*Cole

Ich wollte nicht, dass der Kuss endete, doch irgendwann fielen wir auseinander. Erhitzt, atemlos, mit aufgerissenen Augen und geschwollenen Lippen.

Was genau war hier gerade passiert?

Ich öffnete den Mund. Kein Wort kam heraus. Ihr schien es ähnlich zu gehen.

Schließlich nahm sie meine Hand. Im Vergleich zu ihrer zarten Puppenhand kam ich mir vor, als hätte ich Pranken. Sie hielt mich so fest, als fürchtete sie immer noch, ich würde davonlaufen. Ganz offensichtlich hatte June eine schlechte Menschenkenntnis, sonst wüsste sie, dass ich jetzt garantiert nirgends hinrennen würde. Außer vielleicht in mein Bett – mit ihr.

Wir schwiegen beide, bis wir uns an einem wackeligen Metalltischchen unter einer kanariengelben Markise gegenübersaßen. Eigentlich war es zu kalt, um draußen zu sitzen, und zusätzlich hatte es London-typisch zu nieseln begonnen. Aber sie hatte das überladene Innere des Cafés komplett ignoriert und mich auf den regenfeuchten Stuhl gedrückt. Vielleicht spürte sie, dass ich dort drinnen gerade keine Luft bekam.

June bestellte zwei Kaffee und zwei Eisbecher.

Ich hob eine Augenbraue, weil sie über meinen Kopf hinweg bestimmt hatte, was ich trinken und essen würde,

June zuckte mit den Schultern, eindeutig absichtlich – wie ich das sonst immer tat –, und grinste. »Du brauchst etwas Kaltes, damit du runterkommst, und etwas Warmes, weil es arschkalt ist. Etwas Bitteres, damit es etwas gibt, das noch bitterer ist als dein Leben. Und etwas Süßes …« Sie brach ab, schluckte, starrte mir auf die Lippen und lief rot an. Ich hätte beinahe gelacht, doch sie sah so niedlich in dem Moment aus, dass ich sie nur fasziniert anstarrte.

»Und warum Minz-Schoko?«, fragte ich wenig später, als ich mit unverhohlenem Horror in meinen Eisbecher linste, den Miss Bubbly uns mit »Enjoy Sweethearts!« (O Mann!) hingestellt hatte.

June runzelte die Stirn, starrte mit vollem Mund auf ihren Cup, als würde die Mischung aus Grün und Braun darin ihr eine Antwort verraten. Letztendlich war das sogar vorstellbar – bei June jedenfalls. Sie legte ja auch Tarotkarten und hielt mit ihrem Dad Séancen ab. Warum dann nicht Eiscreme-Lesen?

»Ich verstehe die Frage nicht«, sagte sie und widmete sich dem Inhalieren ihres Eises.

Vorsichtig tunkte ich den Löffel in das giftig aussehende Zeug. Mit höchster Skepsis leckte ich die Spitze ab, während mir überdeutlich bewusst war, dass June jede meiner Regungen adlerartig beobachtete. Sie rot werden zu sehen, gehörte zu meinen neuen Lieblingsbeschäftigungen, also leckte ich den Löffel besonders sorgfältig für sie ab, wofür sie mich prompt mit einem entzückenden Roséton in den Wangen belohnte.

Oh. Vor lauter Flirten hatte ich gar nicht mitbekommen, dass ich fast den ganzen Eisbecher weggeputzt hatte. Aus Prinzip musste ich nun eigentlich widersprechen …

Ich schnaubte. »Es ist erstaunlich lecker. Eklig-köstlich irgendwie.«

June grinste zufrieden und lehnte sich zurück. »So widerlich, dass es schon wieder gut ist.«

»Erfrischend und …«, ich trank einen Schluck, »es passt auch gut zu Kaffee.«

»Es passt zu nichts, darum passt es zu allem.« June schielte auf den kleinen Karamellkeks neben meiner Tasse und ich schob ihn ihr zu, woraufhin sie ihn sich augenblicklich in den Mund stopfte wie ein ausgehungertes Dinosaurierbaby.

»Du bist komisch.« Dummerweise musste ich dabei lächeln, als hätte ich ihr etwas total Nettes gesagt.

»Selber komisch«, nuschelte sie am Keks vorbei. »Okay … zurück zum Ernst des Lebens. Jetzt, wo wir den ganzen Tag Zeit haben, wo fangen wir an? Trotzdem auf dem Polizeirevier?«

Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hatte ganz vergessen, weshalb wir hier saßen. Und dass ich eigentlich wütend war. Dass ich nicht mit Lucas’ Freundin flirten durfte. Und dass …

»Cole?«

Ihr Blick ruhte auf meiner Hand, die den Henkel der Kaffeetasse würgte.

»Polizei«, antwortete ich knapp. Ich wollte gern wütend auf sie sein, dass sie mich aus dieser Wohlfühlbubble herausgerissen hatte, aber streng genommen war ich viel zorniger auf mich selbst. Warum vergaß ich in ihrer

Mein Bruder meldete sich ungefragt in meinem Kopf zu Wort.

»Du bist immerhin nicht komplett ausgeflippt. Ohne sie würdest du jetzt heulend auf einer Parkbank sitzen und dir die blutigen Knöchel reiben.«

Ich zeigte dem Lucas in meinem Kopf den Finger, knallte einen Schein auf den Tisch und stand auf. Ich sah mich nicht nach June um. Sie würde schon kommen. Oder auch nicht.

*June

Coles Reaktion war keine wirkliche Überraschung. Es erfüllte mich mit einer seltsamen Art von Stolz, ihn mittlerweile so gut zu kennen. Ich konnte vorhersehen, wann er sich daran erinnerte, dass Cole Archer aus Prinzip nicht lächelte. Obwohl seine Stimmungsschwankungen mich frustrierten, war ich froh, wenigstens nicht eiskalt von ihnen überrascht zu werden.

Lucas hatte mich gelehrt, nicht vorschnell zu urteilen. Und bei Cole war es eigentlich gar nicht schwer, ihn zu durchschauen.

Je mehr ich an seiner Fassade kratzte und der Anstrich aus selbsterklärtem Bad Boy bröckelte, desto deutlicher schimmerte der wahre Cole durch. Er schien eine große Last bezüglich seines Bruders mit sich herumzuschleppen.

Manchmal schien Cole einen winzigen Augenblick lang nicht an seine Schuld zu denken. Aber wehe, wenn er sich daran erinnerte. In dem Moment kamen die Schuldgefühle sichtbar mit zehnfacher Wucht zurück. Vielleicht, weil auch noch das Gefühl hinzukam, seinen Bruder vergessen zu haben.

Und dann biss, kratzte und attackierte er alles in Reichweite – wie eine verwundete Raubkatze.

Erst als die weißen Säulen am Eingang des Polizeireviers in Sicht kamen, verlangsamte Cole seine Schritte und wartete auf mich.

»Ich weiß nicht, ob es besser ist, dass ich rede oder du«, sagte er. »Ich bin Familie. Aber du bist ein Mädchen und dir vertrauen sie vielleicht eher, und wenn wir Glück haben, verplappert sich einer?«

»Lass es mich versuchen.« In seiner momentanen Stimmung traute ich mich nicht einmal, ihn zu berühren. Er wirkte immer noch wie eine Bombe kurz vor der Explosion. Das war der einzige Grund, weshalb ich vorgeschlagen hatte, selbst die Fragen zu stellen. Er konnte es gerade nicht.

Ohne ein weiteres Wort betraten wir die Polizeidienststelle. Es roch nach staubigem Papier, kaltem Kaffee und geschmolzenem Käse. Ich wäre am liebsten wieder rückwärts hinausgestürmt, doch wir waren ja nicht zum Spaß hier.

»Nehmt doch erst einmal Platz, ich schaue nach, wer für den Fall zuständig ist. Das dauert einen Augenblick. Solange vielleicht eine Tasse Tee? Oder ein Glas Wasser?«

»Nimm bloß nicht den Tee …«, raunte mir Cole zu und ich musste mir das Lachen verkneifen, obwohl mir mittlerweile wirklich schlecht war.

»Wie war der Name des anderen Unfallopfers?«, fragte die Beamtin. Auf ihrem Namensschild stand Officer Nyla.

»Lucas Archer«, antwortete Cole mit Grabesstimme.

Die Augenbrauen der Polizistin hoben sich kaum merklich. »Ah! Ich erinnere mich. Du bist der Bruder, stimmts?«

Er nickte knapp.

Sie hackte etwas in ihre Computertastatur und trommelte mit den Fingernägeln auf dem Mousepad herum, weil der Rechner sich offensichtlich Zeit ließ.

»Officer Malony ist an dem Fall dran, der ist heute außer Haus. Kann ich …«

»Können Sie nachschauen, ob es Neuigkeiten gibt?«

Sie presste die Lippen zusammen. »Das ist – also, es wäre besser, ihr würdet noch mal wiederkommen, wenn Mr. Malony –«

»Nein!«, rief ich. »Das geht nicht. Ich muss es jetzt wissen. Weil … weil …«

»PTBS«, sagte Cole. »Sie hatte eine posttraumatische Amnesie und nun holt sie das Ereignis ein. Sie leidet jede

Er redete nicht von mir, auch wenn manches auf mich zutraf.

Mein Herz schleppte den Puls schwerfällig wie Felsbrocken durch meine Brust.

»Sie kann nicht abschließen, solange er … Sie verstehen.«

Officer Nyla warf mir einen bedauernden Blick zu. »Das tut mir furchtbar leid für dich. Ich würde dir ja wirklich gern weiterhelfen …« Sie hob in einer hilflosen Geste die Arme.

Cole war ein Eisklotz neben mir. Das konnte nicht alles sein.

Ich fing an, hektisch zu atmen. Nach kurzer Zeit flimmerte es vor meinen Augen.

»June, ist alles in Ordnung mit dir?« Falls Cole ebenfalls schauspielerte, hatte er die Rolle des besorgten Freundes echt drauf.

»Ich … Tüte!«, hechelte ich.

»Oje!« Officer Nyla sprang auf. »Du hast nur eine Panikattacke. Atme ruhiger!«

Ich kippte seitwärts vom Stuhl. Meine Schläfe knallte auf die Tischkante und begann sofort höllisch zu pochen. Ich gab trotzdem keinen Mucks von mir und lag reglos am Boden.

»Scheiße!«, schrie Cole. »Sie braucht Ananassaft! Das ist das Einzige, was ihr jetzt hilft.«

»Ich denke, ein Arzt –«

»ANANAS

O Gott. Ich war kurz davor, loszuprusten. Einzig, dass

Officer Nyla verließ den Raum und im Bruchteil einer Sekunde klebten Cole und ich vor dem Bildschirm und saugten die Informationen in uns auf.

Coles Gesichtsausdruck war grimmig. »Ich frag mich, warum die nicht damit rausrücken?«

»Wahrscheinlich, weil es dafür keine gesicherten Beweise gibt. Wohin gehst du?«

»Na, weg. Wir haben, was wir wollten.«

»Aber meine Ananas!«, sagte ich und legte mich demonstrativ wieder auf den Boden. »Die brauche ich!«

Cole rollte die Augen, kniete sich jedoch schicksalsergeben neben mich und tätschelte meinen Kopf.

Als kurz darauf Officer Nyla mit einem Tetrapack Apfelsaft in der Hand wieder hereinkam, fand sie ein rührendes Bild des besorgten Jungen und seiner psychisch gestörten Freundin vor.

Sie reichte mir den Saft. »Ananas war aus. Zum Glück geht es dir ja schon besser.«

»Ja, danke …«, sagte ich schwach und schlürfte einen Schluck aus der Packung.

»Ich empfehle euch, keine Racheaktionen zu unternehmen, für die ihr am Ende selbst mit einem Fuß im Gefängnis steht … haben wir uns verstanden?«, verkündete Officer Nyla plötzlich ernst. Auf unsere verdutzten Blicke hin, deutete sie stumm zur Decke. »Überwachungskameras. Ich hoffe, ich habe lange genug nach dem Saft gesucht …?«

Cole und ich lachten beide auf. Mein Gesicht begann zu glühen. Himmel, war mir das peinlich.

Die Polizistin hackte erneut etwas auf ihrer Tastatur herum und wir schlichen uns hinaus.