Den Türgriff in der Hand, verkrampfte Cole sich neben mir. Er sah mich entschuldigend und fast schon bittend an.
»Ich sage nichts, versprochen!«, flüsterte ich.
»Darum gehts nicht. Ich weiß nicht, wie er auf dich reagiert.«
»Oh …« Mir wurde ein bisschen übel. »Okay. Ich verstehe. Damit muss ich wohl klarkommen.«
»Wir können auch woanders …«
»Nein!« O Gott. Hatte ich das wirklich gesagt? Was ich gemeint hatte war: Ja! Bitte!!! Lass uns unbedingt wegrennen und in einem Café die Augen vor der Tatsache verschließen, dass ich schuld am Tod deines Bruders bin und dass dein Vater mich hasst, und zwar zu Recht!
»June …«, sagte Cole.
Die Tür wurde ihm von innen aus der Hand gerissen.
Mrs. Archer stand da und musterte uns erschrocken.
Ich sah die nächste Szene vor mir, wie sie uns einen Fluchtweg durch den Garten buddelte und …
»Ah, schön, dass du zu Besuch kommst, Juniper. Kommt doch rein, ihr erfriert da draußen ja noch.«
Huh! Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.
Cole seufzte und nahm meine Hand. Er drückte sie einmal kurz, wohl um mir Mut zu machen, dann führte er mich in die Küche.
Seine Mutter stellte sich währenddessen vor. »Mein Name ist Sun-Ah. Und das ist Coles Vater.« Sie deutete auf einen hochgewachsenen Mann. Er war attraktiv, geschäftsmäßig gestylt. Einer, der scheinbar alles im Griff hatte, selbst seine Frisur – wie ich neidvoll anerkannte. Doch irgendwie schien etwas an ihm zerknittert zu sein. Eilig erinnerte ich mich daran, ihn nicht zu eindringlich anzustarren. Das war Leuten ja generell unangenehm, nur vergaß ich es manchmal. Ich traute mich nicht, ihm die Hand zu schütteln, also nickte ich nur sehr tief.
»Bryce, das ist Juniper Jones. Ihr Vater war bei der Beerdigung«, erklärte Sun-Ah. Innerlich stöhnte ich über die vorsichtige Umschreibung.
»Sie war jedenfalls nicht da …« Hatte ich gedacht, Coles Stimme wäre kühl, dann war Bryce Archers Stimme eine Eiszeit.
Ich biss mir auf die Lippe. Es stimmte ja. Ich war nicht da gewesen.
»Sie konnte nicht kommen, weil sie im Krankenhaus lag, Dad.« Cole hielt meine Hand so fest, dass ich genau spürte, wie er bebte.
»Und du bringst sie mit nach Hause? Was denkst du dir bloß? Ach, was frag ich, du tust immer nur, was du willst.«
»Bryce, bitte!«, zischte Sun-Ah.
In meinem Mund sammelten sich Worte. Es waren giftige, verletzende Pfeile. Erklärungen. Verzeihungsbitten. Und Wuttornados.
»Ja … ich tue, was ich will. Ich kümmere mich nicht darum, was andere brauchen. Dafür habe ich ein exzellentes Vorbild, nicht wahr, Dad?«
»Cole!« Sun-Ah sah aus, als würde sie gleich in Tränen auszubrechen.
»Wenn du nur ein Mal ein wenig mehr so wärst wie dein Bruder …«, versetzte Bryce.
In der daraufhin entstandenen unangenehmen Stille lag ein günstiger und zugleich der schlechteste Moment, mit der Garagensache herauszuplatzen. Doch ich hatte Cole geschworen, nichts zu sagen. Darum biss ich die Zähne fest zusammen, um jedes Wort dahinter einzusperren.
»Was denn? Darf man in diesem Haus keine Wahrheiten mehr aussprechen?«, fauchte Cole. »Na super! Wieso reden wir denn überhaupt noch, wenn wir uns nichts mehr zu sagen haben?«
Mittlerweile schien es mir, als würden Cole und ich uns gegenseitig stützen.
Sun-Ah beschäftigte sich intensiv mit der Kaffeemaschine.
Bryce streckte ihr seine leere Tasse entgegen. Ohne mich anzusehen, sagte er: »Mach vor ihr keine Szene, Sohn! Du blamierst uns.«
»Und wenn schon?« Coles Stimme überschlug sich. »Bei ihr zu Hause darf man lachen, obwohl jemand gestorben ist.«
Die Augen des Vaters wurden bei Coles Worten schmal, sodass sie fast nur noch Schlitze waren. Ich hatte das dringende Bedürfnis wegzurennen. Er knallte die, nun volle, Kaffeetasse so fest auf den Tisch, dass der Inhalt sich sprenkelnd und schwappend über das makellose Tischtuch verteilte.
»So? Also ist ihr Vater besser als ich? Ist es das, was du mir sagen willst? Dann geh doch! Frag ihn, ob er dich aufnimmt!«
»Bryce!« Coles Mutter war außer sich.
Es fühlte sich an, als würde sich in dem Moment ein Riss durch mein Inneres ziehen. Haarfein zuerst, dann wurde er weiter und größer, bis er mich mittendurch spaltete. Ich hörte mich reden. Keines meiner Worte war geplant.
»Cole ist bei uns immer herzlich willkommen. Nicht nur, weil wir zutiefst in Ihrer aller Schuld stehen durch das Unglück, das durch mich geschehen ist. Sondern auch, weil wir Cole lieben. So, wie er ist. Cole ist ein wunderbarer Mensch, ein warmherziger, sensibler, liebenswerter Junge. Wir haben ihn gern bei uns. Er hat für uns gekocht und sich um mich gekümmert, als ich krank war. Mein Vater vertraut ihm und ist froh darüber, dass ich einen tollen und liebevollen Freund habe. Allerdings braucht Cole keinen anderen Vater. Er hat bereits einen.«
In der Küche war es still.
Das Ticken der Wanduhr kam mir überlaut vor.
Bryce Archer stand auf und verließ das Haus.
Sun-Ah sank fast in sich zusammen. Sie hielt sich am Tresen fest und lächelte mich zittrig an. »Tee?«
»Nein!« Cole packte meine Schultern und schob mich auf einen freien Küchenstuhl. »Meine Freundin braucht ein Riesenglas von dem ekligen Zeug, das Lucas immer trinkt. Kannst du mir helfen, Eomma? Ich weiß nicht, wie man das macht.«
Meine Freundin.
Selbst im Nachhinein wurden mir die Knie weich, jedoch erstaunlicherweise mehr von Coles Wortwahl als von der Konfrontation mit seinem Vater.
Sun-Ah fing sich schneller als gedacht und begann eifrig, Gewürze zusammenzusuchen. Dabei quasselte sie ununterbrochen auf Koreanisch auf Cole ein, der brummte, den Kopf schüttelte und nickte, sonst jedoch nichts dazu sagte. Ich beobachtete, wie er die richtigen Zutaten schon heraussuchte, bevor seine Mutter den Mund öffnete. Wieder einmal bewies Cole seine Feinfühligkeit. Er beschäftigte seine Mum, damit sie sich nach dem Streit mit dem Vater besser fühlte.
Sun-Ah sah mich an. »Oh, entschuldige. Es ist unhöflich von mir, dich auszugrenzen. Oder sprichst du koreanisch?«
»Aniyo«, sagte ich und biss mir auf die Zunge, als Cole mich überrascht ansah. Das hatte Lucas mir beigebracht. Er nickte kaum merklich.
Seine Mutter freute sich sichtlich darüber, dass ich zumindest nein auf Koreanisch sagen konnte.
Kurz darauf stand ein dampfender Becher vor mir, aus dem würziger Duft aufstieg. Ich schnupperte. Das roch besser, als ich es vermutet hatte.
Cole verdrehte die Augen. »Du siehst schon aus wie Lucas, der macht auch immer ein Gesicht wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum, wenn er das Gesöff da vor sich stehen hat.«
Sun-Ah sah von Cole zu mir mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen Lachen und Weinen feststeckte.
Unsicher, wie ich mich verhalten sollte, nahm ich einen ersten vorsichtigen Schluck. »Mhh! Richtig lecker!«
Sun-Ah zwinkerte. »Geheimrezept!«
Cole wirkte mit einem Mal nachdenklich. »Wen würde das beim Geisterdinner wohl anlocken?«
»Geisterdinner?« Sun-Ah beugte sich etwas vor.
»Ach …«, ich lachte nervös auf. »Das ist nur ein Spiel, das mein Dad und ich manchmal machen.«
»Und Cole hat … mitgespielt?« Sie sah aus, als hätte ich ihr erzählt, ihrem Sohn würde ein zweiter Kopf wachsen.
»Äh … ja?«, antwortete ich vorsichtig.
»Es ist wirklich lustig, Eomma. Du solltest mal mitmachen. Bestimmt würde es dir gelingen, König Sejong herzubeschwören.«
Seine Mutter klatschte einmal in die Hände. »Großer Mann!«
Cole neigte den Kopf zu mir. »Er hat das koreanische Alphabet erfunden.«
Seltsamerweise hatte ich durch ihr vertrautes Miteinander einen Déjà-vu-Moment. Nur dass dieses Mal ich die Außenseiterin war, der die Besonderheiten erklärt werden mussten. Ich kicherte in meinen Becher.
Cole sah glücklich aus und auch seine Mutter wirkte, als wäre ihr ein Bleigewicht von den Schultern gefallen, seit ihr Mann weggegangen war. Kurz kam mir der Gedanke, dass ich diese harmonische Stimmung mit einem Satz zerstören könnte. Ich hatte es Lucas versprochen. Genauso hatte ich Cole geschworen, ihn den Zeitpunkt bestimmen zu lassen. Irgendwann würde ich ihm sagen müssen, dass Lucas derweil quasi in der Leitung festhing, aber dieser Augenblick war noch nicht gekommen.
»Ein Schritt nach dem anderen, June!«, empfahl mir Lucas in meinem Kopf.
Als ich aus meinen Gedanken auftauchte und die Tasse absetzte, hatte Cole den Raum verlassen. Sun-Ah musterte mich neugierig. Hatte sie mich etwas gefragt? Oje. Jetzt dachte sie bestimmt, ich wäre total verpeilt oder unhöflich.
»Entschuldigung«, sagte ich. Damit meinte ich so ziemlich alles.
Entschuldigung, dass ich am Tod Ihres Sohnes mitschuldig bin.
Entschuldigung, dass ich einfach in Ihre Küche platze und Ihren Zimtvorrat wegsaufe.
Entschuldigung, dass ich Coles Vater verärgert und die Stimmung versaut habe.
Entschuldigung, dass ich manchmal vor mich hin träume.
Zwar sagte ich nur dieses eine Wort laut, dennoch hatte ich das Gefühl, Sun-Ah verstand mich. Sie nickte. Trotzdem haftete ihrem Lächeln immer ein trauriger Schatten an. Wie ein Schleier, der sich nicht abziehen ließ.
»Juniper, ich möchte mich bei dir bedanken.«
»Was? Wofür denn?« Mir spritzte fast der letzte Schluck Pumpkin-Irgendwas aus der Nase. Das wäre jetzt echt die Krönung gewesen.
»Seit er dich kennt, hat Cole sich verändert. Er war immer schon sehr zynisch und pessimistisch. Seit Lucas nicht mehr da ist, war es unmöglich, überhaupt noch an ihn heranzukommen. Durch dich ist er anders. Er lacht wieder. Er kämpft … ich meine … Zuletzt war er so gleichgültig, wenn sein Vater ihn …«
Ich hob das Kinn. »Mrs. Archer, ich muss Ihnen etwas sagen.«
Da war es.
Ich hatte es nicht glauben wollen und trotzdem war diese winzige Stimme in meinem Hinterkopf nicht verstummt. Das fiese Stimmchen, das mich gewarnt hatte, June nicht zu vertrauen.
Ich hatte den Raum verlassen, um zu überprüfen, ob sie ihr Wort hielt. Da war ich nicht einmal fünf Minuten draußen und sie brach es schon.
Ich hätte es wissen sollen!
Ich Vollidiot! Warum schaltete ich denn nie mein Gehirn ein?
»Ich muss Ihnen etwas sagen.« Es hallte in mir nach, als sei ich eine Kathedrale und sie hätte es in mich hineingebrüllt.
Am besten stürmte ich sofort in die Küche und warf sie raus. Und dann war ich für alle Zeiten kuriert. Von mir aus konnte sie sich täglich vor ein Auto werfen, es würde mich nicht im Geringsten interessieren.
Wären nur meine Beine nicht plötzlich aus Gelatine …
Ich hing im Türrahmen und kam keinen Millimeter vom Fleck. Ein letztes Fünkchen Hoffnung nagelte mich dort fest.
»Du kannst mir alles sagen, nur raus damit, Juniper. Keine Scheu.«
Ich atmete nur noch flach. Eomma war wie immer zu gutgläubig. Sie sah nicht, dass sie ihr Herz für eine Schlange öffnete.
»Es ist ein bisschen peinlich …«, murmelte June. Na, eine gute Schauspielerin war sie immerhin. Sie lief sogar rot an. Toll. Ganz hervorragend. Und ich würde ihr gleich noch Standing Ovations geben, oder was? Warum zum Teufel tat ich nichts?
Eomma tätschelte ihre Hand. »Ich war auch einmal jung.«
»Ihr Mann täuscht sich in Cole!«, platzte sie heraus.
Da war es. Jetzt gleich sagte sie es.
»Inwiefern?«, fragte Eomma.
Mir blieb die Luft weg. Vor meinen Augen flirrten Lichtpunkte.
»Cole denkt nicht nur an sich selbst. Eigentlich denkt er sogar ständig an andere. Er kümmert sich mehr darum, wie es Ihnen oder mir geht, als um sein eigenes Wohl. Er hat mich verarztet, obwohl er kein Blut sehen kann. Er hat mich gesund gepflegt, obwohl er mich gehasst hat. Er beschützt Sie ständig davor, verletzt zu werden. Jeder Gedanke gilt zunächst den anderen, bevor er an sich selbst denkt. Selbst wenn es ihn verletzt, kümmert er sich doch zuerst um andere.«
Was?
»Ich weiß das wohl, Juniper …«
»Ja, natürlich, Sie sind seine Mutter und ich behaupte auch gar nicht, dass ich Ihren Sohn irgendwie besser kenne als Sie … Das meinte ich nicht. Ich wollte nur sagen, wie ich Cole sehe. Für mich ist es unbegreiflich, dass sein Vater nicht unendlich stolz ist, einen Sohn zu haben, der so sensibel, talentiert und warmherzig ist …«
Ich konnte Eomma nicht sehen, weil sie mir den Rücken zudrehte, doch ich hörte an ihrer Stimme, dass sie lächelte, als sie sagte: »Juniper … Bitte entschuldige die absolut peinlichste aller Elternfragen. Kann es sein, dass du dabei bist, dich in meinen Sohn zu verlieben?«
Junes Ohrläppchen nahmen die Farbe von reifen Tomaten an.
»Ich weiß, ich sollte nicht …«, flüsterte June, »aber dafür ist es längst zu spät.«
Meine Beine erinnerten sich schlagartig daran, dass sie aus Knochen und Muskeln bestanden. Ich stapfte mit drei großen Schritten in den Raum, schnappte June und zog sie vom Stuhl.
»Eomma!«, schimpfte ich. Weder sie noch ich konnten uns ein Grinsen verkneifen. Falls ich auch nur halb so verstrahlt aussah wie meine Mutter, sollte ich jetzt dringend meinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle kriegen. Doch dann sah ich June an, die mittlerweile in sämtlichen Rotschattierungen leuchtete.
Ich führte sie aus der Küche in mein Zimmer. Jede Sekunde, in der ich sie nicht umarmen konnte, war jetzt zu lang.
Wir schafften es kaum, die Tür zu öffnen, da zog ich sie bereits an mich. Kichernd stolperten wir über die Schwelle und küssten uns gegenseitig das Lachen von den Lippen. Es fühlte sich an, wie beschwipst zu sein. Betrunken an June.
Sie sagte etwas, was ich nicht verstand, weil sie dabei meinen Hals mit winzigen Küsschen übersäte. Normalerweise hätte ich es ignoriert, doch bei ihr schien mir jedes Wort zu wichtig, als dass ich eines davon überhören wollte.
»Hm?«, machte ich und schob sie sanft von mir. Einen Millimeter bloß, mehr Abstand war nicht drin.
»Tut mir leid …«
»Was? Dass du mich da grade beschrieben hast wie einen Halbgott? Stimmt, du solltest mich mindestens für einen Gott halten …«, scherzte ich aufgekratzt.
»Nein … Dass ich dir wehgetan hab.«
»June …« Jetzt schob ich sie doch etwas weiter von mir, denn ich musste ihr dabei in die Augen sehen. »Du verletzt mich nicht nur. Du heilst mich.«
Du heilst mich.
Wer immer behauptet hatte, Lucas sei der Poet in dieser Familie, hatte sich getäuscht. Lucas zitierte Dichter. Cole war selbst einer.
Langsam begann ich die Dynamik zwischen den Brüdern zu begreifen. Sie hatten sich beide immer für den jeweils Schlechteren gehalten und krampfhaft versucht, sich voneinander abzugrenzen, um nicht verglichen zu werden. Wenn einer ein Interesse entwickelte, war es für den anderen dadurch tabu. Während Lucas Poesie und sanfte Klänge für sich beanspruchte, war Cole der Adrenalinjunkie. Doch ob das wirklich ihrem Wesen entsprach, zeigte sich erst jetzt, wo sie getrennt waren. Mir fiel ein, dass auch Lucas manchmal wehmütig geklungen hatte, wenn er erzählte, wie Cole furchtlos durchs Leben spazierte, als gäbe es kein Morgen und keine Sorgen.
Ganz genau so küsste Cole mich in dem Moment. Als wäre dieser Kuss das Letzte, was er je tun würde. Die absolute Konzentration auf mich, die Intensität, mit der er mich ansah und jeden Zentimeter meiner Haut berührte, als sei ich aus Staub und könnte im nächsten Augenblick unter seinen Fingerspitzen zerfallen … All das war überwältigend für mich. Ich schloss die Augen …
… und hörte auf zu denken.