»Lucas!«, keuchte ich ins Telefon. »Lucas, bitte sei da! Es tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe. Ich war krank und konnte nicht früher kommen …«
Der Wind fegte um das Häuschen und kurz dachte ich, das Heulen käme aus der Leitung.
»Lucas?«
»Ju-une?«
»Lucas!«, brüllte ich. Es war mir vollkommen egal, ob mich jemand hörte. »Lucas, sag was!«
»June …«, rauschte seine Stimme durch den Hörer. Hatte ich bisher daran gezweifelt, dass er echt ein Geist war, dann war es nun eindeutig. Er hörte sich genauso an wie die Geister in den Filmen. Gruselig. Substanzlos.
»Lucas. Hör mir gut zu: Du wirst jetzt ruhig ein- und ausatmen, wie ein Mensch, Und dann erinnerst du dich an deinen Körper. An deine Wärme. An eine Umarmung …«
»June …«, sagte er. Dieses Mal mit einer erleichtert klingenden, festen Stimme. »Danke!«
»O mein Gott, Lucas!« Ich schluchzte auf. »Es tut mir so unendlich leid, ich –«
»Nein. Mir tut es leid.«
»Warum denn? Du kannst doch nichts dafür! Hätte ich dir nicht die Wahrheit um die Ohren geknallt und wäre danach einfach verschwunden …«
»Ich wusste es im Grunde schon, bevor du es mir gesagt hast. Aber ich habe es ignoriert. Du hast mir eigentlich einen Gefallen getan, indem du mir Zeit gegeben hast, es zu verdauen. Auch wenn es mich erst einmal furchtbar verletzt hat.« Er schwieg einen Augenblick. Zum ersten Mal war ich richtig nervös, weil er nicht weitersprach. Entweder hatte Cole mich mit seiner Rastlosigkeit angesteckt oder ich fürchtete, dass Lucas wieder verschwand.
»Warum bin ich noch hier, June? Aus welchem Grund kann ich mit dir telefonieren? Warum hast du nie mit deiner Mutter telefonieren können, sondern nur mit mir? Wo ist sie? Wieso bin ich … so?«
Ich vermutete, er zeigte auf seinen Körper, und ich fragte mich automatisch, wie er aussah. War er durchsichtig? Besser, wir besprachen das, wenn er etwas stabiler war. Momentan schien mir das Risiko zu groß, dass er sich wieder in Luft auflöste.
»Wir können miteinander sprechen, weil du mich gerettet hast! Mein Leben steht in deiner Schuld«, antwortete ich leise.
»Aber was bedeutet das? Sollst du mir bei irgendetwas helfen?«
»Vielleicht … eine unerfüllte Aufgabe? Vielleicht ist das der Grund, warum du … festhängst?«
»Könnte sein.« Er atmete tief aus. »Bloß welche?«
Ich setzte mich auf den eisigen Boden und unterdrückte ein Zittern. »Das werden wir herausfinden!«
Sein kurzes Lachen klang immer noch dünn und unsicher. »Das nennt man wohl Glück im Unglück. Dass ich hier festhänge, aber dich an meiner Seite habe. Immerhin können wir das Rätsel jetzt gemeinsam lösen.«
»Das machen wir auf jeden Fall!«, beeilte ich mich zu sagen. Ein kleines Stimmchen in meinem Hinterkopf rief mir zu, dass ich Lucas verlieren würde, wenn er weiterzog. Aber das wollte ich jetzt nicht hören. Es war meine Aufgabe, ihm genau dabei zu helfen, und ich würde mich durch nichts in der Welt davon abbringen lassen. »Hast du schon eine Idee, worum –«
Die Telefonzellentür öffnete sich quietschend. Der Schreck fuhr mir bis ins Mark.
Wortlos streckte Cole mir eine Decke hin, drehte sich um und ging ins Haus. Mein Herz schlug bis zum Hals.
»Lucas?«, flüsterte ich in den Hörer. Natürlich war er bereits verschwunden.
Ich war gleichzeitig stinksauer auf Cole und irgendwie gerührt, dass er sich um mich sorgte. Hoffentlich war Lucas jetzt erst einmal sicher und ich konnte ihn morgen wieder anrufen, ohne dass er in der Zwischenzeit einen Albtraum bekam.
Nachdem ich ein paarmal tief durchgeatmet hatte, rappelte ich mich hoch. Meine Knie schmerzten von der zusammengesunkenen Haltung am kalten Boden und hinter meiner Stirn pochte die Migräne. Trotzdem war ich unglaublich froh, dass ich mit Lucas gesprochen hatte.
In die Decke gewickelt, ging ich zurück ins Haus.
Diese Augen! Sie hatte mich mit einer Mischung aus Überraschung und Wut angesehen. Gleichzeitig hatte ich das komische Gefühl gehabt, sie würde sich freuen, mich zu sehen. Wahrscheinlich spielte mir meine Wahrnehmung einen Streich. Junes Augen waren so dunkel, dass man sich Emotionen leicht einbildete, und gerade heute schien ich dafür extrem anfällig zu sein. Musste am Schlafmangel liegen. Möglicherweise auch an der Stimmung in diesem Geisterhaus.
Am liebsten wäre ich jetzt nach Hause gegangen. Per Anhalter oder zu Fuß … alles war besser, als hier darauf zu warten, dass sie zur Hintertür hereinkam und mich böse anfunkelte.
Prompt ging die Tür auf. Ich versteifte mich, als die Windböe sie hereinwehte.
Sie schüttelte sich wie ein Hund und zog die Decke von den Schultern, obwohl sie noch sichtbar bibberte.
Ich verdrehte die Augen und wickelte sie erneut in das Plaid ein. »Wärm dich erst mal auf.«
Als sie mich nun ansah, wich ich ihrem Blick aus und rubbelte ein wenig die Decke über ihren schlotternden Armen.
»Cole?«
Da war ein kleiner Riss im Putz an der Wand und eine Efeuranke drängte sich hindurch.
June stellte sich etwas auf die Zehenspitzen, damit sie in mein Blickfeld kam. Ich konnte immer noch locker über sie hinwegsehen … wenn ich wollte.
Ihre kleine, eiskalte Hand wühlte sich unter dem Deckenkokon hervor und umklammerte mein Handgelenk, weil ich sie wie ein Wildgewordener warm schrubbte.
Ihre Augen waren riesengroß, wenn sie von unten zu mir heraufsah. Ihre Nasenspitze leuchtete rot und die Lippen waren immer noch blass und trocken. Bestimmt fühlten sie sich rau an.
Irgendetwas in meinem Kopf verursachte einen Kurzschluss.
Ich beugte mich zu ihr hinunter und berührte ihre Lippen, ganz sacht, mit meinen. Es war nicht einmal ein Kuss. Wir standen da, atemlos, die Münder hauchzart aneinander und die Lider geschlossen. Als ob auch nur die winzigste Bewegung den Moment in tausend Scherben zerspringen lassen würde.
Irgendwann stöhnte sie und taumelte. Ich riss die Augen auf … und hätte sie am liebsten gleich noch einmal geküsst. Dieses Mal aber richtig. Ein rosiger Schimmer überzog ihr Gesicht und ihre Lippen wirkten röter und voller, als ob wir stundenlang wild und ungestüm geknutscht hätten …
Bevor ich auf weitere dumme Gedanken kam, kippte sie nach hinten. Nur, weil ich so dicht bei ihr stand, gelang es mir, den Arm um sie zu schlingen und sie aufzufangen. Wir taumelten beide rückwärts.
Lucas, wie er sie vor dem Sturz bewahrt …
Mein Herz gefror zu Eis.
Ich hatte Lucas’ große Liebe geküsst!
»Sorry!«, krächzte sie. »Ich hab wohl vergessen zu atmen.«
Ich war Abschaum. Der widerlichste Gossendreck unter den Zehennägeln eines Zuhälters. Tiefer konnte man gar nicht sinken.
Das Einzige, was ich in dem Moment zustande brachte, war ein Nicken. Dann setzte ich mich auf das Sofa und starrte die Wand an.
»Cole?«, sagte sie leise, doch selbst daraus hörte ich ihre Verunsicherung.
Ja, ich war ein mieser Typ. Ich hatte sie ungefragt geküsst und natürlich wollte sie das nicht und ich sollte es genauso wenig wollen und … und …
»Ich bin müde«, sagte ich.
Arschloch, Arschloch, Arschloch!
»Okay.« Sie stand auf. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie auf wackeligen Beinen zur Treppe wankte. Ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Gute Nacht!«, und wartete keine Antwort ab.
Natürlich war sie sauer. Zu Recht!
Denk an Lucas. Denk an Lucas. Denk an –
Cole, seine Lippen, sein Geruch, seine Hand an meinem Nacken, sanft, als wäre ich eine Schneeflocke.
Nein! Lucas! Verdammt. Ich dachte an Lucas!
Was brauchte er, um weiterziehen zu können?
Konzentrier dich, June! Was? Braucht? Lucas?
Cole …
»Nein!«, sagte ich so laut, dass ich über meinen eigenen Ausruf zusammenzuckte.
Lucas brauchte natürlich nicht Cole … Und ich ebenso wenig. Pah! Ich hatte mich ja nur küssen lassen, weil ich überrumpelt gewesen war. Und es hatte mir kein bisschen gefallen. Deshalb war mir wahrscheinlich jetzt auch schlecht, genau. Das war das flaue Gefühl in meinem Magen: Übelkeit, weil Cole mich abgeknutscht hatte.
Wenn ich nur daran dachte, wurde mir schon wieder ganz komisch. Meine Knie zitterten, mein Gesicht wurde superheiß … und ich war zugleich schrecklich traurig und irgendwie aufgekratzt.
Ahhh! Ungeduldig rieb ich mir die Schläfen und versuchte, Cole aus meinen Gedanken zu vertreiben. Er lenkte mich nur ab. Außerdem hatte seine Reaktion danach ja gezeigt, dass er den Kuss schon bereute, bevor ich überhaupt nach Luft geschnappt hatte. Bestimmt küsste ich scheiße. Das war sogar wahrscheinlich. Schließlich hatte ich nie beim Flaschendrehen mit Knutschen mitgemacht, weil ich nie auf Partys eingeladen worden war. Meine einzigen Knutscherfahrungen stützten sich auf ein paar wenige Küsse mit Ryan.
Die ganze Sache mit Ryan kam mir auf einmal unwichtig und lächerlich vor. Als ob das alles schon viele Jahre zurückliegen würde. Dabei hatte ich vor ein paar Wochen das Gefühl gehabt, sein Verhalten sei der größte Verrat, der tiefste Schmerz, den ich je erlebt hatte.
Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Was war nur los mit mir?
Energisch richtete ich mich auf. Ich brauchte einen klaren Kopf, um Lucas zu helfen. Denn das musste ich unbedingt, selbst wenn es bedeutete, dass ich ihn dadurch verlor.
Warum war er noch hier? Ich setzte mich an den Schreibtisch und fischte ein leeres Blatt aus der Schublade. Manchmal half es mir, meine Gedanken schriftlich zu sortieren.
Was waren die Gründe, weshalb Geister hier festhingen? Wer, wenn nicht ich, die Geisterexpertin, würde darauf eine Antwort finden? Voller Elan kritzelte ich meine Einfälle auf ein Blatt, doch nichts schien recht zu passen.
Sein Tod war unerwartet und zu früh gekommen, aber nicht alle jugendlichen Unfallopfer spukten in unserer Welt herum. Glaubte ich.
Wäre es Mord gewesen, hätte er ihn vielleicht aufklären müssen … zumindest war es in Filmen oft so.
Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf und ich setzte den Füller so fest an, dass die Tinte spritzte.
– Lucas’ Unfallverursacher finden, schrieb ich aufs Blatt und setzte ein paar Ausrufezeichen dahinter. Das war die beste Idee des Abends.
Nur, wo sollte ich anfangen? Ich hatte ja nach wie vor keine klare Erinnerung an den Unfall.
Aber es gab jemanden, der das schreckliche Ereignis mitangesehen hatte. Garantiert wollte er ebenfalls, dass der Todesfahrer zur Rechenschaft gezogen wurde!
Vor lauter Aufregung fand ich keinen Schlaf. Wie könnte ich Cole unauffällig auf das Thema ansprechen? Sollte ich sagen, ich wolle meine Schuld an der Sache mildern, indem ich den wahren Täter fand? Klang das nicht zu sehr nach abgeschobener Verantwortung? Obwohl ich fürchterlich unter dem Gedanken litt, Lucas’ Tod verursacht zu haben, würde ich keinesfalls meine Schuld auf einen anderen abwälzen.
Um sechs Uhr stand ich auf, weil mir ein inneres Stimmchen zuflüsterte, dass Cole sich bestimmt noch vor dem Frühstück aus dem Staub machen würde. Und tatsächlich befand er sich am Ausgang, die Hand auf dem Türgriff.
Er durfte jetzt nicht gehen!
»Der erste Bus fährt erst um 7:15 Uhr«, sagte ich.
Seine Schultern sanken herunter. Ohne sich umzudrehen, erwiderte er: »Ich warte an der Haltestelle.«
Da er mich sowieso nicht ansah, verdrehte ich die Augen. Jetzt war er wieder verschlossen wie eine Auster. Ging das nun ständig so weiter? Heiß, kalt, küssen, hassen …
Er öffnete die Tür.
Ein Regenschauer wehte herein und er stöhnte leise auf.
»Cole!« Wir zuckten beide zusammen, als Pops die Treppe herunterpolterte. »Wo willst du denn so früh hin? Hast du schon gefrühstückt?«
»Äh …« Cole starrte den Boden an. »Ich muss mich heute echt mal wieder im Unterricht blicken lassen.«
»Sicher. June erklärt dir, wo die Haltestelle –«
»Ich gehe auch wieder in die Schule!«, beeilte ich mich zu sagen. »Wir können zusammen mit dem Bus fahren.«
Cole zog die Schultern hoch und Pops hob überrascht die Augenbrauen. »Ach so? Bist du schon wieder so fit?«
»Klar. Außerdem steht heute ein wichtiges Treffen vom Theaterklub an, ich hab versprochen, einen Entwurf für das Bühnenbild von Romeo und Julia zu machen.« Es war nur ein bisschen geflunkert, denn das Treffen zum Bühnenbild fand erst nächste Woche statt. Ich wollte nur unbedingt mit Cole über meine Idee sprechen und dafür brauchte ich mehr Zeit mit ihm.
Pops wiegte den Kopf hin und her. Er würde doch wohl nicht darauf bestehen, dass ich zu Hause blieb? Schließlich räusperte er sich. »Cole, du hast einen Führerschein, oder?«
Ich starrte Pops an. Was führte er im Schilde? Doch er wich meinem Blick aus, schob sich an Cole vorbei und drückte die Tür zu.
»Ich muss dich um einen Gefallen bitten. June war gestern noch ziemlich angeschlagen und ich würde sie ungern mit dem Bus fahren lassen. Ich selbst habe leider einen wichtigen Telefontermin in einer halben Stunde. Da du sowieso in die Stadt musst, könntest du sie vielleicht hinfahren?«
Coles Kiefermuskeln zuckten, als er die Zähne zusammenbiss. Am liebsten hätte ich Pops für diese lächerliche Verkupplungsaktion in den Hintern getreten, allerdings wollte ich ja wirklich mit Cole reden, darum biss ich mir auf die Lippen. Bevor ich etwas sagen konnte, zuckte Cole die Achseln.
»Wenn June das möchte?«
»Äh …« Zwei Augenpaare fixierten mich. Und weil ich June war und mir immer selbst im Weg stand, sagte ich: »Aber dann muss Cole das Auto ja auch wieder herfahren …«
Cole hob erneut die Schultern. »Wäre jetzt nicht mein größtes Problem, ich kann ja dann mit dem Bus zurückfahren.«
»Oder ich bringe dich nach dem Abendessen? Dieses Mal gibt es keinen Wein für mich, versprochen. Ich hab nämlich die letzte Flasche ausgetrunken.« Pops war zu eifrig bemüht. Es war ein bisschen peinlich mitanzusehen, wie er mich Cole aufzuschwatzen versuchte. Das schien ja fast, als wäre ich ein asozialer Fall, der nicht in der Lage war, ohne Daddys Hilfe Freunde zu finden!
Bestimmt schob ich ihn Richtung Treppe. »Lass das, Pops. Cole und ich fahren mit dem Bus, er will sicher ni–«
»Okay!«, hörte ich mich in dem Moment sagen. Weil ich ein gottverdammter Schwachkopf war. June wollte doch gar nicht, dass ich mich länger als nötig hier rumtrieb.
»Perfekt! Du kommst bestimmt mit der Gangschaltung klar, die ist manchmal etwas eigenwillig.« Pfeifend stieg Peter Jones die Treppe hinauf und ich dachte mir, dass dieser Mann wirklich nicht alle Tassen im Schrank hatte.
June klatschte in die Hände. »Oh, echt? Super, dass du mich fährst!«
Äh … Warum strahlte sie mich jetzt so an? Was June betraf, funktionierte mein Menschenkenntnisradar kein bisschen. Dasselbe galt für ihren Vater. So eine Kuppelaktion hätte ich ihm nie zugetraut.
Ich sah Lucas förmlich über meine Gedanken den Kopf schütteln … und er hatte ja recht. Ich besaß eine äußerst miese Menschenkenntnis. Nicht nur bei June.
Das lag einfach daran, dass ich ungern zu nah an andere herankam und nicht zu genau hinsah. Dann ließ man mich eher in Ruhe. Ganz im Gegensatz zu Lucas. Er liebte es, wenn alle um ihn herumschwirrten und nahezu an ihm klebten und ihn mit ihren Sorgen und langweiligen Lebensstorys zumüllten. Ich würde durchdrehen …
Es sei denn, es waren Junes Storys. Die waren wenigstens interessant. Hier hatte Lucas einmal Geschmack bewiesen.
Scheiße! Schluss mit diesen Gedanken.
Wir standen in der Küche und June sah mich an, als würde sie auf etwas warten. Ups … Hatte sie mir eine Frage gestellt?
»Kaffee, nehm ich an?«
»Oh, ja … wie hast du das erraten?«, fragte ich, nur um über meinen Aussetzer hinwegzutäuschen.
»Hmmm … Erstens siehst du wie ein Kaffeemensch aus. Keine Milch, keinen Zucker. So siehst du aus!« Sie nickte bekräftigend und ich hob einen Mundwinkel, weil sie recht hatte. »Zweitens hab ich deinen Tee getrunken … die ganze Kanne … und …«
»Ja, schon gut, erwischt!« Ich hob die Hände. »Bei uns trinkt niemand Tee.«
»Das merkt man.« Sie tätschelte mir liebenswürdig den Arm. »Ich mache dir einen schönen, bitteren Kaffee.«
»Lass mich raten … du trinkst nur veganen Pumpkin Spice Latte mit extra Schokostreuseln und ganz viel Karamellsauce?«
Sie gab ein Würgegeräusch von sich und ich musste lachen. »Wer trinkt denn so was Ekliges?«
»Lucas«, sagte ich, ohne nachzudenken. Man konnte das kollektive Luftanhalten im Raum fast körperlich spüren. In mir entstand der Drang, mich zu entschuldigen, nur wofür? Dafür, dass ich etwas Ironisches über meinen verstorbenen Bruder sagte? Durfte man nicht mehr über Tote lachen?
Ich wusste, was bei mir zu Hause galt, aber hier hatte ich gedacht, es sei anders.
O Mann, jetzt fühlte ich mich mies! Hätte ich doch nur die Klappe gehalten, verdammt noch mal!
»Dann hat er bestimmt Karamellpupse produziert …«, überlegte June laut.
Es war ein totaler Kinderwitz, richtig doof und kein bisschen lustig. Trotzdem blubberte in mir ein Kichern hoch, das gut in den Kindergarten gepasst hätte.
»Eigentlich ganz schön mutig für einen Glucodermaphobiker, einen Latte-Irgendwas zu trinken … Was, wenn jemand versehentlich die Mandelmilch mit echter Kuhmilch vertauscht hätte?« Keine Ahnung, was auf einmal mit mir los war. Ich fühlte mich wie im freien Fall. Früher war das unser tägliches Zwillingsgeplänkel gewesen. Er hatte mir heimlich die Hoodies mit BTS-Aufbügelbildern verschandelt und ich rannte ihm mit einem Glas Milch hinterher, nur um sein Kreischen zu hören. Aber wie konnte ich mich jetzt über ihn lustig machen? Und warum fühlte es sich so unvorstellbar befreiend an? Ein komischer Laut sprang mir aus dem Mund, irgendetwas zwischen einem Schluchzen und einem Grunzen.
June biss sich auf die Lippen. Ihre Augen blitzten auf. Sie freute sich so sehr, dass ich mich nicht mehr zurückhielt.
Peter kam in die Küche zurück, als June und ich uns am Tresen festhalten mussten, um nicht vor Lachen umzukippen.
Er schnappte sich einen Apfel. »Na, ihr habts ja lustig!«, freute er sich, und ohne zu wissen, weshalb wir uns kringelten, lachte er ein bisschen mit, bevor er in sein Zimmer verschwand.
June reichte mir eine Kaffeetasse. Über den aufsteigenden Dampf hinweg sah ich, wie sich eine Lachträne aus ihrem Augenwinkel löste und die Wange herunterkullerte. Anstatt die Tasse anzunehmen, wischte ich ihr die Träne weg.
Selbst wenn es Freudentränen waren, konnte ich es nicht ertragen, sie weinen zu sehen.
Dieses Mal erstarrte sie nicht.
»Pops hat gar kein Telefonmeeting …«, sagte sie, während sie die Nase hochzog.
Ich verdrehte die Augen. »Schon klar.«
»Und ich weiß, dass du Kaffee trinkst, weil eine Tasse davon neben deinem Bett stand.«
»Du kannst nicht lügen, oder?« Ihre Ehrlichkeit war irgendwie süß.
Sie schüttelte betreten den Kopf. »Wenn ich es versuche, fühle ich mich mies, sodass ich es dann doch ganz schnell aufklären muss … wie du merkst.«
»Gibt es sonst noch etwas, das du mir sagen möchtest?«, scherzte ich.
Ihre Miene wurde schlagartig ernst und sie warf einen Blick in den Garten.
»Hmm … ja …«
Aha, aha. Interessant. Gespannt nahm ich ihr gegenüber an dem winzigen Küchentisch Platz.
Sie knetete vorsichtig ihre Finger, dann zog sie mit steifen Bewegungen einen zusammengefalteten Zettel aus der Hosentasche. »Erinnerst du dich an den Unfall?«, sagte sie und tippte auf einen Satz, der auf dem Papier geschrieben stand.
Lucas’ Unfallverursacher finden!!!
Einen Augenblick lang bekam ich schlecht Luft. Ich hatte das Gefühl, in einen Tunnel zu blicken, und auf einmal roch ich Blut und Metall. Blut. Metall. Blut …
»Cole!«
Junes Hände an meinem Gesicht drückten mir die Wangen zusammen. Sie hielt mich so fest, dass ich gezwungen war, sie anzusehen.
»Atme! Du musst nicht darüber sprechen, ich suche auch allein. Ich dachte nur …«
Ihr Gesicht rückte zurück in meinen Fokus, als hätte ich eine Kamera in meinen Augen scharf gestellt. Sie sah besorgt und schuldbewusst aus.
»Ich bin dabei!«, sagte ich und knallte die flache Hand auf das Blatt. »Finden wir den Bastard.«
Aus Cole Archer schlau zu werden, war ungefähr so leicht, wie eine Sternschnuppe einzufangen. Er war ein wandelndes Mysterium.
Im einen Moment dachte ich, er würde mir eine Ohrfeige verpassen, dann wurde er beinahe ohnmächtig und jetzt machte er fast schon fieberhaft Pläne für den Rest der Woche, wie wir unsere Detektivarbeit angehen würden.
Dinge wie Schule und Hausaufgaben spielten dabei eine untergeordnete Rolle. Wenn es nach ihm ginge, wären wir jetzt sofort auf das zuständige Polizeirevier gefahren und hätten nachgeforscht, wie der aktuelle Stand der Ermittlungen war.
Ich bestand darauf, dass wir beide zunächst zur Schule mussten. Mein Leben war gerade auch so schon kompliziert genug, da konnte ich mir nicht erlauben, auch noch schulisch ins Straucheln zu geraten. Cole willigte ein, wollte mich aber unbedingt, gleich nachdem ich Schluss hatte, abholen kommen. Inzwischen wusste ich, dass er dafür seine letzte Stunde würde schwänzen müssen.
Als ich ihn darauf ansprach, zuckte er nur die Achseln – sein Markenzeichen, wie ich langsam durchschaute. »Es muss ja für irgendwas gut sein, dass die Lehrer mich seit Lucas’ Tod nicht mehr bestrafen.«
Ich zog eine Grimasse. Dieses Aus-Unsicherheit-ignoriert-Werden kannte ich nur zu gut. Ich schlug vor, ich könne einfach in einem Café auf ihn warten, wovon er absolut nichts hören wollte.
Cole fuhr mich bis dicht vor die Schule. Kurz befürchtete ich, er würde mich reinbringen. Oder hoffte? Nein, nein! Definitiv wäre mir das unangenehm gewesen. Die Leute hätten ja ganz falsche Schlüsse gezogen …
Als ich ausstieg, beugte er sich zur Beifahrertür hinüber. Gerade in dem Moment, als Ryan mit seiner Crew ankam, sagte er: »Ich hol dich nachher ab. Aber dieses Mal bring ich meine Zahnbürste mit.« Er zwinkerte.
Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen schoss, und kicherte nervös.
Eine Hand landete schwer auf meiner Schulter. Erstaunt fuhr ich herum und sah in Ryans rotes Gesicht.
»Wer ist das, June?«
Unbewusst trat ich einen Schritt zurück. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Ryan!« Warum zitterte meine Stimme jetzt? Als ob ich so ein schwaches Häschen wäre. Dabei war ich wütend – und zwar so richtig.
Ryan griff nach meinem Handgelenk. Ich versuchte, ihm den Arm zu entreißen. Er hielt dagegen.
Cole tauchte neben mir auf. Er bebte vor Anspannung und strahlte eine Bedrohung aus, die mich überraschte.
»Ich empfehle dir, du nimmst deine Finger ganz schnell von ihr, oder du kannst jeden einzelnen in einem Beutel gefrorener Erbsen zur Notaufnahme tragen.«
»Und wer bist du, dass du dich als ihr Beschützer aufspielst?« Ryan blies den Oberkörper auf.
»O mein Gott, Hahnenkampf!« Tina rollte mit den Augen. »Komm schon, Ryan, mach dich nicht lächerlich.«
Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu und sie zwinkerte kurz.
»Hat der Kerl bei dir übernachtet?«, fuhr Ryan mit seinem Verhör fort, ohne sich um Tinas Einwand zu kümmern.
»Was dagegen?«, fragte Cole gefährlich ruhig.
Tina rückte neben mich und begann auf ihren Fingernägeln herumzukauen. »O mein Gott! Ich mach mir gleich ins Höschen!« Sie wirkte total begeistert, als sie mir ihren Ellenbogen in die Rippen stieß.
Ich mochte solche Testosteronschlachten überhaupt nicht. Gockel gegen Gockel. Es war immer lächerlich. Allerdings irritierte mich hier etwas: Obwohl Ryan fast doppelt so breit wie Cole war, stank er neben ihm total ab. Cole war aus purem Eis.
»June!«, donnerte Ryan. »Was zum –«
»Es reicht!« Ich stampfte mit dem Fuß auf wie ein Kindergartenkind. Meine Güte. »Du bist der Letzte, den das irgendwas angeht! Du hast mein Vertrauen missbraucht, mehr als ein Mal, Ryan. Du hast mir weder den Brief geschrieben, noch konntest du mein Geheimnis für dich behalten. Ich muss dir gar nichts erklären.«
Cole erstarrte. Ich konnte ihm förmlich ansehen, wie die Erkenntnis einsank. »Er hat behauptet, der Brief … Lucas’ Brief?« Er sah mich an.
Ich nickte.
Im nächsten Augenblick lag Ryan am Boden und Cole saß auf ihm. Coles Schienbein lag quer über Ryans Hals.
Ich unterdrückte einen Schrei.
»Wenn du keine eigenen Worte findest, um diesem Mädchen zu sagen, was du für sie empfindest, gibt es dir noch lange nicht das Recht, die eines anderen zu stehlen!«
Ryan schnappte nach Luft. Entweder war Cole ein Kampfsportchampion oder die Wut verlieh ihm Superkräfte. Jedenfalls konnte Ryan nicht einmal mehr die Hand heben.
»Du bist Abschaum! Wenn du je wieder ohne ihre Erlaubnis in Junes Nähe kommst, wird es dir leidtun!«, spie Cole ihm entgegen.
Er sprang auf und stapfte davon.
Ohne ein Wort in meine Richtung.
Das Auto stand immer noch da, sogar der Motor lief weiterhin.
Tina zog den Schlüssel ab und reichte ihn mir. »Super hot!«, wisperte sie und sah Cole hinterher.
Ich schüttelte die Starre von mir ab.
Verdammt! Ich konnte Cole jetzt nicht allein lassen.
»Entschuldigst du mich in der Schule? Sag, mir ginge es doch noch nicht besser.«
Tina gab mir einen Schubs in Coles Richtung, den ich nicht gebraucht hätte.
Während ich ihm hinterhereilte, hatte ich ein Déjà-vu. Nur trug ich dieses Mal wenigstens keine Kaffeetasse in der Hand, sondern einen Sack voller Schuldgefühle auf dem Rücken.
Luft! Ich brauchte Luft.
Kälte. Eis. Erstarren. Irgendetwas, das diese Glut in meinem Inneren beruhigte. Ich konnte kaum mehr an mich halten, am liebsten würde ich diesen Drecksack erwürgen.
Ich dachte, diese aggressiven Ausbrüche hätten wir hinter uns, Cole!, hörte ich meinen Vater in Gedanken sagen. Wann wirst du endlich lernen, dass man nicht alles mit Fäusten regeln kann?
Meine Antwort wäre dieselbe wie immer gewesen, wenn auch aus einem vollkommen anderen Zusammenhang. »Sobald Lucas seine eigenen Kämpfe ausfechten kann!«
»Was soll das bedeuten?«, japste June hinter mir.
Ich fuhr herum und runzelte die Stirn. Gerade konnte ich sie hier nicht gebrauchen. Sie hatte diesen Rückfall bei mir getriggert, am besten wurde sie nicht auch noch Zeugin, wie ich danach auseinanderbrach.
»Geh besser wieder«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»›Sobald Lucas seine eigenen Kämpfe ausfechten kann!‹ Das hast du gesagt. Was meinst du damit?«
»Ich will nicht darüber reden«, knurrte ich und ließ sie stehen.
June glitt an mir vorbei und baute sich vor mir auf. Das war irgendwie witzig, ich könnte sie nicht nur mit Leichtigkeit umgehen, es wäre auch kein Problem, sie hochzuheben und wegzustellen. Trotzdem haderte ich kurz und sie nutzte den Moment, die Fäuste in die Hüften zu stemmen und mich herausfordernd anzufunkeln.
»Aber ich will darüber reden!«
»Es ist mein Bruder, um den es hier geht!«, fauchte ich.
»Das war mein Ex-Freund, den du da gerade beinahe ohnmächtig gewürgt hast.«
»Herzlichen Glückwunsch, was für ein Fang!«, spottete ich. In dem Moment hasste ich sie.
»Und noch wichtiger«, fuhr sie unbeirrt fort, »es war mein Liebesbrief. Ich wurde betrogen – und Lucas. Nicht du.«
Ich gab einen frustrierten Laut von mir. Warum konnte sie mich nicht in Ruhe lassen? »Du verstehst das nicht!« Erneut schlüpfte ich an ihr vorbei, doch sie klebte an mir wie eine Klette.
»Stimmt genau. Deshalb erklär es mir bitte.«
»Kein Bedarf.« Ich begann zu rennen. Ja, schon klar, wie das aussah. So als würde ich davonlaufen. Tat ich auch. Mal wieder.
Doch ich hatte nicht mit June gerechnet. Nach wenigen Metern packte sie mich an den Schultern und nur einen Augenblick später schlang sie ihre Beine um meine Hüften.
Ich strauchelte – mehr vor Schreck als wegen des plötzlichen zusätzlichen Gewichts. War sie mir allen Ernstes gerade auf den Rücken gesprungen?
»Wirklich sehr erwachsen, June!«
»Ich begebe mich nur auf dein Niveau, Cole.«
Dem konnte ich nichts entgegensetzen. Scheiße!
»Okay, ich stehe. Du kannst jetzt absteigen.«
Sie schnaubte. »Vergiss es, dann rennst du nur gleich wieder los. Ich bin nicht so sportlich.«
Seufzend ging ich weiter. Wohin, wusste ich selbst nicht, ich war in meiner Wut einfach losgeprescht. Und June war nicht besonders schwer, meinetwegen schleppte ich sie eine Weile mit mir herum.
Ihr warmer Atem streifte mein linkes Ohr. Automatisch fiel ich in denselben Atemrhythmus wie sie, etwas schneller als sonst, aber wir waren ja auch gerannt. Es lag sicher nicht daran, wie perfekt sich ihr weicher Körper an meinen Rücken anpasste. Fast, als wäre sie eine Schutzhülle, die nur für mich gegossen worden war.
Ich konnte mich kaum auf etwas anderes konzentrieren als auf ihre Haut, die manchmal meine berührte. Keine Ahnung, wohin mein Zorn sich verkrochen hatte …
Wieder hielt ich an und versuchte, sie zum Absteigen zu bewegen, bevor ich noch versehentlich ihre Beine streichelte. Doch sie klammerte sich an mich wie ein Äffchen.
»Wie unglaublich mies ist deine Menschenkenntnis, dass du dachtest, ein Klotz wie dieser Ryan könnte einen solchen Liebesbrief geschrieben haben?«, entfuhr es mir.
»Ganz offensichtlich nicht besonders gut. Ich hätte ja auch nie gedacht, dass du zur eifersüchtigen Sorte gehörst.«
»Ich? Eifersüchtig?« Mein Lachen klang nach gefrorenem Stahl. »Deinetwegen etwa? Wovon träumst du nachts, Juniper?«
Ein scharfer, heißer Schmerz stach in meine Ohrmuschel.
»Nimm sofort deine verfickten Zähne aus meinem Ohr!«
»Verprügelst du mich sonst?«, nuschelte sie, die Schneidezähne immer noch in meinen Knorpel gerammt. So ein kleines Biest!
»Nein, sonst –« Ich ging vorsichtig rückwärts, bis sie mit einem dumpfen Laut gegen die rote Backsteinmauer prallte. Kaum lockerte sie ihren Griff durch den Schock des Stoßes, löste ich ihre Beine und drehte mich blitzschnell um, sodass sie nun mit dem Rücken an der Hauswand stand und mich direkt vor sich hatte. Jahrelanges Ringen und Raufen mit meinem Zwillingsbruder zahlten sich endlich aus, sie war überhaupt kein Gegner für mich.
Das Triumphgefühl in meinem Inneren wich ziemlich schnell etwas anderem. Ihre Arme waren immer noch um meinen Hals geschlungen und unsere Nasenspitzen berührten sich beinahe. Dadurch wirkte die Situation viel intimer, als sie eigentlich war. Mein Gehirn wusste, dass da nichts dran war. Mein Körper offensichtlich nicht, denn ohne es zu wollen, drängte ich mich gegen sie. Garantiert irgendeine Adrenalin-Nebenwirkung.
»Sonst …?«, atmete sie an meine Lippen.
»Sonst …« Mir fiel nicht mehr ein, was ich hatte sagen wollen.
Sie reckte das Kinn hoch. Ich würde einen Teufel tun und sie erneut küssen, auch wenn sie es auf einmal nicht mehr allzu schrecklich zu finden schien. Ich würde mich von ihr losmachen und Abstand zwischen uns bringen … Gleich …
Sie küsste mich.
Sie küsste mich.
Sie küsste mich!