Ich wollte nicht, dass der Kuss endete, doch irgendwann fielen wir auseinander. Erhitzt, atemlos, mit aufgerissenen Augen und geschwollenen Lippen.
Was genau war hier gerade passiert?
Ich öffnete den Mund. Kein Wort kam heraus. Ihr schien es ähnlich zu gehen.
Schließlich nahm sie meine Hand. Im Vergleich zu ihrer zarten Puppenhand kam ich mir vor, als hätte ich Pranken. Sie hielt mich so fest, als fürchtete sie immer noch, ich würde davonlaufen. Ganz offensichtlich hatte June eine schlechte Menschenkenntnis, sonst wüsste sie, dass ich jetzt garantiert nirgends hinrennen würde. Außer vielleicht in mein Bett – mit ihr.
Wir schwiegen beide, bis wir uns an einem wackeligen Metalltischchen unter einer kanariengelben Markise gegenübersaßen. Eigentlich war es zu kalt, um draußen zu sitzen, und zusätzlich hatte es London-typisch zu nieseln begonnen. Aber sie hatte das überladene Innere des Cafés komplett ignoriert und mich auf den regenfeuchten Stuhl gedrückt. Vielleicht spürte sie, dass ich dort drinnen gerade keine Luft bekam.
June bestellte zwei Kaffee und zwei Eisbecher.
Ich hob eine Augenbraue, weil sie über meinen Kopf hinweg bestimmt hatte, was ich trinken und essen würde, obwohl ich insgeheim erleichtert war. Die Bedienung war mir zu bubbly gut gelaunt und ich war ihrem Blick ausgewichen und hatte die Fingernägel zwischen das Plastikgeflecht des Stuhls gebohrt, bis es mir das Blut abschnürte.
June zuckte mit den Schultern, eindeutig absichtlich – wie ich das sonst immer tat –, und grinste. »Du brauchst etwas Kaltes, damit du runterkommst, und etwas Warmes, weil es arschkalt ist. Etwas Bitteres, damit es etwas gibt, das noch bitterer ist als dein Leben. Und etwas Süßes …« Sie brach ab, schluckte, starrte mir auf die Lippen und lief rot an. Ich hätte beinahe gelacht, doch sie sah so niedlich in dem Moment aus, dass ich sie nur fasziniert anstarrte.
»Und warum Minz-Schoko?«, fragte ich wenig später, als ich mit unverhohlenem Horror in meinen Eisbecher linste, den Miss Bubbly uns mit »Enjoy Sweethearts!« (O Mann!) hingestellt hatte.
June runzelte die Stirn, starrte mit vollem Mund auf ihren Cup, als würde die Mischung aus Grün und Braun darin ihr eine Antwort verraten. Letztendlich war das sogar vorstellbar – bei June jedenfalls. Sie legte ja auch Tarotkarten und hielt mit ihrem Dad Séancen ab. Warum dann nicht Eiscreme-Lesen?
»Ich verstehe die Frage nicht«, sagte sie und widmete sich dem Inhalieren ihres Eises.
Vorsichtig tunkte ich den Löffel in das giftig aussehende Zeug. Mit höchster Skepsis leckte ich die Spitze ab, während mir überdeutlich bewusst war, dass June jede meiner Regungen adlerartig beobachtete. Sie rot werden zu sehen, gehörte zu meinen neuen Lieblingsbeschäftigungen, also leckte ich den Löffel besonders sorgfältig für sie ab, wofür sie mich prompt mit einem entzückenden Roséton in den Wangen belohnte.
»Sag einfach, dass du es magst.«
Oh. Vor lauter Flirten hatte ich gar nicht mitbekommen, dass ich fast den ganzen Eisbecher weggeputzt hatte. Aus Prinzip musste ich nun eigentlich widersprechen …
Ich schnaubte. »Es ist erstaunlich lecker. Eklig-köstlich irgendwie.«
June grinste zufrieden und lehnte sich zurück. »So widerlich, dass es schon wieder gut ist.«
»Erfrischend und …«, ich trank einen Schluck, »es passt auch gut zu Kaffee.«
»Es passt zu nichts, darum passt es zu allem.« June schielte auf den kleinen Karamellkeks neben meiner Tasse und ich schob ihn ihr zu, woraufhin sie ihn sich augenblicklich in den Mund stopfte wie ein ausgehungertes Dinosaurierbaby.
»Du bist komisch.« Dummerweise musste ich dabei lächeln, als hätte ich ihr etwas total Nettes gesagt.
»Selber komisch«, nuschelte sie am Keks vorbei. »Okay … zurück zum Ernst des Lebens. Jetzt, wo wir den ganzen Tag Zeit haben, wo fangen wir an? Trotzdem auf dem Polizeirevier?«
Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hatte ganz vergessen, weshalb wir hier saßen. Und dass ich eigentlich wütend war. Dass ich nicht mit Lucas’ Freundin flirten durfte. Und dass …
»Cole?«
Ihr Blick ruhte auf meiner Hand, die den Henkel der Kaffeetasse würgte.
»Polizei«, antwortete ich knapp. Ich wollte gern wütend auf sie sein, dass sie mich aus dieser Wohlfühlbubble herausgerissen hatte, aber streng genommen war ich viel zorniger auf mich selbst. Warum vergaß ich in ihrer Gegenwart ständig alles, was wichtig war? Meine Prinzipien hatten mich jahrelang am Leben gehalten. Der einzige Grund, weshalb ich heute noch hier stand, war, weil ich nicht weich wurde. Schmerz boxte ich weg, anstatt hinzusehen. Denn ich war nicht Lucas! Ich war eben nur Cole.
Mein Bruder meldete sich ungefragt in meinem Kopf zu Wort.
»Du bist immerhin nicht komplett ausgeflippt. Ohne sie würdest du jetzt heulend auf einer Parkbank sitzen und dir die blutigen Knöchel reiben.«
Ich zeigte dem Lucas in meinem Kopf den Finger, knallte einen Schein auf den Tisch und stand auf. Ich sah mich nicht nach June um. Sie würde schon kommen. Oder auch nicht.
Coles Reaktion war keine wirkliche Überraschung. Es erfüllte mich mit einer seltsamen Art von Stolz, ihn mittlerweile so gut zu kennen. Ich konnte vorhersehen, wann er sich daran erinnerte, dass Cole Archer aus Prinzip nicht lächelte. Obwohl seine Stimmungsschwankungen mich frustrierten, war ich froh, wenigstens nicht eiskalt von ihnen überrascht zu werden.
Lucas hatte mich gelehrt, nicht vorschnell zu urteilen. Und bei Cole war es eigentlich gar nicht schwer, ihn zu durchschauen.
Je mehr ich an seiner Fassade kratzte und der Anstrich aus selbsterklärtem Bad Boy bröckelte, desto deutlicher schimmerte der wahre Cole durch. Er schien eine große Last bezüglich seines Bruders mit sich herumzuschleppen. Ich konnte es nicht beschwören, doch vermutlich war sie schon vor Lucas’ Tod da gewesen und nun deutlich größer geworden. Er empfand sich als Lucas’ Verteidiger und Rächer. So wie ein Ritter, dessen Herr gefallen war. Natürlich fühlte er sich deshalb schuldig an Lucas’ Tod, weil er versagt hatte, ihn davor zu bewahren. Ganz egal, wie unsinnig das war.
Manchmal schien Cole einen winzigen Augenblick lang nicht an seine Schuld zu denken. Aber wehe, wenn er sich daran erinnerte. In dem Moment kamen die Schuldgefühle sichtbar mit zehnfacher Wucht zurück. Vielleicht, weil auch noch das Gefühl hinzukam, seinen Bruder vergessen zu haben.
Und dann biss, kratzte und attackierte er alles in Reichweite – wie eine verwundete Raubkatze.
Erst als die weißen Säulen am Eingang des Polizeireviers in Sicht kamen, verlangsamte Cole seine Schritte und wartete auf mich.
»Ich weiß nicht, ob es besser ist, dass ich rede oder du«, sagte er. »Ich bin Familie. Aber du bist ein Mädchen und dir vertrauen sie vielleicht eher, und wenn wir Glück haben, verplappert sich einer?«
»Lass es mich versuchen.« In seiner momentanen Stimmung traute ich mich nicht einmal, ihn zu berühren. Er wirkte immer noch wie eine Bombe kurz vor der Explosion. Das war der einzige Grund, weshalb ich vorgeschlagen hatte, selbst die Fragen zu stellen. Er konnte es gerade nicht.
Ohne ein weiteres Wort betraten wir die Polizeidienststelle. Es roch nach staubigem Papier, kaltem Kaffee und geschmolzenem Käse. Ich wäre am liebsten wieder rückwärts hinausgestürmt, doch wir waren ja nicht zum Spaß hier.
»Hallo, mein Name ist Juniper Jones, ich bin Opfer eines Unfalls mit Fahrerflucht«, ich schluckte, »bei dem auch ein Junge ums Leben gekommen ist, und ich wollte mich erkundigen, ob es mittlerweile Fortschritte in der Ermittlung gegen den Fahrer gibt?« Wie stark ich zitterte, merkte ich erst, als mich zunächst der besorgte Blick der diensthabenden Polizistin und dann Coles Hand in meinem Rücken trafen.
»Nehmt doch erst einmal Platz, ich schaue nach, wer für den Fall zuständig ist. Das dauert einen Augenblick. Solange vielleicht eine Tasse Tee? Oder ein Glas Wasser?«
»Nimm bloß nicht den Tee …«, raunte mir Cole zu und ich musste mir das Lachen verkneifen, obwohl mir mittlerweile wirklich schlecht war.
»Wie war der Name des anderen Unfallopfers?«, fragte die Beamtin. Auf ihrem Namensschild stand Officer Nyla.
»Lucas Archer«, antwortete Cole mit Grabesstimme.
Die Augenbrauen der Polizistin hoben sich kaum merklich. »Ah! Ich erinnere mich. Du bist der Bruder, stimmts?«
Er nickte knapp.
Sie hackte etwas in ihre Computertastatur und trommelte mit den Fingernägeln auf dem Mousepad herum, weil der Rechner sich offensichtlich Zeit ließ.
»Officer Malony ist an dem Fall dran, der ist heute außer Haus. Kann ich …«
»Können Sie nachschauen, ob es Neuigkeiten gibt?«
Sie presste die Lippen zusammen. »Das ist – also, es wäre besser, ihr würdet noch mal wiederkommen, wenn Mr. Malony –«
»Nein!«, rief ich. »Das geht nicht. Ich muss es jetzt wissen. Weil … weil …«
»PTBS«, sagte Cole. »Sie hatte eine posttraumatische Amnesie und nun holt sie das Ereignis ein. Sie leidet jede Nacht unter Albträumen und kann sich im Alltag nicht mehr konzentrieren. Hat aggressive Ausbrüche. Selbstverletzendes Verhalten … solche Dinge.« Er sah mich nicht an und zupfte den Ärmel seiner Jacke herunter.
Er redete nicht von mir, auch wenn manches auf mich zutraf.
Mein Herz schleppte den Puls schwerfällig wie Felsbrocken durch meine Brust.
»Sie kann nicht abschließen, solange er … Sie verstehen.«
Officer Nyla warf mir einen bedauernden Blick zu. »Das tut mir furchtbar leid für dich. Ich würde dir ja wirklich gern weiterhelfen …« Sie hob in einer hilflosen Geste die Arme.
Cole war ein Eisklotz neben mir. Das konnte nicht alles sein.
Ich fing an, hektisch zu atmen. Nach kurzer Zeit flimmerte es vor meinen Augen.
»June, ist alles in Ordnung mit dir?« Falls Cole ebenfalls schauspielerte, hatte er die Rolle des besorgten Freundes echt drauf.
»Ich … Tüte!«, hechelte ich.
»Oje!« Officer Nyla sprang auf. »Du hast nur eine Panikattacke. Atme ruhiger!«
Ich kippte seitwärts vom Stuhl. Meine Schläfe knallte auf die Tischkante und begann sofort höllisch zu pochen. Ich gab trotzdem keinen Mucks von mir und lag reglos am Boden.
»Scheiße!«, schrie Cole. »Sie braucht Ananassaft! Das ist das Einzige, was ihr jetzt hilft.«
»Ich denke, ein Arzt –«
»ANANAS!«
O Gott. Ich war kurz davor, loszuprusten. Einzig, dass Cole sich ehrlich verzweifelt anhörte, rettete unsere Scharade.
Officer Nyla verließ den Raum und im Bruchteil einer Sekunde klebten Cole und ich vor dem Bildschirm und saugten die Informationen in uns auf.
Coles Gesichtsausdruck war grimmig. »Ich frag mich, warum die nicht damit rausrücken?«
»Wahrscheinlich, weil es dafür keine gesicherten Beweise gibt. Wohin gehst du?«
»Na, weg. Wir haben, was wir wollten.«
»Aber meine Ananas!«, sagte ich und legte mich demonstrativ wieder auf den Boden. »Die brauche ich!«
Cole rollte die Augen, kniete sich jedoch schicksalsergeben neben mich und tätschelte meinen Kopf.
Als kurz darauf Officer Nyla mit einem Tetrapack Apfelsaft in der Hand wieder hereinkam, fand sie ein rührendes Bild des besorgten Jungen und seiner psychisch gestörten Freundin vor.
Sie reichte mir den Saft. »Ananas war aus. Zum Glück geht es dir ja schon besser.«
»Ja, danke …«, sagte ich schwach und schlürfte einen Schluck aus der Packung.
»Ich empfehle euch, keine Racheaktionen zu unternehmen, für die ihr am Ende selbst mit einem Fuß im Gefängnis steht … haben wir uns verstanden?«, verkündete Officer Nyla plötzlich ernst. Auf unsere verdutzten Blicke hin, deutete sie stumm zur Decke. »Überwachungskameras. Ich hoffe, ich habe lange genug nach dem Saft gesucht …?«
Cole und ich lachten beide auf. Mein Gesicht begann zu glühen. Himmel, war mir das peinlich.
Die Polizistin hackte erneut etwas auf ihrer Tastatur herum und wir schlichen uns hinaus.
June brodelte neben mir vor Lachen. »Das war das Peinlichste, was ich je tun musste! O mein Gott, ich werde nie wieder einem Polizisten in die Augen sehen können! Ananas! Im Ernst jetzt?«
»Spiel ruhig das brave Mädchen, Miss Jones. Wer hat denn mit dem ganzen Theater angefangen? Wahrscheinlich hattest du noch nie so viel Spaß im Leben«, versetzte ich. Innerlich war ich nicht halb so cool, wie ich tat. Auch bei mir rauschte Adrenalin durch die Adern und ich hätte am liebsten mit ihr gekichert und verschwörerische Blicke ausgetauscht – und sie geküsst … Aber das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Quatsch, das war überhaupt nie okay! Und einer von uns musste das Ziel im Auge behalten, anstatt hier wie ein Feuerwerkskracher Funken zu sprühen.
Um mich nicht anstecken zu lassen, wiederholte ich in meinem Kopf die Infos aus der digitalen Ermittlungsakte.
Silberner VW Golf mit Schaden an Stoßstange auf dem Parkplatz von West Norwood Cemetery aufgefunden. Besitzer war zu dem Zeitpunkt nachweislich in China auf Geschäftsreise. Freunde hatten Zugang zum Autoschlüssel. Näherer Freundeskreis aus sieben Personen. Sechs konnten durch Alibi ausgeschlossen werden. Endgültige Alibiüberprüfung bei Michael Norton, Hillingdon Ave, Sevenoaks, ausstehend.
Da hatte zwar noch mehr gestanden, in der Kürze der Zeit hatte ich mir jedoch nur den letzten Namen und den Wohnort gemerkt.
»Es fährt gleich ein Zug nach Sevenoaks«, sagte June, immer noch aufgekratzt. Sie schloss die Zugauskunfts-App auf ihrem Handy. »Komm!« Und schon schnappte sie meine Hand und wir rannten durch die Straßen. Da wir es eilig hatten, fühlte ich mich, als wären wir Fische, die als einzige gegen den Strom schwammen. Ganz London schien auf den Beinen zu sein und dann war auch noch die Straße gesperrt. June nahm eine Abkürzung durch den Park, in dem ich als Junge mit Lucas zusammen Cricket gespielt hatte. Zum Glück blieb mir keine Zeit für Erinnerungen. Schon stürmten wir durch den bogenförmigen Eingang des Bahnhofs, die steinernen Stufen hinunter, stolperten durch die Ticketschranke und hetzten zum richtigen Gleis.
Selbst im Zug gelang es June kaum, still zu sitzen, obwohl wir beide atemlos und verschwitzt von unserem Sprint durch Covent Garden waren. Eine Weile beobachtete ich sie amüsiert, bis ich es nicht mehr mitansehen konnte. Ich umschloss ihre Hände mit meinen und steckte sie mir zwischen die Knie.
»Du kannst dich entspannen, die Show ist vorbei. Aber ich muss schon sagen: Du warst echt verdammt überzeugend! Vielleicht solltest du im Theaterklub doch lieber schauspielern, statt das Bühnenbild zu machen?«
»Das hat Lu–« In dem Moment fiel vor ihrem Gesicht ein Schleier herunter. Alle Energie war auf einmal gedämpft. Ihr Mund lächelte noch, aber es wirkte verkrampft und maskenhaft. »Es war schon eine Herausforderung für mich, dass ich mich überhaupt eingeschrieben habe. Ich bleibe auf jeden Fall hinter der Bühne, so viel steht fest.«
Es fühlte sich nicht direkt wie eine Lüge an, jedoch auch nicht wie die ganze Wahrheit. So, als ob sie etwas verschwieg, um nicht zu lügen. Das war meine Spezialität, darum erkannte ich es wahrscheinlich direkt. Und ich wusste, wie wenig es bringen würde, sie darauf anzusprechen, also nickte ich. »Stimmt, du zeichnest ja gerne.«
Sie gab ein zustimmendes Geräusch von sich, entzog mir ihre Hände und sah dann aus dem Fenster. Etwas war in den letzten Sekunden passiert. Das zarte Band zwischen uns war gerissen – und ich hatte keine Ahnung, weshalb.
»Was sagen wir zu dem Typen?« Ich versicherte mich mit einem kurzen Blick über die Schulter, dass wir immer noch allein im Abteil waren. »Wir können kaum einfach zu ihm hin spazieren und fragen, was er am 16. März gemacht hat. Oder ob er einen Jungen totgefahren hat«, wechselte ich das Thema.
June antwortete nicht und ich musste sie erst antippen, ehe sie aus ihren Grübeleien auftauchte.
»Was? Ja, genau.«
»Also, was sagen wir zu ihm?«
Sie überlegte wieder eine Weile, doch dieses Mal war ich mir ziemlich sicher, dass sie sich tatsächlich mit der Frage beschäftigte. Diesen konzentrierten Ausdruck kannte ich von Lucas. Er dachte immer über das nach, was er sagen wollte. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich blubberte grundsätzlich jeden Bullshit direkt aus dem Bauch heraus. Darum bekam ich auch oft Ärger.
»Lass ihn uns zunächst beobachten, vielleicht kommt mir eine Erinnerung, wenn ich ihm gegenüberstehe, schließlich war ich näher dran als du. Gut möglich, dass ich ihn gesehen habe, bevor …«
»Ja.« Ich war froh, dass sie den Satz in der Luft zerfasern ließ. Heute Morgen im Auto hatte ich ihr alles erzählt, was ich damals der Polizei mitgeteilt hatte. Jedes Detail, das mir vom Unfalltag im Gedächtnis geblieben war. Die Farbe des Autos. Von wo es gekommen war. Dass ich glaubte, der Fahrer sei über den Randstein gefahren und hätte Lucas deshalb erwischt.
Ich erinnerte mich genau daran, wie ich auf dem Revier ausgesagt hatte. Eiskalt, vollkommen emotionslos war ich mir vorgekommen, als ich sachlich und abgehackt Fakten von mir gab. In mir hatte ich jedoch so laut geschrien …
Erstaunlicherweise war mir das Erzählen bei June leichter gefallen. Trotzdem hatte ich bewusst ihren Blick gemieden. Falls sie mich mitleidig angesehen hätte, wäre ich nur daran erinnert worden, dass ich hier von meinem Bruder sprach, der als zerbrochene Puppe auf dem Asphalt gestorben war.
Plötzlich roch ich wieder das Blut.
Stopp!
Jetzt nicht!
Bloß nicht daran denken!
Doch schon flimmerte es mir vor den Augen, mein Atem beschleunigte sich und mein Herz setzte zum Sprint an.
Der Moment, in dem Cole den Bezug zur Realität verlor, war, als hätte jemand einen Lichtschalter hinter seinen Pupillen ausgeknipst. Ich hatte es genau gesehen.
Und dann wurde er kreidebleich. Ein feiner Schweißfilm überzog seine Haut und sein Blick huschte rastlos durch das Abteil, wie um einen Ausweg zu finden. Einen Fluchtweg aus seinem Kopf.
»Cole«, sagte ich. Er nahm mich eindeutig nicht wahr. »Hey!«
Fahrig zerrte er an seinem Kragen.
Ich wiederholte seinen Namen. Lauter dieses Mal, und dabei schüttelte ich ihn ein wenig an den Schultern. Keine Reaktion. Sollte ich ihm eine runterhauen?
Probehalber zwickte ich ihn in den Arm, doch er zuckte nicht einmal zusammen.
Ich nahm sein Gesicht in die Hände und redete beschwörend auf ihn ein. Er sah durch mich hindurch, als sei ich ein Geist. Es war schrecklich.
Lucas kam mir in den Sinn. Ging es ihm manchmal auch so? Versuchte er, mit mir zu kommunizieren, aber ich hörte und sah ihn nicht?
Die Vorstellung war zu grausam. Schnell schloss ich die Augen und drückte meine Stirn an Coles.
Meine Nase gegen seine Nase.
Meinen Mund auf seinen.
Einige Sekunden klebten wir reglos aneinander, doch dann, ganz zart, begannen seine Lippen sich zu bewegen. Ein kurzes Zucken. Er spannte die Unterlippe. Öffnete den Mund.
Und dann saß ich auf seinem Schoß und küsste ihn, wie ich noch nie in meinem Leben geküsst hatte.
Er klammerte sich an mich und umschlang meine Taille mit beiden Armen. Zu spüren, dass er wieder da war, ließ mich ungewollt aufschluchzen.
Seine Zungenspitze strich zärtlich über meine Unterlippe. Ich war hungrig nach seinem Kuss, ausgehungert nach ihm, darum presste ich mich mit einem sehnsüchtigen Stöhnen fester an ihn.
Jemand räusperte sich. »Getränke oder Snacks für euch Lovebirds? Und den Rest lebt ihr besser zu Hause aus …«
Ohne Cole, der sich widerwillig von mir löste, hätte ich die Servicekraft ignoriert. Cole schüttelte den Kopf, ohne den Blick von mir zu nehmen. Als der Wagen mitsamt der leise und schief vor sich hin summenden Frau im nächsten Abteil verschwunden war, griff Cole sofort nach meinem Nacken und fuhr fort, mich zu küssen, bis der Zug in den Bahnhof einrollte.
Jetzt verstand ich, warum diese fucking Psychotherapie nicht das geringste bisschen gegen meine Panikattacken geholfen hatte! Hätte ich früher geahnt, dass ich dafür knutschen musste, hätte ich … Uah! Nein, nicht den komischen Therapeuten mit seinen nach nassem Schaf müffelnden Wollpullovern.
June! Ich hätte wissen sollen, dass June zu küssen meine Medizin war. Und ich würde nicht damit aufhören, selbst wenn ich eine Überdosis davon einnahm. Ich würde nie wieder etwas anderes tun, als mit June zu knutschen.
»Wir sind da …«, murmelte June an meinen Lippen.
»Hm …«, machte ich. Es war mir ehrlich gesagt scheißegal.
»Cole …«
»Hm …«
June zog den Kopf zurück, was ihr sichtbar schwerfiel, weil ich sie festhielt. Sie lächelte.
Junes Lächeln war das schönste auf der ganzen Welt. Jedes Mal traf es mich wie ein blendender erster Sonnenstrahl nach einer einsamen, endlosen Nacht.
»Komm jetzt, sonst fährt der Zug weiter.«
Ich seufzte schwer und folgte ihr. Auf dem Bahnsteig versuchte ich erneut, sie zu küssen. Sie wich mir kichernd aus. »Später! Jetzt klären wir erst einmal ein Verbrechen auf.«
Das wirkte.
Schlagartig bröckelte mir das Grinsen von den Lippen. June sah es, doch sie sagte nichts dazu.
»Ich habe eine Frage …« Sie druckste ein wenig herum. Da ich sie abwartend ansah, holte sie tief Luft. »Was, denkst du, würde Lucas davon halten, dass wir seinen … Mörder suchen?«
Ich versteifte mich neben ihr, doch sie sprach schnell weiter.
»Würde er das wollen? Was meinst du?«
»Natürlich will er das!«, brach es aus mir heraus. Es gelang mir immer noch nicht, von Lucas in der Vergangenheit zu sprechen, was June sicherlich längst bemerkt, jedoch nie kommentiert hatte. »Es ist mir auch egal, wenn er das nicht möchte. Was will er dagegen unternehmen? Mich heimsuchen?« Ich lachte. Es hörte sich absolut gruselig an.
Auch June schauderte. Vielleicht war ihr nur kalt. Ihr Kirschmund, der eben herrlich gelächelt hatte, dessen Unterlippe noch von meinen Küssen glänzte, verzog sich zu einer blassen, geraden Linie.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und suchte die Adresse des Typen raus. Es war nicht weit. Wir gingen zu Fuß vom Bahnhof aus dorthin. Schweigend.
Immer wieder verspürte ich den Drang, sie zu berühren, den Arm um sie zu legen oder sie mit einem Witz zum Lachen zu bringen. Sie stapfte dumpf brütend neben mir her und starrte höchstens auf ihre Navigations-App.
Jetzt war mir ebenfalls kalt.
Obwohl es sich nicht einmal um einen Kilometer Fußmarsch handelte, zog sich der Weg durch die eisige Stimmung zwischen uns wie Kaugummi in die Länge.
Endlich hielt sie an und deutete auf ein Wohnhaus. Augenblicklich musste ich an unsere Stadtvilla und an Junes Cottage denken. Beide Häuser wurden auf eine Art geliebt und – wenn auch auf gegensätzliche Weise – gepflegt. Diese Baracke hingegen wurde nicht gemocht. Sie sah aus, als würde sie sich selbst hassen.
Es lag nicht einmal an dem abblätternden Putz oder der herabhängenden, rostzerfressenen Regenrinne. Sondern an den dunklen, leeren Fenstern, die halb blind in den matschigen Garten hinausstarrten.
Auf einmal war ich befangen. Würde ich das durchstehen? Oder June? Sie sah ebenfalls weniger entschlossen aus als heute Morgen. War das tatsächlich das, was Lucas gewollt hätte? Und ich? Wollte ich das?
In dem Moment ging die Tür auf.
Ich hätte schwören können, June hielt ebenso wie ich die Luft an, als der Mann heraustrat.
Seine Haut war gelblich blass, durchzogen von blauen, geschlängelten Adern. Nur wenige Haare bedeckten an manchen Stellen flaumartig seinen Kopf. Ein Hemd schlackerte an zu dürren Armen und spannte über einem prall gefüllten Bauch.
Sein Blick war genauso tot wie der des Hauses … bis er mich streifte.
Der Mann riss die Augen auf und krachte gegen die Türzarge, eine Hand in seine Brust gekrallt. Sekunden später sank er schwer atmend auf die morschen Treppenstufen, die unter seinem Gewicht knarzten.
June erwachte schneller aus ihrer Starre als ich. Kaum dass ich mich regen konnte, kniete sie schon neben ihm. »Alles in Ordnung? Soll ich Ihnen aufhelfen?«
Er sagte nichts und starrte mich an, als wäre ich ein Gespenst.
In dem Moment verstand ich. Und auch June ließ den Mann los, als wäre er plötzlich ansteckend.
»Erkennen Sie ihn?«, fragte sie und hörte sich eiskalt an.
Sein Mund klappte auf und zu wie der eines Karpfens an Land.
»Na los!«, fauchte June.
In dem Moment tauchte ein jüngerer Mann in der Kleidung eines Krankenpflegers hinter ihm auf. »Na, na, was machen Sie denn am Boden, Mister Norton …«, tadelte er ihn gutmütig. »Wenn Sie sich von den jungen Leuten verabschiedet haben, fahren wir jetzt ins Hospiz. Brauchen Sie noch etwas?«
Der Mann schüttelte den Kopf und ließ sich von dem Pfleger schwerfällig auf die Beine helfen.
Vielleicht besetzte mich in dem Moment wirklich der Geist meines Bruders oder ich wusste einfach, wie unglücklich er wäre, wenn ich das jetzt nicht aufklärte.
Ich öffnete den Mund.
»Er ist mein Zwillingsbruder«, sagte Cole mit einer Stimme, die sich kaum vom Rascheln des Windes in den Blättern abhob. »Der Junge, den Sie totgefahren haben, ist mein Bruder Lucas.«
Norton, der sowieso schon aussah, als wäre er ziemlich krank, japste. Davon schien Cole allerdings nichts mitzubekommen.
»Er ist fast schon ekelerregend romantisch. Also total übertrieben. Ich meine, er hat diesem Mädchen Liebesgedichte geschrieben, von Hand!« Er zeigte auf mich, als wäre ich der Inbegriff des Übels. In dem Moment fühlte ich mich auch so. Vor allem, als der Pfleger vollends heraustrat und mich neugierig musterte.
»Jeder mag ihn, weil Lucas der netteste, weichherzigste Mensch ist, den man sich vorstellen kann. Er hört immer zu, jeder darf sich bei ihm ausweinen, es wird ihm nie zu viel. Er ist halt zu lieb, deshalb wird er immer nur ausgenutzt. Von Mädchen, die ihn als ihren besten Freund bezeichnen und dann fallen lassen. Von Jungs, die hinter seinem Rücken irgendwelche absurden Gerüchte über ihn in die Welt setzen. Niemand kennt ihn so wie ich …« Eine Träne rann Coles Wange hinunter. Ich glaubte nicht, dass er sie bemerkte. Auch Norton hatte angefangen zu weinen und vor meinen Augen verschwamm das Bild dieser Szene ebenfalls.
»Niemand braucht ihn so wie ich.« Coles Stimme brach auf der letzten Silbe. »Sie haben mir alles genommen. Alles!«
Norton wollte etwas sagen, doch Cole drehte sich um und ging davon. Ich warf dem Pfleger einen Blick zu. Er nickte beruhigend. Wozu, wusste ich nicht. Ich war froh, dass er Cole nicht unterbrochen hatte.
»Bereit, Mister Norton? Haben Sie sich vom Haus verabschiedet?«
In dem Moment verstand ich.
Alles.
Die Polizei, die den Fall nicht weiterverfolgt hatte. Und auch, warum Cole am Ende nicht gesagt hatte, was ihm ins Gesicht geschrieben stand:
Sie haben mir meinen Bruder geraubt, ihm die Chance auf die erste Liebe, auf eine Hochzeitsnacht, auf Kinder, auf ein Leben genommen! Dafür schmoren Sie in der Hölle!
Der Pfleger nahm Mr. Norton wieder am Arm, doch er machte sich los.
»Du …«, sagte er zu mir, seine Stimme trocken und kränklich wie seine Haut. »Es war der Tag, an dem der Arzt mir sagte, dass ich nicht mehr lang hab. Einen Monat bestenfalls. Ich hab geweint und deshalb die Straße nicht gesehen. Und dann sprang mir der Junge vors Auto. Als es gekracht hat … bin ich einfach weitergefahren, weil ich dachte … ich hab … ich muss eh sterben.«
Es wäre gewiss richtig gewesen, dem Mann etwas Beschwichtigendes zu sagen, nur waren meine Lippen wie zugeklebt.
»Einen Monat. Und jetzt lebe ich immer noch. Bestimmt ist das meine Strafe …« Er schluchzte auf. »Bitte sag ihm Dankeschön, dass er gekommen ist.«
Der Knoten in meinem Hals zog sich zusammen und ich bekam kaum mehr Luft.
Der Pfleger half Mr. Norton in einen Rollstuhl und fuhr ihn zu dem wartenden Krankenwagen, den ich bei unserer Ankunft vollkommen übersehen hatte.
Ich sah zu, wie der kranke Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht eingeladen wurde. Die Türen knallten metallisch zu.
Als der Wagen losfuhr, stand ich immer noch da wie versteinert. Äußerlich war ich eine Statue, unfähig, auch nur einen Finger zu regen. Doch in mir tobte ein Sturm.
Ich wollte zu Lucas.
Ich wollte zu Cole.
Ich wollte Norton sagen, dass es mir leidtat.
Was? Was tat mir leid? Vielleicht war es doch alles meine Schuld? In meiner lückenhaften Erinnerung war ich getaumelt, als Lucas nach mir gegriffen hatte. Zwar glaubte Cole, Norton sei auf den Bordstein gefahren, aber so war es nicht. Ohne mich wäre Lucas nicht auf die Straße getreten. Ohne mich wäre Lucas wahrscheinlich nicht einmal zu dem Zeitpunkt an diesem Ort gewesen … Norton wäre an der Stelle vorbeigefahren und Lucas würde immer noch in seinem Zimmer sitzen und Gedichte schreiben. Cole wäre nicht so verbittert.
Cole!
Wieder einmal riss mich der Gedanke an ihn aus der Starre. Ich musste zu ihm. Meine Füße trugen mich wie von selbst zu dem kleinen Bahnhof, doch der Bahnsteig war leer.
Ich suchte die Vorhalle, den Kiosk und den Parkplatz ab. Als er nirgends zu finden war, stieg ich in den Zug nach London. Es kam mir unwirklich vor, dass ich weniger als eine Stunde zuvor auf einem ähnlichen orange gestreiften Sitz auf Coles Schoß gesessen und ihn leidenschaftlich geküsst hatte.
Und jetzt?
Ich hätte mit ihm gehen sollen, als er losgerannt war. Warum war ich stehen geblieben und hatte diese schreckliche Geschichte mitangehört? Norton hatte Fahrerflucht begangen, aber schuld an Lucas’ Tod war nur ich. Wieso hatte ich die Wahrheit ausgraben müssen?
Für Lucas. Damit er weiterziehen konnte …
Der jähe Schmerz in meiner Brust ließ mich keuchend einatmen. Was, wenn es das jetzt gewesen war? Wenn ich heimkam und Lucas fort war und mir aus dem Telefonhörer wieder nur Stille antworten würde?
Das würde ich nicht aushalten. Nicht so. Nicht jetzt! Nicht, bevor ich mich nicht entschuldigt hatte! Ich musste doch mit Lucas darüber sprechen! Über alles. Über Cole …
Ich raufte mir aufgrund meiner eigenen Dummheit die Haare. Ich konnte Lucas nicht von Cole erzählen, das würde ihn schrecklich verletzen und das war nicht fair. Er litt schon so unerträglich, weil er … gestorben war.
Durch meine Schuld.
Ich musste Cole suchen.
Zitternd zog ich das Handy aus der Tasche. Weder ein Anruf noch eine Nachricht von ihm. Mein Finger schwebte über dem grünen Telefonhörer. Wahrscheinlich wollte er nicht mit mir sprechen, aber ich musste wenigstens wissen, ob er okay war.
Eine Migräneattacke kündigte sich mir mit klopfenden Schmerzen in den Schläfen an.
Erst Lucas.
Dann Cole.
Ich schaltete das Handy auf lautlos und steckte es tief in meinen Rucksack.