir jeder Satz einprägte und ich alles auswendig konnte, selbst wenn ich nichts davon verstand.
Siebzehnjähriger rettet Mädchen …
Es standen keine Namen dabei. Nur ein Datum. Der Tag meines Unfalls. Die Kreuzung, an der es passiert war. Der Bruder als Augenzeuge. Fahrerflucht. Der Junge starb noch an der Unfallstelle.
Der Junge starb noch an der Unfallstelle.
Der Junge starb noch an der Unfall–
Der Schmerz brach mit einem Schrei aus meiner Brust.