»Ist Lucas einverstanden damit, dass ich dich küsse?«, fragte Cole mit seinen Lippen an meinem Schlüsselbein.
Ich konnte nicht anders, als zu kichern. »Was, wenn ich Nein sage?«
»Dann tut es mir echt leid für meinen Bruder, ich tus trotzdem.«
Ich hielt ihn mit den Händen an den Wangen davon ab, seine Kuss-Ameisenstraße weiter abwärts fortzusetzen, und wartete, bis er mich ansah. Jedes Mal, wenn sein Blick mich traf, breitete sich ein heftiges Prickeln in meinem Bauch aus. Schon wieder wurde mir ganz heiß. Würde ich jetzt dauerhaft wie eine Chilischote herumlaufen, weil Cole mich ansah? Ich räusperte mich. »Lucas war anfangs nicht happy darüber …«
»Nicht happy bedeutet …?«
»Er war –« Ich überlegte, wie ich es nett ausdrücken sollte.
»Stinkend eifersüchtig?«
»Ja.« Ich seufzte schwer. Es plagte mich immer noch, auch wenn Lucas gesagt hatte, dass ihn Coles und meine Beziehung nicht mehr störte. Ich fühlte mich trotzdem, als würden wir ihn betrügen.
»Ich war auch so was von beschissen eifersüchtig …«, riss Cole mich aus meinen trüben Gedanken.
»Auf wen?«
Er sah mich bedeutungsschwer an und zog die Augenbrauen hoch. »Auf die Queen von England? Was glaubst du wohl?«
»Du konntest mich doch nicht leiden!«, rief ich. »Und das ist noch nett ausgedrückt.«
Cole lag auf mir. Jetzt stützte er sich auf die Ellenbogen, um mir ernst ins Gesicht blicken zu können. »Hat Lucas dir je erzählt, wie er dich das erste Mal gesehen hat?«
Ich schüttelte den Kopf. Das Einzige, woran ich mich erinnerte, war, dass er mich mit einer Sonnenfinsternis verglichen hatte …
»Okay, dann pass mal gut auf! Lucas und ich waren auf dem Weg zum Basketballplatz, ein bisschen Dampf ablassen. Also eigentlich musste nur ich Dampf ablassen, Lucas ist bloß mitgekommen, damit ich nicht … in Schwierigkeiten geriet … also Streit anfing. Lucas war so was wie meine Nanny, weißt du?«
Ich wartete ruhig ab. Das mit der Nanny würden wir ein anderes Mal besprechen können. Lucas hatte nämlich eine ganz andere Sicht auf die Beziehung der Brüder. Für ihn war Cole keineswegs der kleine Tunichtgut, auf den er aufpassen musste. Und so wie Cole sich benahm, war eher er die Nanny von Lucas.
»Wir sind an der Bushaltestelle vorbeigekommen. Du hast da gesessen und ein Comic gezeichnet. Ich glaub, ich hab mich in dich verliebt, bevor ich dein Gesicht gesehen habe. Du warst so was von vertieft in deine Zeichnung und sahst ganz besonders aus und so dunkel und einsam, aber auch gleichzeitig total … ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. So als ob du total okay mit deiner Einsamkeit wärst. Ich weiß noch, wie ich stehen blieb, um mir das Bild einzuprägen. Ich fühlte auf einmal wahnsinnig viel, es war erschreckend und unerträglich … und schön.« Er machte eine Pause. Cole schien es nicht gewöhnt zu sein, über seine Gefühle zu reden. Er wirkte erschöpft. Dennoch sprach er weiter. »Das ist kein besonders guter Basketballplatz, wir sind eigentlich immer woanders spielen gegangen. Ab diesem Tag wollte ich trotzdem nur noch dort hin. Lucas hat natürlich bemerkt, dass ich einen anderen Grund vorgeschoben hab, und war schrecklich neugierig. Er war echt so nervig, aber ich wollte dich irgendwie nicht mit ihm teilen, keine Ahnung, warum. Ich wollte nicht, dass er dich sah und vielleicht etwas sagte, was dich in meinen Augen entzaubern würde. Solange du mein Geheimnis warst, hast du nur mir allein gehört. Er hätte dich nur für eine meiner Eroberungen gehalten und …« Er sah mich erschrocken an.
Ich spielte die Empörte. »Wie bitte, Cole? Ich bin nicht deine erste Freundin?«
»Doch!«
»Wers glaubt.« Ich lachte und schlug ihm spielerisch vor die Brust.
Er hielt meine Hand dort fest und presste sie gegen sein Herz. »Du bist meine erste Freundin. Ich meine, ich hatte ein paar … also …«
»Kurzzeitfreundinnen?«, schlug ich vor. Es versetzte mir nur einen kleinen Stich. Ich hatte ja selbst bereits einen Freund gehabt und da war es einfach okay, dass Cole auch schon andere Mädchen geküsst hatte.
»Ultrakurzzeit …«, murmelte er. »Eher so Wiewardeinnamenochgleich?.«
»Juniper Jones. Ich hoffe, du vergisst ihn nicht«, antwortete ich scherzhaft, woraufhin er mir eine leichte Kopfnuss verpasste.
»Jedenfalls hat Lucas dich dann doch entdeckt. Er wusste natürlich nicht, dass ich dich schon seit Wochen aus der Ferne angehimmelt hab. Und dann hat er sich in dich verknallt! Ich war … Ich meine … Warum musstest es ausgerechnet du sein?« Er spielte gedankenverloren mit meinen Fingern. »Ich dachte immer, Lucas findet irgendwann einmal ein süßes, liebes, fröhliches Mädchen. Sein Spiegelbild. Eine, mit der er Spaziergänge im Schnee machen kann und der er täglich Blumensträuße pflückt und bei jedem Sonnenaufgang an sie denkt …«
»Er hat gesagt, ich sei eine Sonnenfinsternis.«
Cole gab ein undefinierbares Geräusch von sich und schloss die Augen. »Ich liebe meinen Bruder wirklich mehr als alles andere auf der Welt …«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Aber?«, hakte ich vorsichtig nach. Er wirkte verletzt.
»Vergiss es, ich will nicht schlecht über ihn reden.«
»Du weißt, ich kann ihn auch selbst fragen – und dann ist es ihm peinlich!«, wagte ich einen Vorstoß. Ob Cole mir mittlerweile glaubte, wusste ich nicht. Vielleicht hätte ich das besser nicht angesprochen …
Cole seufzte und legte seinen Kopf auf meine Brust. Ich streichelte sein Haar. Schwarze, seidige Strähnen glitten durch meine Finger. Es war sogar noch weicher, als es aussah.
»Ich dachte immer, Lucas wüsste nicht, dass ich dich zuerst gesehen habe. Und ich meine … ich weiß ja, ich hatte deshalb kein Vorrecht auf dich … Nur, dass er das zu dir gesagt hat, ist echt eine Arschloch-Aktion!«
»Inwiefern?«, fragte ich leise. Ich hatte ein ungutes Ziehen im Bauch.
»Als ich dich noch aus der Ferne beobachtet habe, war ich zu voll von Gedanken und Gefühlen. Es musste irgendwie raus, aber ich hatte echt Schiss davor, dich anzusprechen. Ich dachte immer, wenn ich das tue, zerstöre ich diese perfekte Vorstellung von dir. Wenn du mich angesehen und dann irgendwie angewidert geguckt hättest … Egal.«
Ich musste fast lachen. Cole war mit Abstand der schönste Junge, den ich je gesehen hatte. Wie in aller Welt kam er auf die verrückte Idee, ich hätte ihn abstoßend finden können?
»Also hab ich Tagebuch geschrieben. Ich dachte eigentlich, ich hätte es gut versteckt, außerdem hab ich meinem Bruder vertraut, dass er es niemals lesen würde. Na ja … dann hat er dich ja entdeckt. Er hat nur noch von dir gesprochen und jedem erzählt, wie besonders und schön und talentiert du wärst. Seine Entdeckung!«
Allmählich kam ich mir vor wie eine seltene oder ausgestorbene Tierart. Unglaublich, dass sie sich echt darüber gezankt hatten, wer mich nun zuerst gesehen hatte!
»Er hat Gedichte gesammelt, die zu dir passten, unzählige Liebesbriefe geschrieben …« Cole seufzte schwer. »Natürlich musste ich dich aufgeben. Wenn mein Bruder ein Mal im Leben verliebt ist, ist diese Person für mich tabu. Ich zerstöre eh immer alles, was ich anfasse.« Er schluckte schwer.
Der Widerspruch brannte mir auf der Zunge, allerdings spürte ich überdeutlich, dass ich Cole jetzt reden lassen musste, ohne Unterbrechungen.
»Es war nicht einfach. Wirklich nicht. Doch wenn ich mir etwas vornehme, ziehe ich es durch. Meine Methode war, nach Gründen zu suchen, weshalb ich dich nicht mochte, und mir alles an dir schlechtzureden. Dadurch hatte Lucas freie Bahn mit seinem Lächeln und seinem Liebesbrief. Nur der Moment, in dem er ihn dir überreichte, war echt …« Er stockte. Mein T-Shirt wurde nass an der Stelle, wo seine Träne versickerte.
»Sie sieht aus wie eine Sonnenfinsternis, dunkel, unerträglich schön, brutal! Das war der Anfang von einem Songtext, den ich über dich in mein Tagebuch geschrieben habe. Ich hätte nie gedacht, dass Lucas es lesen würde. Offenbar habe ich mich da getäuscht. Doch das ist noch nicht einmal das Schlimmste daran. Es tut weh, dass ich auf eine Chance mit dir verzichtet habe, obwohl er dich mir mit voller Absicht weggenommen hat. Ich hätte mich auch nach seinem Tod zurückgehalten, ich habs ja versucht!« Er schniefte.
»Ich weiß …«, sagte ich leise. »Ich auch. Aber weißt du, ich glaube, selbst wenn Lucas nicht gestorben wäre, wären es immer du und ich gewesen.«
»Wieso?« Er hob den Kopf und blickte mich aus feuchten Augen an.
»Ich hätte Lucas nie auf diese Art lieben können. Bei jedem Telefonat mit ihm fühlte ich mich so wohl und geborgen …«
»Das ist seine Superwaffe. Er macht das mit jedem!«
Ich lächelte. »Ja, das kann er unglaublich gut. Er ist der beste und liebste Freund, den ich mir vorstellen kann. Trotzdem hatte ich nie dieses spezielle Herzklopfen. Bei dir jedoch … Cole, selbst als ich dich das erste Mal sah, an … an dem Tag … Ich erinnerte mich daran, noch bevor ich mich an Lucas erinnerte. Ich weiß noch genau, wie ich dich ansah und du mich. Ich bin rückwärts getaumelt, weil mein Herz auf einmal wusste …« Mittlerweile bebte auch meine Stimme vor unterdrückten Tränen. Ich schluckte sie tapfer hinunter. »Und dann, als du mir an der Bushaltestelle begegnet bist, hab ich nicht einmal dein Gesicht gesehen, aber du warst wie so ein Magnet für mich. Ich konnte dich nicht vergessen, obwohl ich es mir gewünscht hab …«
Er blieb eine Weile still.
»Weißt du, dass ich gar nicht mit dem Bus fahre?«, fragte er schließlich.
»Wie bitte?«
»Ich wohne ja nicht weit entfernt. Ich kam immer dorthin, um dich zu sehen. Es war wie ein Fluch, weil es so wehtat und weil ich dich eigentlich gehasst habe. Oder es mir zumindest eingeredet habe …«
»Lucas versucht nicht mehr, uns zu trennen«, sagte ich und ignorierte die Bushaltestellen-Info, obwohl sie mich innerlich schmunzeln ließ. »Er war erst eifersüchtig und fühlte sich betrogen, dass ich den lebenden Zwilling vorziehe. Und ich habe mich fürchterlich schlecht deshalb gefühlt – irgendwie tue ich das immer noch. Dabei geht es gar nicht um lebend oder tot. Es geht um Cole oder Lucas. Ich hätte mich immer für Cole entschieden.«
»Aber Lucas ist perfekt!«, krächzte Cole. Ein letztes, trotziges Aufbegehren.
»Er ist nah dran.« Ich lächelte. »Wenn er perfekt wäre, hätte er nicht versucht, seinem geliebten Bruder die Flamme auszuspannen. Und ihr dann noch die gestohlenen Gefühle aus deinem Tagebuch als seine eigenen verkauft. Ich liebe Lucas, allerdings finde ich das nicht okay. Er hat doch eigene Worte! Warum hat er deine benutzt?«
»Sprich ihn nicht darauf an, okay? Ich lebe. Und ich habe … dich. Er muss sich nicht noch schlechter fühlen.«
Ich dachte kurz nach. Dann nickte ich. »Abgemacht.« Schnell bettete ich Coles Kopf wieder auf meinem Brustkorb, wo er meinem Herzschlag lauschen konnte. »Da ist trotzdem noch eine Sache …«
»Will ich sie hören?«, murmelte Cole träge. Er wickelte eine Haarsträhne von mir um seinen Zeigefinger. Ich kannte die Geste, genau das tat ich immer mit der Telefonschnur, während ich mich mit Lucas unterhielt. Es war beruhigend, wieder und wieder dieselbe Bewegung durchzuführen.
»Lucas und ich sind der Meinung, dass er nur noch hier ist, weil er etwas zu erledigen hat.«
Cole lag da wie ein Stein. Vielleicht atmete er gar nicht, doch sein Finger wickelte sich tiefer in meine Haare ein. Es ziepte, aber ich sagte nichts.
»Ich dachte, es wäre, dass die Fahrerflucht aufgeklärt werden müsste. Doch das war nicht der Fall. Lucas denkt …«
»O mein Gott! Ich kenne Lucas. Bestimmt denkt er etwas Romantisch-Absurdes wie: Er muss uns seinen Segen geben. Darum hat er am Ende zugestimmt, dass du mich wieder sehen darfst. Stimmts?« Cole klang leicht aggressiv, was ich ihm nicht verübeln konnte. Ich war schon froh, dass er überhaupt mit mir über Lucas sprach, als würde er mir glauben.
»Nicht ganz.« Irgendwie wagte ich es in dem Moment nicht, ihn anzufassen. Es schien mir beinahe überheblich, ihn beruhigen zu wollen, als gäbe es keinen Grund, dass er sich aufregte, doch das stimmte ja nicht. Er durfte wütend sein! »Lucas denkt, er muss die Sache mit dem Garagenbrand klären.«
»Na, das hat er ja jetzt geschafft«, sagte Cole schroff.
»Hat er nicht«, warf ich vorsichtig ein. »Es geht nicht darum, es vor dir auszusprechen. Es geht darum, dass dein Umfeld die Wahrheit erkennt und aufhört, dich auch nach all den Jahren als Sündenbock zu missbrauchen.«
»June … das ist echt überhaupt kein Thema, ich –«
»Sorry, wenn ich dich unterbreche. Du kannst ja gern darauf bestehen, dass es dir nichts ausmacht. Ich kann und will dich nicht vom Gegenteil überzeugen. Aber dein Bruder weiß, dass es absolut ungerecht ist, wie dein Vater dich behandelt. Und Lucas kann keinen Frieden finden, solange das nicht aufgeklärt ist.«
Cole atmete zitternd aus. »Du hast es versprochen …«
»Das habe ich und ich halte mein Versprechen. Es ist auch egal, ob ich es sage oder du. Es geht nur darum, dass etwas zurechtgerückt wird, was vor vielen Jahren aus dem Gleichgewicht geraten ist.«
Cole schwieg.
Ich sagte ebenfalls nichts, weil ich genau wusste, dass er diese Nachricht erst einmal verdauen musste.
Irgendwann stand er auf und machte Musik an. Heavy Metal dröhnte aus den Lautsprechern. Er stellte es wieder aus. Dann tappte er aus dem Zimmer. Kurz darauf kam er mit einem Plattenspieler zurück. Er hockte sich auf den Boden und stöpselte das Gerät ein.
»Lucas sagt, Vinyls klingen besser als alles andere. Mal sehen, ob er recht hat.«
Es knackte und rauschte ein wenig aus den Lautsprechern. Die Nadel senkte sich auf die Schallplatte und Otis Redding sang mit gebrochener Stimme über Herzschmerz. Ich kniete mich hinter Cole hin und umarmte ihn. Schluchzer schüttelten ihn. Auch ich musste weinen. Ich küsste seinen Nacken und hielt ihn fest, während er hilflos vor dem Plattenspieler kauerte.
»Ich vermisse ihn so sehr!«
»Erzähl mir von ihm«, fiel mir schließlich etwas ein, was ich sagen konnte.
Cole schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Lucas ist … Lucas war …« Er heulte auf. »Ich schaff es immer noch nicht, in der Vergangenheit von ihm zu sprechen!«
»Dann lass es.« Für mich war es sowieso seltsam, da Lucas mit mir ja noch sprach. Meistens zumindest.
»Er ist der Traumschwiegersohn. Warmherzig, immer am Lächeln, freundlich zu allen. Oft ist er auch verträumt und dadurch schusselig. Das macht ihn aber nur liebenswerter. Er sieht gut aus, spielt Gitarre, ist sportlich … Du hättest den perfekten Gentleman zum Freund haben können …«, endete er bitter.
Mir lagen zu viele Worte auf der Zunge.
Zum Glück sprach Cole weiter. Damit hatte ich gar nicht mehr gerechnet.
»Er hat auch einen nicht ganz so engelsgleichen Charakterzug. Man kann es nicht direkt lügen nennen, doch Lucas verschweigt gern unangenehme Wahrheiten und tut dann so, als wäre das zu deinem Schutz, dabei ist er selbst nur zu feige, sich einer Diskussion oder einem Streit zu stellen. Viele finden, das ist clever. Aber ich mag es lieber, wenn man mit mir direkt ist.« Cole starrte auf den Boden. Wahrscheinlich war es ihm peinlich, etwas Negatives über seinen Bruder zu sagen. Ich fand es aber gar nicht schlimm. Erstens kannte ich diesen Charakterzug von Lucas bereits und zweitens machten seine Fehler ihn für mich realer. Denn einer, der immer nur perfekt ist, beunruhigte mich.
»Allein schon, dass er dir gesagt hat, du dürftest mich nicht mehr treffen. Das kann man sich bei ihm erst nicht vorstellen, aber ich kenne ihn. Neunundneunzig Prozent der Zeit ist Lucas makellos. Nur dieses eine Prozent … da ist er ein richtiger kleiner Egoist. Es ist sicherlich nicht falsch, dass er ab und zu an sich selbst denkt anstatt immer nur an andere. Trotzdem wäre es mir lieber, er würde sich nicht selbst als das reine Engelchen verkaufen.« Erschrocken sah Cole mich an. »Das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Wieso? Weil man über Tote nicht schlecht redet? Ich meine … ich wette, er würde dir zustimmen. Niemand sieht sich selbst ausschließlich positiv. Ich bin mir sicher, Lucas weiß, dass seine Handlungen nicht immer das Gelbe vom Ei waren. Das weiß doch jeder von uns. Und wenn wir keine Fehler haben, wie sollten wir uns dann noch verbessern? Ich glaube, ich mag den Lucas, der auch ein bisschen Teufelchen ist, viel lieber als den reinen Engel.«
»Er hat mein Tagebuch gelesen und meine Gedanken als seine verkauft …«, murmelte Cole. »Ich fasse es nicht!«
»Zeigt das denn nicht, dass er selbst auch manchmal an sich gezweifelt hat? Und auch in dieser Garagensache –«
Cole hob die Hand. »Noch nicht. Ich muss etwas fragen.«
»Bitte.« Ich gab ihm Raum, sodass er sich nicht von mir bedrängt fühlte. Er rückte jedoch sofort auf, als bräuchte er die Berührung zur Sicherheit.
»Wo ist er jetzt? Geht es ihm gut? Kann er … erzähl mir davon, wenn es geht. Okay? Bitte!«
Ich lächelte. Cole öffnete sich der Idee, dass die ganze Angelegenheit stimmen könnte. »Er ist, wenn wir telefonieren, meistens in seinem Zimmer, sagt er.«
»Und wenn ihr nicht telefoniert?«
Das war der Punkt, an dem ich am liebsten einen auf Lucas gemacht hätte. Hoffnung glomm in Coles Blick auf, dass es seinem Bruder gut ging und er vielleicht noch in der Nähe war. Wenn ich ihm doch das Wissen über die Albträume verschweigen könnte, um ihn nicht zu verletzen … Aber Cole hatte gesagt, er bevorzugte die knallharte Wahrheit.
Ich seufzte. »Anfangs war er wie in einem Dauerschlaf und er wurde nur wach, wenn ich ihn angerufen habe. Doch je mehr er realisiert hat, dass er tot ist, desto öfter war er auch außerhalb meiner Anrufe wach. Und das ist der Grund, weshalb Lucas unbedingt weiterziehen muss …«
»Wieso? Was ist dann?« Cole sah mich so eindringlich an, dass ich ihn niemals hätte belügen können – auch nicht zu seinem eigenen Schutz.
»Er beschreibt es als Albtraum aus Nichts. Es würde sich anfühlen, als würde sich alles außer seinem Geist auflösen und zu nichts zerfallen. Eine ewige, gähnende Leere. Und es nimmt zu.«
Cole wurde kreidebleich. »Was würde passieren, wenn er dort bleibt?«
»Ich bin keine Expertin in … solchen Sachen, weißt du? Die Antwort darauf kann dir wahrscheinlich niemand mit Sicherheit geben. Wenn ich mutmaßen müsste, würde ich sagen, er wird zu einem unruhigen Geist … So eine Art … Poltergeist?« Ich hörte mich total bescheuert an.
»Dann lass uns –« Er stand schon auf, als ich ihn am Handgelenk zurückhielt.
»Er kann es jetzt kontrollieren. Neuerdings spukt er sogar ein wenig. Das ist nicht wirklich beruhigend, ich weiß, und ich denke auch nicht, dass wir uns ewig Zeit lassen sollten, weil es ihn quält und wir nicht wissen, wie lange er durchhält. Dennoch bin ich mir sicher, er schafft es noch so lange, bis du bereit bist.«
Cole vergrub das Gesicht in den Händen. »Warum nur? Warum muss er sich sogar vom Tod aus noch in mein Leben einmischen? Weshalb denkt er, immer alles besser zu wissen, sogar, wie, ob und wann ich meinen Eltern die Wahrheit erzähle?«
»Er glaubt, es ist die große Ungerechtigkeit, die durch seine Schuld entstanden ist, die ihn davon abhält, weiterzuziehen.«
»Ich wünschte, er könnte mir das selbst sagen.« Cole zupfte an einem ausgefransten Teil seiner Jeanshose herum.
»Vielleicht geht das ja auch irgendwann. Das fände ich total schön. Im Moment spricht er nicht einmal mehr mit mir.«
»Warum das denn nicht? Ich dachte, das Nichts …«
»Er hat mir eine Pflichtaufgabe gestellt, und bevor ich die nicht erfüllt habe, darf ich nicht mit ihm telefonieren. Anscheinend nimmt er das ziemlich ernst und zieht es knallhart durch.«
Cole ließ den Kopf gegen sein Bettgestell sinken. »Okay. Das ist es also, was er mit gnädigen Lügen meint. Jetzt fühle ich mich total scheiße, wenn ich abwarte.«
»Das verstehe ich. Dann denk daran, dass er deine Gefühle geklaut hat.«
»Das hat er! Doch am Ende sind wir beide zusammen und er –«
»Das ist nicht deine Schuld.«
»Muss Liebe immer wehtun?«, fragte Cole verzweifelt. »Warum tut man sich das an, wenn es alle doch nur unglücklich macht?«
»Ich habe keine Ahnung … Ich glaube, mein Pops würde sagen, dass sich jede Sekunde mit meiner Mama gelohnt hat, auch wenn es ihm am Ende das Herz gebrochen hat, sie zu verlieren. Einmal hat er zu mir gesagt: Wenn wir nicht leiden, wissen wir nicht, wie viel wir geliebt haben.«
»Das ist bei meinen Eltern nicht der Fall …«, überlegte Cole laut.
»Vielleicht ist dein Dad nur supertraurig und kann es nicht richtig rauslassen?«
»Ich bin doch auch supertraurig!«, schrie Cole auf einmal. »Ich bin am traurigsten! Lucas ist meine zweite Hälfte und nun bin ich ein unvollständiger Mensch für den Rest meines Daseins. Alles, was ich in meinem bisherigen Leben getan habe, war auf Lucas abgestimmt. Es fühlt sich an, als hätte ich keine einzige Entscheidung nur für mich getroffen. Kampfsport – weil Lucas mal in der sechsten Klasse eins auf die Nase bekommen hat und ich ihn damals nicht verteidigen konnte. Ich habe Schlagzeug gespielt, weil Lucas schon akustische Gitarre spielte. Dieses ganze Harter-Kerl-Getue und der ganze Mist interessiert mich eigentlich gar nicht richtig. Ich hab immer geglaubt, Lucas zu beschützen wäre meine Lebensaufgabe. Und was bin ich jetzt? Ein arbeitsloser Schutzengel mit einem riesigen Blutfleck auf der Weste!«
Was ich vor allem hörte, war, dass Cole immer versucht hatte, sich von Lucas abzugrenzen. Und wann, wenn nicht jetzt würde es ihm gelingen, eine eigenständige Persönlichkeit zu sein. Das war er natürlich schon immer gewesen, ohne es selbst zu erkennen. Ich sagte nichts. Aber ich wusste, dass ich ihn auf seinem Weg bestärken würde, wenn er entdeckte, dass er nicht Lucas’ Anhängsel sein musste, um ein besonderer Mensch zu sein. Irgendwann würde Cole er selbst und auf seine ganz eigene Art wunderbar sein.
Coles Handy klingelte. Ich sah ihm an, dass er es ignorieren wollte, aber nach einem Blick auf das Display nahm er das Gespräch an. Er gab abgehackte Ein-Wort-Antworten, während er beim Telefonieren rastlos durch den Raum tigerte. Seine Körpersprache zeugte von Unbehagen und ich wunderte mich, warum er das Gespräch überhaupt angenommen hatte.
»Okay, danke für die Info. Wann ist die Beerdigung?«, sagte er und sah mich an, während er der Antwort lauschte. Und schließlich, ohne mich aus den Augen zu lassen: »Wir kommen.«
Er legte auf und pfefferte das Telefon auf seinen Kleiderhaufen. »Das war das Hospiz von Mr. Norton. Er ist der –«
»Ich weiß, wer er ist. Ist er …«
Cole nickte. »Heute Morgen. Er hat wohl ganz friedlich im Bett gelegen.«
»Warum rufen die dich an?«
Er kratzte sich am Kopf. Es schien fast so, als wäre ihm etwas peinlich. »Ich war noch mal dort. Mit meinem Kumpel. Der Mann war echt total fertig, ich habs irgendwie nicht übers Herz gebracht, ihn so sterben zu lassen, also sind wir hingefahren und haben eine halbe Stunde mit ihm geredet …«
»Im Ernst, Cole? Das ist –«
»Es war rein egoistisch. Ich wollte mir nicht irgendwann was vorwerfen müssen.«
Ich verkniff mir ein Lächeln und schwieg. Cole wusste selbst ganz genau, dass es ziemlich großherzig von ihm gewesen war, dem Mann ein wenig das Gewissen zu erleichtern. Aber es war einfach nicht seine Art, sich damit zu brüsten.
Also schlang ich die Arme um ihn und sagte: »Ich finde dich toll, Cole Archer.«
Er lachte ungläubig. »Weil ich dich auf eine Beerdigung schleife? Denn dieses Mal kommst du mit, ich halte Shun nicht noch mal bei so einem Event aus!«
Wie konnte man nur dermaßen zerrissen sein? Wenn ich June ansah, wollte ich sie am liebsten in die Arme schließen und nie wieder loslassen. Gleichzeitig wünschte ich mir, ich wäre ihr nie begegnet. Hätte ich mich nicht in die mysteriöse Zeichnerin verliebt, wäre Lucas vielleicht nie auf sie aufmerksam geworden und wäre heute noch am Leben. Manchmal – aber für den Gedanken hatte ich mich sofort geschämt – in schwachen Momenten, hatte ich mir sogar gewünscht, sie wäre an Lucas’ Stelle gestorben. Den Wunsch hegte ich nun nicht mehr. Jetzt wünschte ich mir nur noch, es wäre niemand gestorben und ich könnte Lucas selbst sagen, wohin er sich seine beschissene postmortale Erpressung stecken konnte! Denn obwohl ich wusste, dass er es nur gut meinte, hasste ich ihn ein wenig dafür, dass er June und mich dazu zwang, diese stinkende uralte Brühe wieder aufzuwärmen. Und wann hatte ich überhaupt aufgehört, June als Halluzinierende abzustempeln? Sie hatte vorhin ja sogar selbst gesagt, dass Lucas gerade nicht mehr mit ihr sprach … praktischerweise jetzt, wo ich es gern überprüft hätte. So ein Zufall! Wieder schwankte ich wie ein Schiff auf hoher See. Für June. Gegen June.
»Weißt du, dass einmal bei einem Rage-Against-The-Machine-Konzert dreihundert gegen die Band protestierende Polizisten aufgetaucht sind? Die Jungs haben den Cops dreihundert Donuts gegen die Langeweile spendiert«, unterbrach June meine Grübeleien.
Ich schlug die Hände vors Gesicht, das immer noch feucht von den Tränen war.
»Das soll heißen, ich hab furchtbaren Hunger …«
Etwas brodelte in mir. Es fing in meinem Bauch an und kribbelte sich dann seinen Weg nach oben, bis ich es schließlich zwischen meinen Fingern herauslachte. Immer noch lachend, fuhr ich herum und küsste sie.
Es stimmte. Sie wäre nie dauerhaft Lucas’ Freundin geworden, weil ich sie mir irgendwann zurückerobert hätte. Hundertprozentig.
Halbherzig schob sie mich von sich und boxte mir spielerisch gegen den Arm. Ihre Augen funkelten. »Soll mich das jetzt satt machen?«
»Ich bin eben auch hungrig«, knurrte ich und zeigte meine Zähne. »Ausgehungert!«
»Nach …? Ah!« Sie kreischte, als ich mich auf sie stürzte und sie sanft in den Hals biss.
Ihr Kichern schmeckte wie bunte Zuckerperlen auf meinen Lippen. Ich konnte nicht genug davon kriegen.
Heulen, lachen, Zweifel und Sicherheit. Dieses Mädchen machte das alles mit mir – und ich ließ sie.
Auf eine Art genoss ich es, endlich wieder etwas anderes zu fühlen als diesen ziellosen Hass, den Frust und die Trauer, die mich ständig einhüllten und meine Handlungen fernsteuerten. Auch wenn ich auf den Schmerz gern verzichtet hätte, der durch sie wieder viel lebhafter geworden war. Doch er blieb nicht. Sie lachte ihn weg.
Ich tauchte unter der Bettdecke hervor. »Zucker!«
»Ehrlich? So gut schmeckt das?«
Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. »Ja, du bist süßer als alles, was ich je probiert habe. Aber ich meinte eigentlich eher, dass ich jetzt wirklich etwas zu essen brauche. Ich sehe schon schwarze Punkte …«
»Uh!« Sie schoss im Bett hoch. Innerhalb von Sekunden passte sich ihre Wangenfarbe den rot geküssten Lippen an. Jetzt sah sie noch mehr aus wie eine Puppe.
June stand auf und lief auf die Zimmertür zu. Sie wedelte ungeduldig mit der Hand. »Komm schon! Essen! Jetzt!«
Ich hatte wirklich einen Bärenhunger. Trotzdem blieb ich einen Augenblick sitzen und sah sie fasziniert an. Obwohl wir gerade erst zusammengekommen waren, scheute sie sich überhaupt nicht, nackt herumzurennen – und ich dankte den Göttern dafür. Denn eine nackte June war bestimmt das Allerschönste, das ich je gesehen hatte. Ihre Haut leuchtete weiß und zart wie Mondlicht, ihr Körper fühlte sich wundervoll weich an. Alles an ihr war perfekt und rund und glatt. Ich hätte stundenlang zusehen können, wie ihr kleiner Nabel sich bei jedem Atemzug hob und senkte. Ich liebte es, die sanfte Wölbung ihrer Schulter nachzufahren. Oder wie unglaublich sich ihr Schenkel in meiner Hand anfühlte.
Sie rannte durch mein Zimmer und sammelte ihre Klamotten ein. Auf einem Bein hüpfend, schlüpfte sie in die Jeans. Hatte sie den BH absichtlich vergessen?
»Willst du nackt vor deiner Mutter essen oder verhungerst du einfach?«, spottete sie und warf eine Socke nach mir.
Ich warf sie zurück. Strümpfe brauchte ich nun echt am allerwenigsten. »Eomma ist nicht da …«
June biss sich auf die Lippen. »Oh … gut!«
»Allerdings!« Ich schüttelte lachend den Kopf. »Das fällt dir jetzt erst ein?«
June fächerte ihren roten Wangen Luft zu. Ich beeilte mich, mir schnell Klamotten anzuziehen, und folgte ihr in die Küche. Eomma hatte uns wieder ihre legendäre Katersuppe gekocht, obwohl wir natürlich keinen Alkohol getrunken hatten. Ich musste die Suppe nur aufwärmen, wobei June mir auf die Finger starrte, als hätte sie sie auch eiskalt und aus dem Topf geschlürft. Interessant! June war definitiv keines dieser Mädchen, die im Restaurant nur an einem Salatblatt knabberten, um vorzugaukeln, sie hätten einen mikroskopisch kleinen Magen, nur um dann auf dem Heimweg einen Doppelburger in einem Happs zu verschlucken.
»Das riecht so lecker!«, sagte sie.
Ich schob ihr schnell einen tiefen Teller hin und schöpfte eine ordentliche Portion hinein.
June löffelte begeistert los. Garantiert verbrannte sie sich die Zunge, doch sie ließ sich nichts anmerken.
Gespannt beobachtete ich sie, während ich selbst aß. Die Wärme in meinem Bauch tat unendlich gut.
Ihre Wangen waren gerötet und sie atmete immer wieder durch den Mund, was mich zum Schmunzeln brachte. Eommas Küche hatte einige Scoville zu bieten, und wer es nicht gewohnt war, scharf zu essen, konnte hier schon mal in Tränen ausbrechen. Junes Augen glänzten zwar, aber sie schlug sich tapfer und nahm sogar Nachschlag.
Ich war absolut entzückt.
»Falls du übrigens geplant hast, deinen BH hier zu ›vergessen‹ …« Ich machte Anführungszeichen mit den Fingern in die Luft. »… damit du zurückkommen und ihn abholen kannst, hast du dich ge–«
»Wozu jetzt anziehen, wenn du ihn mir nachher sowieso wieder ausziehst?«, fragte sie scheinheilig.
Einen winzigen Augenblick lang verschlug es mir die Sprache. Dann schnappte ich sie, warf sie mir über die Schulter und trug sie in mein Zimmer zurück.
Cole liebte es zu spielen.
Er wickelte für sein Leben gern Haarsträhnen um seinen Zeigefinger. Er zeichnete Symbole auf meinen Rücken, die ich erraten musste. Er regnete Küsse auf jedes Körperteil. Jedes! Manche Stellen waren pure Folter. Und ich spreche von: Achseln! Himmel, wer hätte gedacht, wie sehr seine Lippen auf der sensiblen Haut unter meinem Arm kitzelten.
Es schien ihm die größte Freude zu machen, mich zum Lachen zu bringen. Dann sah Cole jung und glücklich aus. Ich entdeckte einen Cole, den es wahrscheinlich vor Lucas’ Tod öfter gegeben hatte. Aber vielleicht lag es schon deutlich länger zurück, dass er zuletzt vollkommen unbeschwert gelacht hatte. Ich nahm mir vor, ihn so oft wie möglich froh zu machen.
Unsere Gespräche an diesem faulen Nachmittag führten oft zu Lucas zurück. Und hier spürte ich ebenfalls, dass Cole sich mir öffnete. Nicht nur ich fand es interessant, was er mir über seinen Bruder erzählte. Auch er hing wie gebannt an meinen Lippen, während ich ihm von unseren Truth-or-Dare-Spielen berichtete.
»Diese Garagensache war übrigens eine Idee von mir. Lucas war daran wirklich kein bisschen schuld. Das ist doch absurd! Ich glaube, mein Vater wäre noch viel enttäuschter von mir, wenn er wüsste, dass Lucas – sein perfekter Sohn – eine seiner Zigaretten geraucht hat, weil ich Chaot ihn dazu angestachelt hatte.«
»Ich finde, dein Vater ist ungerecht und verhält sich schrecklich dir gegenüber. Und ich verstehe auch nicht, wie ein Dummer-Junge-Streich, ein Unfall, dazu geführt hat, dass er dich als komplette Enttäuschung ansieht. Mochte er die Katze so sehr?«
Cole lachte bitter. »Mister Tweedles war ihm scheißegal. Aber dummerweise war der Nachbar, dessen Garage wir abgefackelt hatten, der Bürgermeister. Und nachdem mein Dad plötzlich abgestempelt war als der, der seine Kinder nicht erziehen konnte und seinen missratenen Sohn schützte, hat er nach und nach alles dort verloren. Erst die Freundschaften, dann wurde ihm unter fadenscheinigen Gründen gekündigt und zuletzt mussten wir wegziehen. Meine Großeltern leben noch dort in der Gegend, doch ich glaub, mein Vater fühlte sich bei ihnen nicht mehr willkommen, weil es ihnen peinlich war, dass wir für Tratsch sorgten.« Er dachte kurz nach. »Seit wir hier wohnen, fährt er weit weg zur Arbeit. Ich denke, er macht das, weil ihn im Job keiner mit mir in Verbindung bringt …«
»Er hat einiges verloren durch diese Geschichte, aber es ist doch total unreif, dich als Verantwortlichen abzustempeln. Du warst ja noch ein Kind!«
Cole schien in Gedanken sehr weit weg zu sein. »Er hat mir mal gesagt, ich soll auf Lucas aufpassen, das sei meine Aufgabe. Und selbst das hab ich nicht geschafft.«
Es tat mir körperlich weh zu sehen, dass er diese Worte glaubte. Am liebsten hätte ich diesen Vater erwürgt, der einen Sohn wie Cole nicht einmal verdient hatte.
»Vielleicht vermisst er Lucas einfach total doll?«, versuchte ich, Cole zu beschwichtigen, auch wenn das nicht im Ansatz erklärte, warum er schon immer so fies zu Cole gewesen war.
»Sicher. Er wünscht sich gewiss jeden Tag, ich wäre gestorben und nicht Lucas. Das sehe ich ihm an. Das Schicksal hatte eben andere Pläne. Tja. Kann man nicht ändern.« Er schnaubte. »Außerdem bin ich mittlerweile so groß wie er. Ich denke, er weiß, dass ich ihm bei einem weiteren blöden Spruch direkt eine reinhaue. Ohne Vorwarnung.«
»Möglicherweise wäre das gut …«, murmelte ich.
Er starrte mich überrascht an. »Wie bitte, Miss Jones?«
»Ach, weißt du, vielleicht braucht er einen kleinen Schock, um aus seiner Anti-Haltung zu erwachen?«
»Wie meinst du das?«, fragte Cole.
Ich zuckte die Achseln.
Er sah mir wohl an, dass ich mich seinetwegen zurückhielt, und zog mich näher an sich. »Sag schon!«
»Ich meine nur, vielleicht muss etwas deinen Dad aufrütteln, damit er sieht, was sein Verhalten anrichtet.«
»Denkst du nicht, er ist durch Lucas’ Tod schon gebeutelt genug?«
»Und was ist mit dir?«, platzte ich heraus. »Wer hat dich darauf vorbereitet, von deinem eigenen Vater immer als Enttäuschung angesehen zu werden, nur weil er seine eigenen Probleme nicht geregelt kriegt?«