*Cole

Selbst durch die Jacke hindurch, glühte June in meinem Arm wie eine Sonne. Ich presste sie an mich, weil ich sie nicht fallen lassen wollte. Zwar wog sie fast nichts, dennoch hatte ich das Gefühl, sie würde mir entgleiten. Ihr Kopf rollte in meine Halsbeuge und sie rieb ihre kleine Nase an meinem Schlüsselbein und atmete tief ein.

»Du riechst so gut …«, murmelte sie mit den Lippen an meiner Haut und jetzt hätte ich sie wirklich beinahe fallen lassen, weil irgendwas in meinem Magen plötzlich Achterbahn fuhr. Shit.

Ich raunzte sie an und sie reagierte mit einer trotzig vorgeschobenen Unterlippe, die in mir den Wunsch entfachte, hineinzubeißen.

Fuck!

FUCK!

LU-CAS-LU-CAS, STAMPFTEN MEINE FERSEN AUF DEN REGENNASSEN ASPHALT, WÄHREND ICH SIE DURCH DIE STRASSEN TRUG. ICH WÜRDE AN NICHTS ANDERES DENKEN ALS AN MEINEN BRUDER. FÜR DEN MACHTE ICH DAS HIER SCHLIESSLICH. ER HÄTTE NICHT GEWOLLT, DASS ICH SIE AN DER BUSHALTESTELLE LIEGEN LIESS. GENAU. ICH TAT DAS NUR FÜR IHN! NUR! FÜR! IHN!

MIT JUNE IM ARM WAR DER WEG BIS ZU MIR NACH HAUSE ZU WEIT, ALSO WINKTE ICH EIN TAXI HER. DER FAHRER WARF MIR STÄNDIG MISSTRAUISCHE BLICKE IM RÜCKSPIEGEL ZU. NORMALERWEISE HÄTTE MICH DAS NICHT GEJUCKT, ABER HEUTE HIELT ICH ES KAUM AUS. ICH RÜTTELTE JUNE WACH. »SAG IHM, DASS DU KRANK BIST.«

»LASS MICH NUR EIN BISSCHEN SCHLAFEN, ICH HAB OFT FIEBER, DAS GEHT VORBEI«, NUSCHELTE SIE, WAS ZUMINDEST DEN FAHRER BERUHIGTE. MICH EHER SO SEMI, ABER IMMERHIN WAR SIE FÜR ZEHN SEKUNDEN AUFGEWACHT.

ALS WIR ENDLICH ZU Hause ankamen, war ich schweißgebadet. Nicht, weil ich sie ein Stück getragen hatte, sondern weil ich mich furchtbar zusammengerissen hatte. Meine Hände zitterten, sobald ich sie wie einen Mehlsack auf der Matratze abgeladen hatte.

SCHNELL BRACHTE ICH ETWAS SICHERHEITSABSTAND ZWISCHEN UNS. ES FÜHLTE SICH SEHR INTIM AN, SIE IN MEIN BETT ZU LEGEN, DOCH WO HÄTTE ICH SIE SONST HINBRINGEN SOLLEN? DIE COUCH FIEL FLACH, FALLS EOMMA HEIMKAM, UND LUCAS’ ZIMMER WAR TABU. ALLEIN DIE VORSTELLUNG, SIE IN SEINEM BETT SCHLAFEN ZU LASSEN, MACHTE MICH WAHNSINNIG, NUR LEIDER AUS DEN VOLLKOMMEN FALSCHEN GRÜNDEN.

»LUCAS …«, SAGTE JUNE SCHLAFTRUNKEN UND RICHTETE SICH EIN WENIG AUF. IHRE

»JA, ICH WEISS«, ANTWORTETE ICH LEISE. »UND ER MAG DICH AUCH.«

SELBST ZU ATMEN SCHMERZTE.

 

»June, zieh deinen Pulli aus, der ist jetzt ganz nass und voller Medizin.«

Sie rollte herum und blinzelte mich unter schweren Augenlidern an. »Mir ist sowieso heiß!« Sie schlüpfte aus einem Ärmel und schlief wieder ein.

Kopfschüttelnd half ich ihr aus dem Pulli und ließ ihn neben das Bett fallen. Ein T-Shirt war nicht warm genug, oder? Musste man bei Fieber nicht schwitzen? Unbeholfen zog ich die Decke hoch und wickelte sie bis zu den Ohren darin ein. Sie maulte und strampelte sich frei. Na, dann halt nicht!

Ich tat, was mir einfiel, allerdings fehlte mir ein richtiger Plan. Ich musste ihren Vater informieren. Klar. Nur was machte ich, wenn er hierherkam? Eomma würde die falschen Schlüsse ziehen und ich war auch noch nicht bereit, Peter zu verzeihen. June nicht mehr als den Erzfeind anzusehen, fand ich schon großzügig genug von mir.

Konnte ich sie selbst heimbringen? Unmöglich. Zwar hatte ich einen Führerschein, aber kein Auto. Noch einmal ein Taxi zu nehmen, würde für die Strecke ziemlich teuer werden. Und in ihrem Zustand fiel Busfahren auf jeden Fall flach.

Vielleicht sollte ich sie in ein Krankenhaus bringen? Wenn sie nicht in fünf Minuten aufwachte, würde ich doch ein Taxi rufen. Okay, in sechs. Zehn waren auch in Ordnung. Sie atmete noch, oder?

Die Entscheidung, was zu tun war, wurde mir abgenommen, als ihr Handy klingelte und die Anzeige Peter Pops aufleuchtete.

»June, ist alles in Ordnung?«

»Hier ist Cole. Archer.«

Es entstand eine kurze Pause. Er schien die Luft anzuhalten, denn als er sie ausstieß, sagte er: »Oh, Cole! Gut!«

»June ist krank. Ich hab sie von der Bushaltestelle aufgelesen …« Vor lauter Unsicherheit hörte ich mich vorwurfsvoll an.

An Peters Ende wurde es unruhig. Ich vermutete, er warf sich eine Jacke über und schnappte sich die Autoschlüssel. »Ich bin gleich –«

»Das hört sich vielleicht komisch an, Mister Jones …«, unterbrach ich ihn. Ich schluckte. »Könnten Sie … vielleicht nicht kommen?«

Wieder schwieg er und ich kam mir saudumm vor, als ich all meinen Mut zusammennahm und zu einer Erklärung ansetzte. Insgeheim war ich selbst gespannt, was ich ihm sagen würde.

»Ich denke, es ist besser, sie bleibt hier und schläft sich einfach aus«, begann ich lahm.

Er räusperte sich. »Bist du sicher? Es stimmt, dass sie das häufiger hat und meistens nach einer Mütze voll Schlaf wieder gesund ist. Aber sie zu versorgen ist bestimmt nicht einfach für dich und –«

»Ich will mich um sie kümmern, okay? Bitte.«

Er seufzte leise. »Meinetwegen, Cole. Meine Nummer hast du ja. Wann immer ich sie abholen soll, auch wenn es mitten in der Nacht ist, ruf einfach an. Und mach dir keine allzu großen Sorgen, June hat ein sehr reaktives Immunsystem. Sie fiebert immer ziemlich schnell. Morgen ist sie bestimmt wieder auf dem Damm.«

»Wenn du magst, würde ich mich freuen, wenn du mal zum Kaffeetrinken bei uns vorbeikommst«, sagte er.

»Ja … äh …«

»Und Cole?«

Nenn mich Peter, hörte ich ihn schon sagen. Und dann spielten wir heile Familie – die, die noch übrig waren. Wut stieg in mir auf. Doch ehe ich etwas loswerden konnte, sagte er nur: »Danke!« Und legte auf.

Ich ließ den Kopf in den Nacken fallen und lockerte die Muskeln. Das war anstrengender gewesen als das Basketballspiel mit Shun (bei dem er mich übrigens vollkommen zerstört hatte). Doch die erste Hürde hatte ich genommen.

Eilig ging ich zurück an meine Krankenpfleger-Aufgaben. Jetzt, wo ich wusste, dass June das öfter hatte, war ich ein wenig beruhigter. Nun galt es nur noch, Eomma von meinem Zimmer fernzuhalten, sobald sie nach Hause kam.

 

June schlief und schlief. Sie schwitzte und wälzte sich in den Laken herum, stieß ein Wasserglas vom Nachttisch und murmelte zusammenhangloses Zeug, meistens irgendwas von Lucas. Manchmal auch von mir. Ich versuchte, nicht zu genau hinzuhören, weil es mich verletzte, wenn sie von meinem Bruder sprach. Außerdem fühlte es sich an, als würde ich in ihrer Unterhosenschublade wühlen, wenn ich sie in ihrem wehrlosen Zustand ausspionierte. Ich hatte also Kopfhörer auf und hörte leise Musik. Die meiste Zeit verbrachte ich im Sessel neben dem Bett und versuchte, einen Comic zu lesen. Allzu lang konnte ich aber nicht still sitzen. Es half mir gegen die Nervosität und die Sorgen, die ich mir um sie machte, wenn ich irgendetwas tun konnte. Stirn kühlen, ihr ein neues Shirt bringen, Wadenwickel (sie

Eomma kam, als ich gerade kühles Wasser für die Waschlappen holte. Stirnrunzelnd betrachtete sie erst die Schüssel in meiner Hand und dann mein Gesicht.

»Alles in Ordnung, Cole?«

»Ich hab mir den Magen verdorben …«, log ich. »Komm mir besser nicht zu nah, sonst kotzen wir nachher alle.«

Sie hob die fein gezupften Augenbrauen. »Du bist gar nicht blass. Im Gegenteil, deine Wangen sehen ganz rot aus und deine Augen … sag mal, hast du Fieber?«

Ich zuckte vor ihrer ausgestreckten Hand zurück.

»Kann schon sein. Eomma … komm nicht in mein Zimmer! Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden.«

Sie musterte mich ernst. Dann sagte sie: »Ruf mich, falls ihr mich braucht.«

»Okay. Danke.«

Erst in meinem Zimmer fiel mir auf, was sie gesagt hatte. … falls ihr mich braucht.

Hatte sie aus Gewohnheit von Lucas und mir gesprochen? Das war ihr seit seinem Tod nicht passiert. Genau wie ich konnte auch Eomma keine Sekunde lang vergessen, dass Lucas gestorben war, darum glaubte ich nicht daran.

Ich öffnete meine Zimmertür. Eomma stand im Flur und presste die Lippen aufeinander, um ein Grinsen zu verbergen.

»Woher weißt du es?«, fragte ich. Zwecklos, es abzustreiten. Es war nicht verboten, ein Mädchen

Sie drehte sich um und wedelte in Richtung Eingang. »Da stehen Mädchenschuhe und ein Schulrucksack, den ich nicht kenne.«

Ich starrte auf die Springerstiefel, die ich June schon zum zweiten Mal eigenhändig von den Füßen gestreift hatte. »Mädchen…schuhe?«, krächzte ich.

Eomma drehte sich zu mir um. »Oder es ist ein Junge mit sehr kleinen Füßen. Größe 36? Und er hat den Rucksack von seiner Schwester dabei, da steht Juniper Jones auf einem Aufnäher «

Ich stöhnte auf.

Natürlich würde Eomma nicht den Namen des Mädchens vergessen, das in den Unfall ihres Sohns verwickelt war. Warum sie lächelte, wusste ich allerdings nicht.

»June ist krank. Ich konnte sie ja schlecht an der Bushaltestelle verrecken lassen …«

Eomma zuckte bei meinen harten Worten leicht zusammen. Sofort tat es mir leid, doch sie schüttelte einmal knapp den Kopf und wirkte wieder gefasst.

»Wie gesagt: Ruft mich, wenn ihr mich braucht. Allerdings denke ich, du schaffst das auch allein, und ich könnte mir vorstellen, dass es Juniper lieber wäre, wenn du dich um sie kümmerst.«

Da war ich mir nicht sicher. Ich starrte meiner Mutter ein paar Sekunden misstrauisch hinterher.

Wie war es möglich, dass ich mich in den Reaktionen aller getäuscht hatte? June war nicht die egoistische Psychobitch, für die ich sie gehalten hatte. Ihr Vater benahm sich überhaupt nicht wie ein Hobbypsychologe. Und Eomma hatte kein Problem damit, dass ihr überlebender

Konnte es sein, dass ich mich verrannt hatte?

June rief nach mir und ich stürzte zurück ins Zimmer.

*June

Ich trieb in einem Fluss aus Lava. Es war unendlich heiß, und obwohl ich strampelte, kam ich nicht an das rettende Ufer. Auf der einen Seite stand Lucas, die Arme ausgebreitet, warm und sicher. Er lächelte.

Ich drehte den Kopf und entdeckte Cole, der auf der anderen Seite stand, die Arme vor der Brust verschränkt, den Mund verkniffen. Sein ausdrucksloser Blick war mehr als abweisend. Der Strom sog mich zu Lucas – und da sollte ich ja auch hin. Trotzdem paddelte ich wie verrückt zu Cole hinüber. Lucas rief: »June, lass mich nicht im Stich!« Und Cole sagte:

»June, ich schwöre, wenn du nicht sofort deinen Schnabel aufmachst und dieses Zeug trinkst, halte ich dir so lange die Nase zu, bis du erstickst!«

»Ich will keine Lava trinken«, jammerte ich.

Cole schnaubte. »Das ist Wasser, du Nuss. Kühles Wasser. Na komm, sei brav und trink. Nur einen Schluck.«

Warum klang er jetzt so nett, wenn er gerade noch böse geschaut hatte?

Ich blinzelte und sah, wie er sich über mich neigte, das Glas an meinen Lippen. Die Augen dunkel vor Sorge, wirkte er gar nicht abweisend.

Ich hob den Kopf etwas an und trank ein paar Schlucke. Es tat unvorstellbar gut!

Komisch, ich hätte geschworen, dass ich den Lavastrom geträumt hatte – und nicht das hier. Aber ich lag in Coles Bett und er tupfte mir mit einem feuchten Tuch die Stirn ab. Ich kicherte. Eindeutig war das hier der verrücktere Traum.

Cole hielt inne und sah mich fragend an.

»Ich träume totalen Unsinn«, erklärte ich. Dann fielen mir die Augen zu und ich schlief erneut ein.

*Cole

Junes Fieber sank in den frühen Morgenstunden. Vom vielen Herumwälzen war ihre Frisur total zerzaust. Ihre Lippen waren spröde und die Wangen schimmerten immer noch rot. Ich konnte sie gar nicht so genau ansehen, weil dann mein Herz komische Sachen in der Brust veranstaltete. So was wie Limbotanzen oder so einen Quatsch.

Ich schüttelte über mich selbst den Kopf.

Da sie nun ruhig schlief, schlich ich mich aus dem Zimmer und brühte mir einen Kaffee. Obwohl ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, brauchte ich eigentlich kein Koffein. Etwas Warmes im Bauch half jedoch bestimmt gegen das Kribbeln.

Dieses verflixte Gefühl! Es nagte an mir, als würde ich meinen Bruder post mortem hinterrücks erstechen. Warum funktionierten bei mir immer nur Extreme? Entweder hasste ich sie oder ich … fand sie okay … ziemlich okay. Mit Tendenz zu echt gut … mit Schmetterlingen …

Okay! OKAY! Durchatmen, Cole!

Ich fand sie ganz in Ordnung. Weiter nichts.

Ich kratzte mich am Kopf. »Eomm–«

»Cole Archer! Schluss mit dem Gesicht.«

»Welches Gesicht? Dieses?« Ich pikste in meine Wange. »Das ist leider angewachsen …«

»Du weißt genau, was ich meine!« Eomma sah mich streng an. »Es gibt keinen Grund, immer grimmig zu gucken.« Sie warf einen knappen Blick auf ihre feine goldene Armbanduhr. Ein Geschenk von Dad. »Denk daran, dass dein Vater am Wochenende heimkommt. Ich muss jetzt los. Wenn du was brauchst, ruf mich an, ich kann in der Mittagspause einkaufen.«

»Falls es ihr gut genug geht, bringe ich June heute nach Hause«, sagte ich und hörte mich jetzt schon sehnsüchtiger an, als auszuhalten war.

»Tu das, Schatz!« Eomma streichelte meinen Handrücken. »Nur nichts überstürzen. Sie kann auch noch bleiben. Ich habe mit Peter gesprochen, er weiß, dass wir uns gut um sie kümmern.«

»Peter?« Meine Kinnlade knallte beinahe auf die Küchenzeile.

»Junipers Vater?« Eomma schlüpfte in ihren Blazer und angelte nach dem Schlüsselbund, der ein wenig zu hoch für ihre 1,56 Meter am Haken baumelte.

»Eomma!«

»Bis später, Cole! Saranghae.«

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Ich sackte in mich zusammen. »Lieb dich auch, Eomma …«, murmelte ich in den leeren Raum.

»Saranghae …?«

Nun wirkte sie tatsächlich wie ein Geist. Die spröden weißen Lippen unterbrochen von dunkelroten, blutgefüllten Rissen. Die Schatten unter ihren Augen erinnerten an dicke Kayalbalken, die nur mühsam ihre überdimensionalen Kulleraugen stützten. Ich traute mich kaum, auszuatmen, aus Sorge, dass ich sie damit einfach wegblasen würde.

Prompt schwankte sie und klammerte sich am Türrahmen fest. »Heißt das: Ich liebe dich

Mein Gehirn brauchte eine Weile, ehe es die Puzzleteile der Information zusammensetzte. »Ja.« Endlich löste ich mich aus der Starre und schob sie auf einen Stuhl zu. »Meine Eomma geht nie aus dem Haus, ohne es zu sagen. Eomma, Eomeoni eigentlich … das da war meine Mutter.«

Sie nickte nachdenklich. »Klingt ein bisschen wie Oma. Omma …« Sie kicherte, was in einen Hustenanfall überging.

Unbeholfen tätschelte ich ihr den Rücken, während sie sich krümmte und ihre halbe Lunge auf der Anrichte verteilte.

Als sie endlich wieder keuchend zu Luft kam, schob ich ihr die Suppe und einen Löffel zu. »Koreanisches Wundermittel. Hilft gegen Kater, Erkältung und, wenn man Eomma glaubt, auch gegen Liebeskummer.«

June ließ den Löffel kurz sinken, dann schaufelte sie sich schniefend das heiße Gebräu in den Rachen.

Ich war unsensibel! Natürlich hatte sie Herzschmerz wegen Lucas. Sie hatte fürchterlich geweint, als sie von seinem Tod erfahren hatte. Damals war ich davon ausgegangen, dass sie mehr wegen ihrer Schuld am Unfall als über seinen

Ohne es zu bemerken, hatte ich begonnen, mit den Zähnen zu knirschen, was mir erst auffiel, als sie beim Essen innehielt und mich fragend ansah. Ihre Augen wirkten wie ein schwarzer Nachthimmel mit nur einem Stern.

Hilfe! War etwas von Lucas’ poetischer Ader auf mich übergesprungen oder was war mit mir los?

»Ich fahre nachher heim. Danke für alles, das war wirklich unglaublich nett von dir.«

»Ich begleite dich«, sagte ich schnell.

»Nicht nötig.« Sie sprang vom Stuhl und ging fast in die Knie. »Ich kann das allein …«

Keine Ahnung, ob sie damit meine reflexartig ausgestreckte Hand meinte, die sie vor einem Sturz bewahrte, oder die Heimfahrt.

*June (10 Minuten zuvor)

In Coles Bett aufzuwachen, gehörte garantiert zu den verwirrendsten Dingen, die ich je erlebt hatte. Obwohl in diesem Haus alles steril und kühl wirkte, lag ich hier erstaunlich gemütlich.

Jemand schien auf dem Sessel neben dem Bett übernachtet zu haben, jedenfalls deuteten eine helle Wolldecke, ein aufgeschlagener Comic und eine halb leere Tasse Kaffee darauf hin. Dass Cole Archer über mich gewacht haben sollte, konnte ich mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen.

Ich betete zu sämtlichen Göttern, dass das alles nur Fieberträume gewesen waren …

Als ich jedoch die Decke zurückschlug, trug ich ein übergroßes schwarzes Bandshirt, keine Hose und ein Knäuel aus feuchten Tüchern schlang sich um meine Knöchel. Ich befreite mich aus den Handtüchern und schnupperte verstohlen an dem T-Shirt. Wahrscheinlich bildete ich mir nur ein, dass es dezent nach Cole roch … Ach, du lieber Himmel!

Coles Stimme drang durch die Tür, er unterhielt sich mit einer Frau. Im Reflex überlegte ich, mich im Schrank zu verstecken, da hörte ich die Frau meinen Namen sagen.

Neugierig kroch ich aus den Federn und tastete mich in Zeitlupe in die Küche. Bei jedem Schritt wackelten meine Knie und immer wieder wurde mir schwarz vor Augen. Der Marmorboden schwankte unter meinen nackten Füßen. Ich schaffte es gerade noch, die elegante Frau zur Haustür hinausschweben zu sehen. Cole nannte sie Eomma.

Plötzlich war ich unsicher. Wie sollte ich mich verhalten? Wäre ich fitter, wäre ich jetzt zurück ins Zimmer geflitzt, aber das machte mein Kreislauf nicht mit, darum blieb mir nur die Flucht nach vorne.

»Saranghae …?«, fragte ich. Cole fuhr herum und starrte mich an, als hätte er im Leben nicht erwartet, mich in diesem Haus zu sehen. Also echt jetzt, ich war ja wohl kaum von selbst hier hereinspaziert und hatte – von ihm unbemerkt – in seinem Bett übernachtet. Erst mit etwas

Cole gab mir eine koreanische Suppe, die angeblich gegen alles und gebrochene Herzen helfen sollte. Einen kurzen Moment fragte ich mich, ob er mir damit etwas mitteilen wollte.

Verlieb dich nicht in mich, sonst wirst du nur unglücklich!, schien sein Blick zu sagen.

Ich inhalierte die Suppe, obwohl sie kochend heiß und extrem scharf war. Meine Nase lief von dem Chili ununterbrochen, selbst die Augen tränten mir. Anschließend brannte mein Hals von der Zaubersuppe und nicht mehr von der Erkältung. Und tatsächlich fühlte ich mich etwas kräftiger, weshalb ich ein wenig zu schwungvoll vom Stuhl hüpfte. Cole stützte mich, als ich beinahe auf den Boden knallte. Peinlich, peinlich. Er hatte mich bereits in den unmöglichsten Situationen gesehen. Es war an der Zeit, dass ich etwas Abstand zwischen uns brachte.

Außerdem wartete Lucas bestimmt schon längst! Das zweite Mal musste er sich mit den Albträumen quälen, obwohl ich das Dare erfüllt hatte!

Ich stöhnte innerlich und machte mich von Cole los. »Ich schaff das allein«, verkündete ich, dabei war ich mir da nicht wirklich sicher. Cole schien ebenfalls zu zweifeln, was mich noch mehr drängte, ihm das Gegenteil zu

Er beugte den Kopf nach unten und ich fragte mich, ob seine schwarzen Haare sich so seidig anfühlten, wie sie aussahen. Hastig rückte ich von ihm ab, sobald er fertig war. Ich benahm mich maximal unhöflich – das merkte ich ja selbst. Darum presste ich schnell ein halbherziges Dankeschön heraus. Sein Stirnrunzeln sprach Bände. Na toll. Ich fühlte mich wie im freien Fall und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Konnte er das nicht verstehen?

Cole ließ mich weder die Schuhe binden, noch meinen Rucksack zur Bushaltestelle tragen. Und schließlich saß er neben mir auf dem abgewetzten Bussitz und behauptete, er hätte sowieso in die Richtung gemusst. An einem Schultag! Aufs Land! So ein Schwachsinn!

Aber am schlimmsten war, dass ich auf der Hälfte der Strecke einschlief und mit dem Kopf an seiner Schulter aufwachte. Mein Mund war furztrocken, garantiert hatte ich geschnarcht. Cole wirkte gequält.

Einfach! Wunderbar!

*Cole

Wenn Juniper Jones schlief, war sie fast schon unerträglich süß. Wie eine Katze rollte sie sich mit angezogenen Knien zusammen. Ihre Haare waren von den billigen Sitzbezügen elektrostatisch aufgeladen und flimmerten um ihren Kopf

Ihr Kopf lehnte an meiner Schulter.

Ich traute mich nicht, mich zu bewegen oder tief zu atmen, um sie nicht zu wecken. Und obwohl ich steif wie ein Brett dasaß, erfüllte mich in diesem Moment zum ersten Mal seit Langem eine tiefe innere Ruhe. Ich wünschte mir, der Bus würde nie ankommen, damit dieser Augenblick ewig andauern würde.

Irgendwann fuhr sie plötzlich hoch und sah mich an, als sei ich der Teufel persönlich.

Ihr Entsetzen war eine Ohrfeige.

Ich rückte ein paar Zentimeter weg.

 

Auf der Türschwelle wirkte sie auf einmal wieder dermaßen mitgenommen, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie dort stehen zu lassen. Nun war ich so weit gekommen und hatte die Schule ohnehin schon geschwänzt, da konnte ich sie wenigstens noch reinbringen. Sie hatte zwar deutlich gezeigt, dass sie keinen Bock auf meine Begleitung hatte, was sich ehrlich gesagt ziemlich scheiße anfühlte nach allem, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden für sie getan hatte. Doch sie sagte auch nichts, als ich ihr den Schlüssel aus der zitternden Hand nahm und für sie aufschloss, sie hineinschob und hinter ihr eintrat.

Es war gleichgültig, ob sie mich mochte oder nicht. Jetzt zählte nur, dass sie gut versorgt war.

Darum tappte ich ungefragt in die Küche und setzte Wasser für Tee auf. Sie sank derweil tief genug in einen Sessel, um beinahe mit dem Polster zu verschmelzen.

Nachdem ich irgendwelche Kräuter (hoffentlich war das

Bestimmt drückte ich ihr die Tasse in die Hand.

»Majoran?«, fragte sie stirnrunzelnd.

»Äh …«

»Ist das auch ein koreanischer Heiltrank?« Ihre Augen leuchteten auf.

»Ge…nau.«

Sie grinste und trank, verzog das Gesicht, lachte und nahm noch einen Schluck. »Danke, Cole. Medizin muss einfach eklig schmecken, sonst wirkt sie nicht.«

Immer wieder fielen ihr die Augen zu und ich fühlte mich ein wenig überflüssig. So viel zum Thema, June wäre heute wieder auf dem Damm. Um wenigstens noch irgendetwas zu tun, besorgte ich ihr eine Wolldecke, breitete sie unbeholfen über ihr aus und ging dann zur Tür.

Als ich die Klinke herunterdrückte, sagte sie: »Musst du schon gehen?«

»Nein …«

»Ich weiß, es ist bestimmt viel verlangt … aber … falls du nicht dringend wegmusst …«

*June

»… könntest du vielleicht noch ein bisschen hierbleiben?«

Das hatte ich gesagt. Allen Ernstes! Laut! Ich presste die Handballen fest auf meine Augen, sodass ich bunte Punkte sah. Peinlicher ging es echt nicht.

»Okay«, sagte Cole und wahrscheinlich lag es am Fieber,

Meine Hände plumpsten kraftlos in den Schoß und ich starrte Cole an. »Echt jetzt?«

Er schloss die Haustür wieder und warf mir einen Seitenblick zu. »Klar.«

Obwohl ich todmüde war, konnte ich nun nicht mehr einschlafen. Immer wieder schaute ich zu ihm hinüber, wie er rastlos durch die Küche wanderte, mir literweise Tee kochte (ich zeigte ihm, wo er frische Pfefferminze fand) und schließlich mit einem Buch auf dem Sofa saß. Er starrte nun schon ewig auf dieselbe Seite. Ich glaubte nicht, dass er las.

»Hm?«, fragte er, ohne aufzusehen.

»Ich hab nichts gesagt.«

»Du siehst mich an. Brauchst du was?«

Meine Wangen brannten. »Nein, danke.«

Er nickte und las weiter. »Wenn ich krank war, hat Lucas mir immer vorgelesen. Märchen. Comics. Und später Gedichte. Ich glaube, ich habe noch nie einen ganzen Gedichtband gelesen, geschweige denn gehört, außer als ich Windpocken hatte. Lucas hatte sie auch. Trotzdem saß er an meinem Bett und hat mir von seinem Lieblingsdichter vorgelesen.«

»Zacharias Jones …«, murmelte ich schlaftrunken. Als er schwieg, schreckte ich auf. Mist!

»Genau …« Er sah mich misstrauisch an.

»Der Liebesbrief …«, setzte ich an und brach dann ab. Das ging Cole nichts an.

Cole nickte hastig. »Zacharias Jones, so hieß der. Gleicher Nachname wie du.«

Ich lächelte anstelle einer Antwort.

»Seitdem verbinde ich Kranksein mit Gedichten und vorgelesen bekommen.« Er scharrte mit den Füßen über die

»Ja!«, platzte ich heraus. »Sehr gerne.«

Er lachte kurz auf. Früher hätte ich es als spöttisch bezeichnet. Jetzt erkannte ich eindeutig die Erleichterung dahinter.

Er blätterte zurück zur ersten Seite und begann zu lesen: »Nennt mich Ismael …«

Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf mein Gesicht und mit dem Klang seiner Worte dämmerte ich weg.

*Cole

Ich war heiser vom vielen Lesen. Obwohl sie diesmal fest zu schlafen schien, hatte ich nicht aufgehört vorzulesen. Der Klang meiner eigenen Stimme hatte etwas seltsam Beruhigendes – nicht nur offensichtlich für June, sondern auch für mich. Ich las und las, bis die Haustür aufging und Peter hereinkam. Er schüttelte sich Regen und Blätter aus den windzerzausten Haaren, hängte seinen Mantel an den Haken und bemerkte erst, als er sich die Schuhe abstreifte, meine Anwesenheit.

Ich war angespannt wie ein Bogen. Bestimmt folgte jetzt das Gespräch, auf das ich die ganze Zeit wartete und welches ich nicht führen wollte.

Peters Augen leuchteten auf. »Cole! Wie schön, dich wiederzusehen. Danke, dass du dich so gut um meine Tochter gekümmert hast. Alles in Ordnung, June?«

»Ja, ich bin okay, Pops. Keine Sorge.«

Er ging zum Sessel und streifte ihr ein paar Strähnen aus der Stirn. Diese Geste war so vertraut, dass sie mir aus unerklärlichen Gründen einen Stich verpasste.

»Eigentlich …«

Er sah mich an.

Manche Erwachsenen schauten einen ja auf eine Art an, dass man das Gefühl hatte, gar nicht gesehen zu werden. Andere, als ob sie einem mitteilten, was sie von dir erwarteten. Peter Jones sah mich an, wie ein Kind ein anderes Kind ansieht: vollkommen offen.

»Ich würde gerne bleiben. Kann ich beim Kochen helfen?«

»Oh!« Peter grinste. »Herzlich gern. Ich bin ein ziemlich mittelmäßiger Koch. Hoffentlich bist du besser?«

»Äh …« Ich lachte. »Nein. Ich kann gerade mal Nudeln kochen.«

»Ah, Beethoven …« Peter rieb seine Hände. »Nudeln mit Butter und Käse. Gute Wahl!«

Aus Junes Sessel drang ein heiseres Kichern zu uns herüber. »Pops, erklär ihm das. Cole ist zum ersten Mal hier.«

»Zum zweiten Mal!«, verkündete Peter, als würde ich deshalb zur Familie gehören. »Hol mal die Spaghetti aus dem Schrank unten rechts. Nein, noch eins weiter. Ja.«

Und während wir kochten und June uns zuhörte – wie ein Burrito in Decken gewickelt –, erzählte Peter von Ouija-Sessions und Geschichte. Er war der geborene Erzähler, weil er seine eigene Begeisterung nicht verbergen konnte und sie absolut ansteckend war.

»Und was hat Beethoven jetzt mit Nudeln zu tun?«, fragte ich schließlich und bemerkte, dass ich mich irgendwann zwischen Salz ins Wasser streuen und Käse reiben entspannt hatte. In der Küche war nicht genug Platz, Peter aus

»Ah! Du bist aufmerksam, gefällt mir.« Er nickte. »Wir laden also immer einen Geist ein. Und ich habe die Theorie, dass die Geister eher kommen, wenn man ihnen ihr Lieblingsessen anbietet.«

»Er hat ein ganzes Kochbuch mit den Leibspeisen berühmter Persönlichkeiten angelegt«, raunte June mir verschwörerisch zu.

»Manchmal ist es schwierig«, nahm Peter den Faden wieder auf. »Ich meine, eine Pastete für Alfred Hitchcock oder trockene Nudeln für Einstein krieg ich hin, notfalls auch Leberknödelsuppe für Herrn Mozart. Nur wenn die dann mit gebratenen Biberschwänzen oder Schildkrötensuppe ankommen …«

June formulierte tonlos etwas, das für mich wie Henry V. und Churchill aussah. Obwohl mir mein historisches Unwissen hier deutlich vor Augen geführt wurde, fühlte ich mich in diesem Geplänkel pudelwohl.

Schließlich saßen wir um den kleinen runden Holztisch, June wurde kurzerhand mitsamt ihrem Sessel dorthin geschoben. Peter bat mich, einen Löffel Käsenudeln auf das ornamentverzierte Ouija-Brett zu geben. Die glitschigen Spaghetti platschten regelrecht auf das Brett und machten eine Schweinerei auf dem ganzen Tisch. Verstohlen sah ich mich nach einem Lappen um. June lachte nur und wischte mit den Fingern die Käsesoße weg.

»Je mehr Wutzerei, desto besser für Beethoven. Das hört man schon an seiner Musik, dass das keiner war, der es gern allzu sauber mochte.« Peter zwinkerte mir zu. »Magst

»Ja, halt nicht unbedingt Klassik. Ich spiele ein bisschen E-Gitarre und Schlagzeug.«

»Wundervoll! Das wird dem alten Zausel gefallen. Ich bin überzeugt, er wäre heute ein Rockmusiker. Irgendwas Extremes. Vielleicht Marilyn Manson?« Fragend sah er mich an.

Meistens fand ich es peinlich, wenn Erwachsene versuchten, cool mit Jugendlichen zu sprechen. Bei Peter wirkte das Interesse allerdings echt, sodass ich nach einem kurzen Blick zu June sagte: »Also, wenns ein krasser Rebell sein soll, dann kenne ich da genau den richtigen Typen dafür. Ein japanischer Metal-Sänger.«

June kicherte wieder und ich merkte erneut, wie wohl ich mich mit den beiden fühlte.

Obwohl June und Peter wie zusammengewachsen miteinander umgingen, kam ich mir keineswegs überflüssig oder ausgegrenzt vor. Einer von beiden weihte mich immer in die Insiderwitze und Eigenheiten des anderen ein. Ich bekam die Spielregeln des Geisterdinners erklärt und las gespannt mit, als wir die Scheibe über das Brett gleiten ließen. Natürlich glaubte ich nicht an Geister – und schon gar nicht an Peters abstruse Dinner-Theorie – dennoch kribbelte es mir in den Fingern, als sich der Marker nahezu von selbst bewegte und sich Worte bildeten.

»Machst du das?«, zischte ich June zu, die mit konzentrierter Miene auf das Brett starrte.

»Nein, das ist Beppone …«, raunte sie mir zu und aus irgendeinem Grund mussten wir beide lachen.

Beppone war nämlich – angelockt von »Pasta Parmiggiano« – aus seinem neapolitanischen Grab angeflogen gekommen, um uns mit Geschichten über die Entstehung der

Es war wirklich extrem witzig, vor allem, weil Peter beim Vorlesen einen italienischen Akzent annahm und den Geist hin und wieder in perfektem »italiano« zur Sau machte, wenn er sich (angeblich) ungefragt eine weitere Nudel aus dem Topf geklaut hatte.

Junes glitzernde Augen und der lachende Mund machten es mir unmöglich, wegzusehen. Sie war rotwangig und sprudelnd vor Energie, obwohl sie gerade noch ein Häufchen Elend in einem gestreiften Ohrensessel gewesen war.

Peter hatte als alleiniger Weintrinker irgendwann einen Schwips und stritt mit »Beppo« nur noch über den perfekten Reifegrad von Hartkäse.

Ich spülte ab, während June ihren Vater beschwichtigte und Beppo höflich, aber bestimmt verabschiedete.

Erst danach fragte ich mich, wie ich jetzt eigentlich heimkommen sollte. Es war schon dunkel, garantiert fuhr heute kein Bus mehr. Für ein Taxi war die Strecke zu weit und Peter konnte nicht mehr fahren. Entweder ich rief Eomma an, die allerdings total ungern nachts fuhr, oder …

»Cole kann auf der Couch übernachten, nicht wahr?«, röhrte Peter, bevor er die Treppe hochschwankte.

»Wenn ich darf und es für dich okay ist?«, sagte ich zu June.

Sie strahlte mich an.

Dann fiel ihr Lächeln in sich zusammen wie ein Kartenhaus und sie sah hinaus in den nächtlichen Garten.

»Ich muss nur noch kurz an die frische Luft. Kannst du …« Sie runzelte die Stirn und starrte den Tisch an, den ich bereits abgewischt hatte. »Könntest du den noch mal richtig sauber machen? Ich hab vorhin was verkleckert, ich glaub, das ist da noch drauf. Sorry! Und danke!« Damit

Huh …

Ich wischte den Tisch ein weiteres Mal ab, obwohl es dafür echt keinen Grund gab. Dann gab ich kurz Eomma Bescheid, immerhin sollte sie sich keine Sorgen machen, wenn ich nachts nicht nach Hause kam. Nachdem ich aufgelegt hatte, schleppte ich die Decke vom Sessel aufs Sofa, schnappte mir ein paar Kissen und machte es mir bequem.

Nicht zum ersten Mal fiel mir auf, dass in diesem Cottage ebenfalls ein Geist lebte, doch die Stimmung eine ganz andere war als bei mir zu Hause. Es lag nicht daran, dass Junes Mutter schon so lange tot war, das wurde mir jetzt klar. Die beiden hatten nur einen gesünderen Weg gewählt, ihre Trauer zu bewältigen.

Ich überlegte, dass ich gern von June und Peter lernen würde, wie man richtig mit Verlust umgeht.

Was machte June eigentlich so lange draußen, mitten in der Nacht mit einer handfesten Erkältung?

Unruhig stand ich wieder auf und wanderte herum. Es gab nichts mehr zu tun, aber ich konnte auch nicht nur rumsitzen. Ich schob den Vorhang beiseite und sah in den Garten hinaus, als plötzlich Peter neben mir auftauchte. Komischerweise war er jetzt überhaupt nicht mehr angeheitert. Er folgte stirnrunzelnd meinem Blick und seufzte tief.

»Sie braucht das. Ich habe mich an diese Telefonzelle in Japan erinnert, kurz nachdem Junes Mutter starb … und da dachte ich mir: Warum baue ich ihr nicht ihre eigene Telefonzelle, mit der sie ihre Mama anrufen kann, weißt du?« Er schwieg eine Weile und schaute mit mir in die Dunkelheit. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie sie so

»Sie weiß die Sache mit Lucas …« Der Knoten in meinem Hals ließ mich wie ein Frosch klingen. Es fiel mir sowieso schon schwer, über meinen Bruder zu sprechen. Junes Vater damit zu konfrontieren, dass er June ihre Beteiligung verheimlicht hatte, war noch viel schwieriger.

Er atmete langsam aus. »Das habe ich mir schon gedacht.«

»Warum haben Sie ihr nichts gesagt?«, fragte ich heftiger als geplant. Er zuckte nicht einmal zusammen. Wahrscheinlich erwartete er meinen Zorn und fand ihn sogar gerechtfertigt.

»Weil ich sie unterschätzt habe. Ich dachte, sie zerbricht daran, dass ihretwegen ein Junge gestorben ist. Anfangs habe ich versucht, sie vor der Wahrheit zu beschützen. Als sie dich kennengelernt hat, war ich erst wie gelähmt, weil ich nichts mehr tun konnte, um den Faustschlag der Realität aufzuhalten. Aber ihr habt mir bewiesen, dass ich falsch- lag. Ihr seid stärker, als ich es euch zugetraut habe.«

»Tut es Ihnen leid?«, hörte ich mich fragen. »Ich meine, möchten Sie sich entschuldigen?« Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, warum ich das gefragt hatte: weil ich es nicht mehr aushielt! Ich musste wissen, weshalb er mir zuerst all die Briefe schrieb und die Sache nun überhaupt nicht ansprach.

Er sah mich einigermaßen überrascht an. »Natürlich tut es mir leid, Cole. Aber ich möchte mich nicht entschuldigen.«

Nun war es an mir, ihn anzustarren. Er sank auf das Sofa und wartete, bis ich – steif wie ein Brett – neben ihm Platz

»Wäre sie nicht gewesen –«, widersprach ich rein aus Reflex.

»Möchtest du wissen, was deine Mutter diesbezüglich zu mir gesagt hat?«

Keine Ahnung, ob ich es wollte, darum zuckte ich die Schultern, was er als »ja« deutete.

»Sie sagte: Lucas war schon immer mit den Gedanken in irgendeiner Traumwelt. Wäre Cole nicht wie sein Schatten gewesen, wäre er mir schon hundertmal vor ein Auto gelaufen.«

Ich biss die Zähne zusammen. Es stimmte. Ich hatte Lucas tausendmal von der Straße gezogen. Nur an dem Tag war ich zu weit weg gewesen, sonst hätte ich …

»Was, wenn du ihn vor dem Auto gerettet hättest? Was, wenn es dich erwischt hätte, Cole?«

»Dann wäre es richtig gewesen!«, schrie ich. »Es ist meine Aufgabe, ihn zu schützen, und wenn ich dabei draufgehe.«

Erwachsene reagierten auf meine Neigung, für Lucas da zu sein und ihn auf Biegen und Brechen vor allem beschützen zu müssen, immer mit Unverständnis. Sie fanden es übertrieben, krankhaft. Was wussten die schon von uns?

Obwohl Peter ein Erwachsener war, nickte er. Er legte mir die Hand auf die Schulter und stützte sich ab, um aufzustehen.

»Wenn sie in fünf Minuten nicht reinkommt, bring ihr bitte einen Mantel raus.«