Draußen wurde es bereits dunkel. Erschrocken erinnerte ich mich an Pops – und fast zeitgleich daran, dass ich Lucas anrufen wollte, egal, ob er dranging oder nicht. Zumindest einen Teil der Pflichtaufgabe hatte ich ja immerhin erfüllt. Cole beobachtete eine Weile, wie ich ein Taschentuch zerpflückte, dann nahm er mir vorsichtig die Fetzen aus der Hand und fragte: »Was ist los?«
»Also, ich muss nach Hause!«
»Okayyy …« Er zog das Wort in die Länge. »Und wieso so plötzlich?«
»Pops weiß ja gar nicht dass ich hier bin.«
»Dafür gibt es Telefone. Ruf ihn halt an.« Cole streckte mir sein Handy entgegen, da meins irgendwo in meinem Schulrucksack in der Küche lag.
»Hmm …« Ich nahm es nicht an. Ein weiteres Taschentuch zerfaserte unter meinen Fingern.
Coles hochgezogene Augenbraue sprach Bände. »Was noch außer deinem Pops?«
»Äh …«
»Du willst Lucas anrufen, oder?«
Anstelle einer Antwort linste ich zu ihm hinüber. War er sauer? Verzweifelt, weil ich durchgeknallt war? Glaubte er mir am Ende sogar? Oder hatte er einfach nur aufgegeben?
Es war unmöglich auszumachen.
Cole nahm meine Hand. »Also gut, ich mache dir einen Vorschlag: Ruf Peter jetzt an und sag ihm, ich fahre dich später heim. Dann kannst du von mir aus die ganze Nacht noch in der Telefonzelle hocken und meinem Bruder von mir vorschwärmen.«
Ich verdrehte die Augen. »Das würde ich niemals tun. Wie unsensibel wäre das denn?«
»Ungefähr so unsensibel, wie mein Tagebuch zu lesen und dich zu zwingen, mich sitzen zu lassen …«, schlug Cole vor. Es schwang ein Hauch Bitterkeit in seiner Stimme mit, doch ich spürte, dass er den Brocken langsam schluckte. Es erleichterte mich ungemein. Die Vorstellung, einen Keil zwischen die beiden getrieben zu haben, war schrecklich für mich.
»Alles klar, ich sag schnell Pops Bescheid. Danke, Cole!«
»Na klar. Ich teile dich doch gern mit meinem Bruderherz«, scherzte er augenrollend. »Ich gehe mal schauen, ob Eomma wieder zu Hause ist.« Er schlenderte nach draußen und schloss die Tür hinter sich.
Ich wählte Pops’ Nummer.
»Cole!«, rief Pops überrascht.
»Nein, ich bins.«
»June!«, sagte mein Vater nicht minder erstaunt. »Alles in Ordnung? Wo bist du? Es zieht ein Unwetter auf, das ganze Haus knackt und heult.«
Ich lächelte. »Ja. Alles bestens. Ich bin bei den Archers. Cole bringt mich später –« Es rauschte in der Leitung. »Pops? Hallo?«
Jemand sagte »June?«. Es war nicht Pops.
»Lucas?«, schrie ich. »Bist du das? Kannst du mich hören? Ist alles okay?«
»Ju-u-u-ne!« Die Leitung hackte seine Stimme ab. Bei dem unheimlichen Laut kroch mir eine Gänsehaut den Rücken hinunter. »Kom-m ni-i-ch-t he-im!«
»Lucas, bitte sei nicht böse! Rede mit mir. Es tut mir leid, dass ich es nicht schneller geschafft habe. Bitte halte noch durch, bis Cole so weit ist! Bitte!«
Die Leitung war tot.
Ich schluchzte auf. In meinem Rücken spürte ich einen Luftzug und fuhr herum. Cole stand in der Tür und sah mich mit einem Ausdruck zwischen Schmerz und Überraschung an … und etwas versetzt hinter ihm befand sich Sun-Ah. Die Augen riesig in dem schmalen Gesicht, der Mund stand leicht offen. Sie taumelte.
Cole stützte sie geistesgegenwärtig und führte sie in sein Zimmer.
»Was … war das gerade?«, krächzte sie heiser. »Warum rufst du nach Lucas?«
Ich biss mir auf die Lippen und sah Cole an. Er wirkte zerrissen.
Ich entschied, mich an unsere Abmachung zu halten. »Das … habe ich in der Traumatherapie gelernt: Manchmal sind meine Schuldgefühle so überwältigend, dass ich sie rauslassen muss. Deshalb schreibe ich Lucas gelegentlich Briefe, in denen ich mich entschuldige. Und manchmal tue ich so, als würde ich ihn anrufen …«
Cole trat zu mir und legte einen Arm um mich. »June telefoniert mit Lucas.«
Ich stöhnte innerlich. Jetzt klangen wir beide wie esoterische Spinner.
Sun-Ah schüttelte den Kopf und sank auf Coles Bett. »Ich verstehe nicht …«
Ich bedeutete Cole, die Klappe zu halten, aber er ignorierte mich. Garantiert absichtlich.
»Sie spricht mit ihm.« Er holte tief Luft. »Und er hat ihr etwas aufgetragen, was sie dir sagen soll …«
»Ich … was?« Die arme Frau wirkte wie ein Pusteblumenschirmchen im Wind.
Ich fühlte mich elend. Cole war noch nicht so weit. Ich war noch nicht bereit. Wie sollte ich das jetzt sagen, ohne herumzustammeln und mich nur noch unglaubwürdiger zu machen? Verdammt, Lucas, warum musstest du mir so eine unlösbare Aufgabe stellen?
Sun-Ah sah mich an. Trauer, dick wie eine Regenfront, erfüllte den Raum. Furcht und Unsicherheit ließen ihren Blick flackern. Doch ich entdeckte auch ein Fünkchen Hoffnung darin. Wenn ich das nur nicht auslöschte mit dem, was ich sagte!
Ich atmete tief durch, ehe ich mich auf den Boden vor Sun-Ah setzte. Versuch es mit der Wahrheit!, hallte Pops’ Ratschlag in meinem Kopf wider.
»Es ist egal, woher ich das weiß und ob das, was Cole Ihnen gerade gesagt hat, stimmt oder nur meine Einbildung ist. Lucas möchte, dass ich Ihnen sage … Also … Cole hat die Garage nie angezündet. Es war Lucas. Cole blieb nur drin, um Mister Tweedles zu retten.« Meine Stimme versagte am Ende. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich vergessen hatte zu atmen, während ich herumgehaspelt hatte. Mir war furchtbar übel. Ich traute mich kaum, aufzusehen. Weder Cole noch seine Mutter wollte ich jetzt ansehen. Allerdings konnte ich schlecht ewig die Dielen anstarren.
»Juniper!« Klang sie sauer? Streng? »Kann ich dich June nennen?«
Ich nickte und linste vorsichtig zu ihr hinauf. Bei ihrem Anblick verschluckte ich mich fast an meinem eigenen Speichel. Sie … lächelte!
»Das ist auf jeden Fall die Wahrheit!«, verkündete sie zufrieden, beugte sich vor und strich mir über die Haare. Ich war wie erstarrt. Was passierte hier?
»Wi-wieso?«
»Also, erstens wusste ich das längst.«
»Woher wusstest du das?«, platzte Cole heraus. Er setzte sich dicht neben mich. Unsere Seiten pressten sich aneinander. Es fühlte sich so gut an, wie wir uns gegenseitig Halt spendeten.
»Ich kenne doch meine Söhne!«, empörte sich Sun-Ah. »Garantiert steckte da irgendeine unüberlegte Idee von Cole dahinter, die Lucas ausgeführt hat, weil er genauso cool sein wollte. Aber ich wusste immer, warum Cole in der Garage geblieben ist. Er liebte diese Katze.« Sie warf ihm einen warmen Blick zu. »Und Lucas war schon immer ein Hasenherz. Er hat danach wochenlang nicht gut geschlafen, kaum etwas gegessen und Cole ständig mit diesem panischen Blick angesehen. Eine Mutter versteht so etwas. Ich wusste immer, was da passiert war. Und natürlich habe ich die Meinung der anderen nie geteilt.«
»Aber du hast auch nie etwas gesagt!«, brach es aus Cole heraus. »Du hast gesehen, was sie getan haben, trotzdem hast du mich nie verteidigt!«
Sun-Ah neigte den Kopf zur Seite. »Das stimmt so nicht. Ich habe es deinem Vater mehrfach gesagt. Vor anderen habe ich nichts erwähnt, weil du das nicht wolltest. Erinnerst du dich? Du hast dich immer fürchterlich aufgeregt, wenn jemand Lucas kritisiert hat. Wenn ich den Leuten gesagt hätte, was ich dachte, wärst du ausgeflippt.«
Cole presste die Lippen zusammen.
»Cole«, sagte sie leise. Ich fühlte mich wie ein Eindringling. Dieses Gespräch sollten Mutter und Sohn ohne mich führen. »Für mich war keiner von euch beiden schuld. Es war ein Unfall. Kein Grund, sich heute noch deshalb mies zu fühlen.«
»Dad sieht das anders …«, murmelte Cole und mir zog sich das Herz zusammen. Er wirkte in dem Moment wie ein kleiner Junge. Der Drang, ihn in den Arm zu nehmen, wurde beinahe übermächtig, gleichzeitig wusste ich, dass er dazu gerade nicht bereit war.
Sun-Ah schüttelte langsam den Kopf. »Tut er nicht … Er hat viel geschluckt in der Zeit. Der Bürgermeister brauchte einen Sündenbock, weil in seiner Garage irgendwelche Erinnerungen abgebrannt sind. Das war vermutlich eine Ausrede, du weißt, wie gern die Leute hetzen. Eigentlich hatten sie immer ein Problem mit deinem Dad – vielleicht wegen mir, wer weiß …«
In mir regte sich der Wunsch, ihr zu widersprechen. Wieso sollte Sun-Ah irgendjemanden stören? Sie war die netteste und zarteste Person, die ich mir vorstellen konnte. Doch Cole nickte nur und erst da verstand ich, dass es um Rassismus ging. Sun-Ah zuckte die Achseln, als sie mein entsetztes Kopfschütteln bemerkte, und fuhr fort zu erzählen.
»Er war in der Zwickmühle, dich zu verteidigen – und dadurch selbst zur Angriffsfläche zu werden, oder es einfach hinzunehmen, dass sie Lügen und Gerüchte über dich verbreiteten. Er hat sich für Ersteres entschieden, Cole. Er hat sich für dich eingesetzt, wo er nur konnte. Aber da war es schon zu spät. Zu diesem Zeitpunkt waren wir wohl alle nicht mehr willkommen in dieser Nachbarschaft. Und am Ende kam dennoch die Kündigung und du weißt selbst, wie schwer es für ihn war, wieder Fuß zu fassen.«
»Aber daran war ich doch nie schuld!«, rief Cole.
»Das ist richtig und das weiß er auch. Glaub mir, dein Dad ist eigentlich sehr unsicher. Er fürchtet, dass du ihm zu ähnlich bist. Lucas war immer sein genaues Gegenteil, deshalb fiel es ihm leichter, sich in seiner Gegenwart zu entspannen. Das ist fürchterlich ungerecht und du leidest zu Unrecht seit Jahren darunter, doch das ist die Wahrheit. Ich habe mich häufig mit ihm gestritten, weil ich ihn gebeten habe, um deinetwillen sein Problem mit seiner Unsicherheit zu lösen …«
»Es ist mir egal! Ich brauche seine Anerkennung nicht!«
»Aber er braucht deine …«, sagte Sun-Ah mit einer solchen Traurigkeit in der Stimme, dass ich scharf Luft holen musste, ohne es zu wollen.
»Geh zu deinem Vater und erzähle ihm die Geschichte aus deiner Sicht. Ich glaube, er braucht das, dass du ihm genug vertraust, um ihm die Wahrheit zu sagen. Und …« Sie sah mich an. »Es ist besser, wenn wir June aus dieser Sache heraushalten. Um ihretwillen. Da stimmst du mir doch zu, oder, Cole?«
Cole nickte. »Auf jeden Fall!«
Insgeheim war ich erleichtert, diese Geschichte vor Coles Vater kein weiteres Mal erzählen zu müssen. Er würde mich wahrscheinlich nicht einmal aussprechen lassen, bevor er mich hochkant rausschmiss und mir für alle Zeiten den Kontakt zu seiner Familie untersagte. Ich könnte ihm das nicht einmal verübeln, wer würde schon eine Person ins Haus lassen, die behauptete, mit seinem verstorbenen Sohn zu telefonieren.
Neugierig sah ich Sun-Ah an. »Warum glauben Sie mir?«
Sie schmunzelte, doch bei Coles und Lucas’ Mutter steckte der Schmerz in jeder Geste und Mimik. »Ich sagte, ich kenne meine Söhne. Hättest du gesagt, du hast eine Botschaft von Lucas für mich, und es wäre eine rührselige Nachricht oder ein Gedicht gewesen, hätte ich es für eine Fantasie von dir gehalten.«
Ich zog eine Grimasse.
»Ja, es passt zu Lucas, nicht wahr? Jeder würde erwarten, dass er sich mit liebevollen Worten von mir verabschiedet – darüber würde sich doch schließlich jede Mutter freuen … Doch ich kenne Lucas! Er weiß, dass ich mir seiner Liebe zu einhundert Prozent sicher bin. Er muss es mir nicht mehr sagen. Genauso wusste er, dass ich sah, wie er unter dem Verhalten seines Vaters Cole gegenüber gelitten hat. Es hat ihn immer gequält, als der gute Sohn dazustehen. Deshalb ist eine Aufklärung dieses leidigen Themas haargenau das, was Lucas wollen würde. Das ist der Grund, weshalb ich dir glaube.« Sie machte eine kurze Pause und ich erkannte Lucas in ihr. Wie er nachdachte, sich Zeit nahm, bevor er etwas sagte. Mein Herz weitete sich schlagartig für diese Frau, die ihren beiden Kindern eine so gute Mutter war. Ich wünschte, ich hätte meine eigene Mama länger gekannt, doch ich war mir sicher, sie war ebenfalls eine ganz wundervolle Frau gewesen.
»Natürlich glaube ich dir auch vor allem deshalb, weil du meinen äußerst kritischen Sohn überzeugt hast …«, sagte sie und gab Cole einen Kuss auf die Stirn. »Eigentlich ist es mir egal, woher du diese Information hast. Aber der Gedanke, dass Lucas auch jetzt noch eine Freundin hat, die ihn mag und sich um ihn sorgt, ist für mich extrem tröstlich. Das möchte ich gar nicht durch zu viel Rationalität zerstören.« Sie nickte und verließ den Raum.
Wir saßen still da.
Das Handy klingelte und Cole ging dran.
»Hallo? Ah! Klar, Moment.« Er streckte mir das Telefon hin. »Dein Pops.«
»June! Die Verbindung ist abgebrochen. Hör zu, bleib auf jeden Fall heute Nacht bei Cole, es geht ein schreckliches Unwetter um. Da ist ein Baum auf die Straße gestürzt und ihr würdet gar nicht durchkommen. Wer weiß, was da noch alles herumfliegt. Ich will nicht, dass euch auf dem Weg etwas passiert.«
»Aber …«
»Nichts aber! Das ist mir zu gefährlich. Frag Sun-Ah Archer, ob es in Ordn–«
»Es ist total in Ordnung!«, rief Cole dazwischen.
»Oh, gut. Super. Dann sehe ich dich morgen?«
»Alles klar, Pops. Ich verspreche auch, wir gehen morgen brav in die Schule.«
Es blieb einen Moment still. Dann sagte Pops: »Und was willst du dort?«
»Äh …«
»An einem Samstag?«
»Oh …«
Cole fiel lachend nach hinten über. Ich warf ihm einen strengen Blick zu, der nur halbherzig gelang, weil ich selbst grinsen musste.
»Okay, Pops. Dann musst du mir einen Gefallen tun …«
»Alles, was du willst.«
»Geh in die Telefonzelle und sag ›Halte noch ein bisschen durch, du hast es fast geschafft!‹«
Wenn ich zuvor daran gezweifelt hatte, dass June zumindest selbst zu einhundert Prozent davon überzeugt war, mit Lucas zu telefonieren, dann war das jetzt vorbei. Sie trug ihrem Dad tatsächlich auf, Lucas etwas auszurichten. Und auch ihre Panik vorhin am Telefon war total überzeugend gewesen.
»Warum hast du eigentlich nach Lucas gerufen?«, sprach ich sie darauf an.
Sie sah betreten auf den Teppich. »Ich dachte … wahrscheinlich habe ich es mir nur eingebildet … Ich hab geglaubt, seine Stimme gehört zu haben, und da hab ich einfach nicht nachgedacht und … es tut mir leid, Cole! Ich wollte das wirklich nicht! Ich wusste ja gar nicht, dass deine Mum vor der Tür stand und … O Mann! Bitte sei nicht wütend auf mich!«
»Ich bin nicht sauer. Es lief doch gut …«
»Schon, aber du konntest es nicht entscheiden. Außerdem hätte ich bei dem Gespräch nicht dabei sein sollen, das war ein intimer Moment, da habe ich nur gestört.« Sie sah furchtbar unglücklich aus und ich nahm sie in den Arm.
»June! Hör mir mal zu. Du zeigst mir immer wieder, dass mein Weg nicht unbedingt der richtige ist. Ich gehe diesen sturen Scheuklappengang gefühlt schon mein ganzes Leben lang. Es wird vielleicht mal langsam Zeit, sich nach links und rechts umzusehen?«
»Trotzdem …«
»Weißt du, was meine Eomma vorhin in der Küche zu mir gesagt hat? ›Lass nicht zu, dass dein Dad sie einschüchtert. Dieses Mädchen tut dir gut. Du warst noch nie so sehr du selbst wie jetzt – und das ist erst der Anfang.‹ Und ich glaube, sie hat recht.«
June schmunzelte. »Meinst du wirklich, ja?«
Mir entfuhr ein ungläubiges Lachen. »Soll das ein Scherz sein? Du hast mir ein Bild gezeichnet, obwohl ich fies zu dir war –«
»Das war als Entschuldigung, weil ich den Comic gestohlen hab.«
»Überhaupt nichts hast du geklaut! Du hast ihn lediglich vor einer Nacht im Regen gerettet. Und ich verdiene bestimmt keine Zeichnung, Entschuldigung oder auch nur einen freundlichen Blick von dir.«
»Das sehe ich anders.« Sie starrte auf ihre Hände und ich wusste sofort, was in ihr vorging.
»June, deine Schuldgefühle sind Bullshit. Ich hab es viel zu spät gecheckt, aber Lucas könnte genauso gut wegen mir gestorben sein, weil ich dich entdeckt habe. Und weil ich nicht rechtzeitig da war, um ihn vor dem Auto zu retten. Und …«
June presste mir die Hand auf den Mund. »Das ist alles nicht wahr.«
Ich küsste ihre Finger. »Lucas ist gestorben. Aber du bringst ihn uns allen ein Stück zurück. Und das, June, ist unglaublich wertvoll für uns. Die Erinnerung an ihn bleibt deinetwegen noch lebendig. Und es ist eine schöne Erinnerung. Sie nimmt mir nicht den Schmerz darüber, dass er nicht mehr da ist. Sie überdeckt auch nicht den Horror, den ich beim Anblick seines Körpers auf der Straße gefühlt habe. Doch zumindest weiß ich jetzt wieder, dass das nicht alles ist. Lucas’ Liebe ist noch da. Und das hatte ich vergessen.«
Nachts lag ich wach.
Draußen pfiff der Sturm ums Haus, die Regentropfen peitschten gegen die Scheiben. Das war aber nicht der Grund, weshalb ich nicht schlafen konnte. Im Vergleich zu unserem Cottage bekam man hier von dem Wetter ja kaum etwas mit.
Doch ich schlief zum ersten Mal mit einem Jungen im selben Bett! Eigentlich hatte ich nicht einmal mit einer männlichen Person im gleichen Zimmer geschlafen seit unserem Schullandheim-Aufenthalt in der vierten Klasse, wo wir alle gemeinsam in einem Schlafsaal untergebracht worden waren.
Ich hatte Angst davor, zu schnarchen, im Schlaf zu reden, oder Cole den Arm ins Gesicht zu schlagen. Oder dass das geliehene Oversize-Shirt, welches mir bis zum Oberschenkel reichte, hochrutschte und man meinen Bauch in einer unvorteilhaften Haltung sah. Dazu kam noch die Horrorvorstellung, dass ich sabberte.
Zu all diesen Unsicherheiten gesellte sich ein nagend schlechtes Gewissen Lucas gegenüber. Hatte er versucht, mir über die Telefonverbindung mit Pops etwas zu sagen? War es wirklich seine Stimme gewesen oder hatte ich es mir nur eingebildet? Eigentlich war ich mir relativ sicher, ihn erkannt zu haben. Doch hatte er wütend geklungen?
»June, komm nicht heim!«, hatte ich undeutlich durch das Rauschen und Knacken der Leitung verstanden.
War das eine Warnung? Wenn du mit meinem Bruder rummachst, brauchst du nie wieder heimzukommen? Oder bedeutete es, dass er versucht hatte, mich vor umstürzenden Bäumen zu beschützen?
Hatte er wirklich nicht gesagt? Möglicherweise hatte es sich ja um einen Hilferuf gehandelt und er wartete gerade sehnsüchtig darauf, dass ich in die Telefonzelle kam und ihn von seinen Albträumen erlöste?
Ächzend warf ich mich herum.
Was war ich nur für eine schreckliche Freundin! Lucas musste ja das Gefühl bekommen, dass er mich nicht mehr interessierte, seit ich Cole kannte. Doch so war es nicht! Außerdem, das hatte ich Cole nie gesagt, hatte auch ich ihn schon früher bemerkt … Ich saß damals aus einem bestimmten Grund jeden Tag länger an der Bushaltestelle und zeichnete, anstatt den ersten Bus zu nehmen. Es lag daran, dass ich gespürt hatte, dass mich jemand beobachtete. Und zu meinem Erstaunen war das schön für mich gewesen. Zwar scheute ich mich hochzusehen, doch ich hatte diese Aufmerksamkeit genossen. Also hatte ich Cole nie gesehen – aber gefühlt.
Und es stimmte, dass ich für Lucas nicht dasselbe empfand, wie ich es vom ersten Blickkontakt an für Cole getan hatte. Ich liebte Lucas! Und auf keinen Fall nahm ich ihm übel, dass er gelogen und mit allen Mitteln dafür gekämpft hatte, mich für sich zu gewinnen. Doch das mit uns war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Selbst wenn Lucas noch leben würde, hätte ich mich für Cole entschieden.
Wieder kochte das schlechte Gewissen in mir hoch. Ich sollte das nicht denken! Was wusste ich schon, wie etwas wäre, wenn Lucas noch leben würde? Und überhaupt –
»Kannst du nicht schlafen?«, murmelte Cole.
»Sorry. Habe ich dich geweckt?« Ich versuchte, etwas abzurücken, um ihm mehr Platz in dem Bett zu lassen. Er schlang die Arme um mich und zog mich näher zu sich heran.
»Nein … ich kann auch nicht einschlafen.«
»Denkst du auch an Lucas?«, fragte ich.
Erst als Cole seufzte, wurde mir bewusst, wie dumm die Frage war.
»Nicht so richtig. Jetzt allerdings schon, danke, Bruder! Ich schlafe zum ersten Mal in einem Bett mit meiner Freundin und dann denkt nicht nur sie an dich, sondern ich ebenfalls …« Er lachte. »Zwillinge müssen halt immer alles teilen, sogar die Freundinnen …«
»Ich denke doch nicht so an Lucas!«, flüsterte ich entsetzt. Wie kam er jetzt auf diese Idee?
»Wie denn, so?«, wollte Cole wissen.
»Na ja … also halt nicht … also …«
»Möchtest du etwa nicht von ihm …« Cole schob das T-Shirt ein wenig hoch und strich über meinen Oberschenkel. »… hier angefasst werden?« Seine Stimme klang etwas heiser und in meinem Bauch kribbelte es.
Es fühlte sich immer noch falsch gegenüber dem armen Lucas an und ich war mir sicher, dass es Cole genauso ging. Doch während seine Hand höher fuhr und ich innerlich zu glühen begann, traf ich eine Entscheidung:
Ich würde nicht mehr an meinen Gefühlen für Cole zweifeln und es war ihm gegenüber nicht fair, ihn zu verunsichern. Ich konnte nichts dafür, dass Lucas mich ebenfalls liebte – oder geliebt hatte. Wenn ich ihm eine gute Freundin sein wollte, musste ich ehrlich zu ihm sein. Morgen würde ich nach Hause fahren und ihm alles erzählen!
Nachdem ich den Entschluss einmal gefasst hatte, ging es mir besser.
»Ich möchte nur von dir berührt werden, Cole«, sagte ich viel zu spät.
Mit einem erleichterten Seufzen zog er mich erneut an sich. Er wickelte die Arme fest um mich herum, als wollte er mich nie wieder loslassen. Und ich hätte mir nichts Schöneres vorstellen können, als für immer mit ihm so zu liegen.
Während das Unwetter wütete, dachte ich daran, wie ich mir vor ein paar Minuten Sorgen gemacht hatte, zu schnarchen. Seltsamerweise war es mir jetzt vollkommen egal. Ich kuschelte meinen Kopf in Coles Halsbeuge, schlang ein Bein über seine Hüfte und schlief fast augenblicklich ein.
Am Morgen, in aller Herrgottsfrühe, fuhr ich June nach Hause.
Es fühlte sich an, als würde ich heimlich meine verbotene Geliebte vor Sonnenaufgang aus dem Haus schmuggeln. Dabei war es Dad wahrscheinlich egal, wenn ein Mädchen bei mir übernachtete. Er selbst war schließlich auch kein Kind von Traurigkeit gewesen und hatte sich grundsätzlich nicht an die Regeln von meiner Halmeoni– Eommas Mutter – gehalten. Doch dass dieses Mädchen sich überhaupt bei uns im Haus aufhielt und ich sie hereingelassen hatte, musste für Dad ein weiterer Beweis meiner Verkommenheit sein.
Normalerweise löste sein störrisches Mauleselverhalten in mir eine rebellische Trotzreaktion aus. An jedem anderen Tag hätte ich mich, nur in Boxershorts bekleidet und June auf dem Schoß, um die Mittagszeit zu einem demonstrativen Frühstück in der Küche eingefunden. Heute musste ich jedoch erst einmal zu Hause die Wogen glätten. Darum schlichen June und ich raus, als sein Schnarchen noch durch die geschlossene Schlafzimmertür vibrierte. Eomma nickte uns von der Küche aus zu, wo sie schon sein Frühstück vorbereitete.
»Ihr könnt echt von Glück sagen, dass eure Mutter noch lebt«, bemerkte June im Auto. »Kann dein Dad sich seinen Kaffee nicht selbst machen?«
»Doch, schon. Unter der Woche schafft er es ja auch irgendwie. Eomma will ihn halt verwöhnen, wenn er am Wochenende da ist. Sie meint, dann kommt er vielleicht gern heim.«
June atmete hörbar aus. »Hoffentlich kommt er auch aus einem anderen Grund nach Hause als nur wegen des Kaffees …«
Ich fuhr mir durch die Haare. »Wenn ich nicht da wäre, käme er sicher lieber …«
»Cole!« Bei ihrem Schrei fuhr ich zusammen. »Halt mal an.«
Tatsächlich war ich schon voll in die Eisen gestiegen, weil ich gedacht hatte, ich würde gleich ein Reh anfahren oder so was.
Hinter mir hupte ein Auto. Na klar! Hier im Nirgendwo fuhr um die Uhrzeit kein Mensch außer uns, aber wenn ich anhielt, klebte natürlich augenblicklich einer an meiner Stoßstange. Ich fluchte und rollte an den Straßenrand.
June ließ mir keine Zeit und packte sofort mein Gesicht mit beiden Händen.
»Weißt du eigentlich, dass jeder dich liebt, Cole Archer? Lucas, deine Mum … ich.« Ihre Stimme wurde am Ende ganz klein. Mein Herz drohte, aus der Brust zu springen. »Du bist in den Augen von vielen Menschen perfekt. Nur du bist so fürchterlich streng mit dir selbst.«
»Mein Dad sieht mich wirklich als den Ursprung allen Übels an …«
June kniff ein wenig die Augen zusammen. »Weißt du … ich bin ja keine Psychologin … Aber wenn du mich fragst, dann haut dein Dad ab, weil er nicht sehen will, dass er an dir versagt hat.«
»Was soll das denn heißen?« War ich etwa die Personifikation seines Versagens?
»Hey, Cole!« June legte mir eine Hand aufs Bein. Ich musste an mich halten, sie nicht unwirsch abzuschütteln. »So meine ich das nicht. Natürlich bist du kein Versager. Wenn überhaupt, dann ist dein Dad einer, weil er nicht sehen kann, wie wundervoll du bist. Ich meinte eher, dass er dir wissentlich Unrecht tut.«
»Ich hab das Gefühl, ich verdiene so viel Lob gar nicht«, murmelte ich. »Ich bin nichts Besonderes …«
»Dann gib mir eine Chance, dir das Gegenteil zu beweisen.« June rieb sich die Hände. Ihre Augen glitzerten abenteuerlustig und ich hatte das ungute Gefühl, sie auf eine dumme Idee gebracht zu haben. »Worin bist du richtig gut?«
»In nichts«, antwortete ich aus Gewohnheit zu schnell, ohne nachzudenken. »Unnützes Zeug. Basketball?«
June grinste. »Wenn du es schaffst, mir Basketball beizubringen, wäre das wirklich ein Wunder.«
»Ich verstehe nicht …«
»Es ist doch so, ich kann dir wahrscheinlich stundenlang vorbeten, wie schön und klug und warmherzig und talentiert du bist … du wirst es mir niemals glauben. Aber wenn du siehst, dass ich nur mit deiner Hilfe etwas schaffe, was ohne dich vollkommen unmöglich war …«
»Wieso willst du Basketball spielen?«, fragte ich und musterte sie skeptisch. Sie war ein Zwerg! Ihre winzigen Hände konnten den Ball nicht einmal halten.
»Weil ich es nicht kann! Kein bisschen. Aber dank dir werde ich es lernen.«
Ich schüttelte den Kopf. Mehr resigniert als ablehnend, doch June sah längst aus dem Seitenfenster, als würde ihr seltsamer Plan dort im Morgennebel geschrieben stehen.
»Ich bin kein Lehrer oder Trainer, June. Ich kann dir überhaupt nichts beibringen, vergiss das lieber gleich wieder.«
Sie ignorierte mich und dirigierte mich durch den Ort, in dem sie lebte, bis wir vor einer Art Parkplatz standen.
Ich beugte mich vor, um aus dem Fenster zu sehen. Am anderen Ende des rissigen Asphaltplatzes hing ein rostiger Ring, der nur mit sehr viel Fantasie als Basketballkorb durchging.
June angelte den Ball, den einer von uns Jungs in Eommas Auto deponiert hatte und der seitdem immer mitreiste, von der Rückbank.
»Wie? Du willst allen Ernstes jetzt spielen?«
June war schon aus dem Auto gehüpft und beugte sich noch einmal zu mir herein. »Worauf wartest du, du lahme Schnecke? Bis du ausgestiegen bist, habe ich fünf Körbe Vorsprung!«
Um ihre Körbe hätte ich mir keine Sorgen machen müssen. June konnte weder dribbeln noch den Ball auch nur einen Meter hoch in die Luft werfen. Kopfschüttelnd beobachtete ich sie, wie sie vollkommen unkoordiniert hüpfte und warf. Mehrfach knallte ihr der Ball beinahe auf den Kopf.
»Vorsicht!«, rief ich ihr zu.
»Ich versuchs ja!«, brüllte sie zurück und lachte, als der Ball ihr beim Dribbeln davonrollte. »Hilf mir lieber, sonst stehe ich noch heute Abend hier …«
Nach wie vor verunsichert, was die Sache hier bedeuten sollte, schlenderte ich zu ihr hinüber.
»Du hältst den Ball ganz falsch. Es sieht aus, als hättest du Angst vor ihm.«
»Wenn du wüsstest, wie oft der mir schon wehgetan hat, hättest du auch Angst!«, sagte June lachend.
»Okay, schau, der Ball ist ein Baby. Hier. Eine Hand drunter. Genau. Die andere stützt von der Seite. So machst du es gut. Und jetzt …« Ich trat hinter sie, legte meine Hände über ihre und führte sie in der Bewegung.
Es war nur Basketball.
Trotzdem fühlte es sich plötzlich intimer an, als mit ihr in einem Bett zu schlafen.
Mit meiner Hilfe traf sie den Rand des Korbs. Sie grölte und sprang herum wie eine olympische Goldmedaillengewinnerin. Ich hob sie hoch, damit sie den Ball wenigstens ein Mal hineinlegen konnte, was in noch mehr übertriebenem Jubel endete. Später wurde sie richtig frech, neckte mich und versuchte, an mir vorbeizudribbeln. Zuerst wollte ich sie gewinnen lassen, woraufhin sie die Hände in die Taille stemmte und mich empört anfunkelte.
Meinetwegen, dann spielten wir eben nach ihren Regeln.
Eine Stunde später waren wir beide durchgeschwitzt. Mir taten die Wangen weh vom ständigen Lachen und ich jubelte jetzt mit June über jeden verpatzten Korb, den sie warf. Wir hatten einen Siegestanz entwickelt, der länger dauerte, als einmal um den ganzen Platz zu joggen.
Nie zuvor hatte ich mich so leicht gefühlt, entspannt und frei.
Ich grinste sie an. »Du kannst immer noch nicht Basketball spielen …«
»Dafür wird es wohl noch Jahre brauchen. Trotzdem hat es dir Spaß gemacht, oder?«
In dem Moment verstand ich. Es war wie Lucas’ unsinnige Idee, einen Handstand zu machen, wenn die Situation ausweglos schien.
Mein ganzes Leben lang hatte ich Erwartungen erfüllt. Ich war in einer Rolle gefangen, die ich ausfüllte, die jedoch nichts mit mir zu tun hatte. Cole der Rebell. Cole der Unruhestifter. Cole der Schwererziehbare. Cole, der immer den Adrenalinkick suchte. Cole, der keine Beziehungen einging, keine Hausaufgaben machte, mit niemandem sprach. Ich wusste nicht, ob dies von Anfang an ihr Plan gewesen war. Hatte sie überhaupt wissen können, was für eine Person ich im Inneren war? Wenn es jemand durchschaute, ohne mich so gut zu kennen wie Lucas, dann war es womöglich June.
Jedenfalls stellte ich in diesem Augenblick fest, dass ich all das nicht wirklich war, sondern nur die Erwartungen anderer erfüllte. Überwiegend die meines Vaters.
»Ich weiß gar nicht mehr, wer ich eigentlich bin …«, sagte ich erstaunt. Es war ein scheußliches Gefühl, wie nackt über einen Abgrund zu balancieren. »Ohne Lucas habe ich keine Rolle mehr.«
»Sieh es als Chance! Du kannst jetzt eine neue Rolle haben!«, schlug June vor. »Wie wärs mit der des Cole Archer, Individuum.«
»Was macht so ein Individuum?«
»Hmm … er ist mein Freund?« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuss auf die Wange.
In dem Moment hatte ich das Gefühl, mit June an meiner Seite alles sein zu können.
Heute fiel es mir schrecklich schwer, den Telefonhörer abzuheben. Jedes Mal fürchtete ich mich aufs Neue, Lucas für immer verloren zu haben, aber an diesem trüben Nebeltag war ich mir sicher, er würde nicht antworten. Dass er mich verlassen haben könnte, bevor ich Auf Wiedersehen gesagt hatte.
Mein Magen rebellierte. Ich war garantiert der egoistischste Mensch auf der Welt, denn ich wollte alles haben. Lucas, den besten Freund, für immer ein Geist am Telefon – und Cole … Doch ich wusste ja, dass das nicht möglich war.
Okay. Ab mit dem Pflaster! Es weiter hinauszuzögern, machte alles nur schlimmer.
Nach einem letzten, tiefen Atemzug voll Mut, den ich zitternd entweichen ließ, hob ich den Hörer ab.
»Lucas?«
»Hallo, June!«
O mein Gott! Meine Knie gaben nach und ich plumpste unelegant auf den Boden. »Du bist noch hier!«
»Ja.« Er hörte sich ganz gut an. Ruhig. Freundlich. Nicht künstlich aufgedreht wie zuvor. Auch nicht geisterhaft. Einfach nur Lucas. Ich war unendlich erleichtert.
»Lucas … ich …« In meiner Kehle steckte ein Kloß.
»Hast du dich mit Cole vertragen?«
»Jaaaa …« Mein Herz schlug mir bis zum Hals. »Kann man so sagen.«
»Gut. Ich könnte es mir wirklich nicht verzeihen, wenn ich euch beide unglücklich gemacht hätte. Es war wahnsinnig egoistisch von mir, das von dir zu verlangen. Ich hoffe, du bist deshalb nicht böse.«
»Nein, ich kann es sogar sehr gut verstehen. Ich fühle mich nämlich genauso egoistisch, weil ich euch beide behalten will …«
»Na ja … ich würde ja gern bleiben, aber nicht … so …«
»Ich weiß schon. Trotzdem kann ich nicht einmal daran denken, dass du irgendwann nicht mehr mein Freund sein wirst.«
»Ich werde für immer dein Freund sein!«, sagte Lucas fest. »Das schwöre ich. Siehst du, diese Sache zumindest ist sicher: Auch wenn ich weg bin und du nicht mehr mit mir sprechen kannst, bleibe ich dein Freund. So werden wir wenigstens nie streiten und uns voneinander entfernen können, wie es bei den meisten Freundschaften passiert. Wenn du irgendwann stirbst, kannst du dir sicher sein, dass du dort, wo du hingehen wirst, einen Freund hast.«
Ich schluchzte auf. »Lucas! Du wirst mir so schrecklich fehlen.«
Seine Stimme klang belegt. »Du wirst mir auch fehlen, June. Cole und du, ihr seid die wichtigsten Menschen in meinem Leben – und danach. Ich habe Angst vor dem, was auf mich zukommt, aber ich bin auch froh, dass ich diese Chance hatte, dich kennenzulernen.«
»Das klingt so sehr nach Abschied!« Die Tränen rannen mir in den Kragen von Coles Shirt, das ich heute Morgen einfach nicht ausgezogen hatte. »Musst du jetzt gehen?«
»Noch bin ich da …«
»Du spürst, dass sich etwas verändert, oder? Bitte sag es mir!«
»Ich merke, dass sich der Grund, weshalb ich hier feststecke, langsam klärt. Mein Herz ist leichter. Ich werde ruhiger. Anfangs war ich ständig auf der Suche, das Einzige, was mich beruhigen konnte, waren die Gespräche mit dir. Deshalb war ich besessen von der Idee, dass du mich lieben solltest, um mich zu retten. Das war es nicht.«
»Es war auch nicht der Fahrer, das habe ich auch eingesehen.«
»Der arme Mann …«, bemerkte Lucas. »Ich hoffe, ihr könnt das noch mal gutmachen, bevor er stirbt. Er sollte ohne Schuldgefühle weiterziehen dürfen.«
»Er ist in der Zwischenzeit gestorben, aber Cole hat gesagt, er sei mit seinem Freund noch einmal dort gewesen und hätte sich entschuldigt.«
Es blieb einen Moment still am anderen Ende. »Mit seinem Freund?«, sagte Lucas schließlich zögerlich.
Ich hielt die Luft an. Wurde er jetzt wieder eifersüchtig?
»Ähm … ja … Shun oder so?«
»Oh!« Lucas lachte. »Das sind wunderbare Nachrichten!«
Vor Erleichterung lachte ich mit, auch wenn ich gar nicht verstand, weshalb.
»Ich bin so froh, dass Cole den armen Shunsuke nach meinem Tod nicht von sich gestoßen hat. Shun war immer ein guter Freund von uns, aber mein Bruder – na, du weißt ja selbst, wie er ist.« Er sagte es völlig ohne Spitze und ich entspannte mich wieder, während wir unseren Gedanken nachhingen.
»Ich schätze, auch ihr beide braucht mich langsam nicht mehr …« Lucas klang ein klein wenig wehmütig, sodass ich schnell das Thema wechselte.
»Weißt du eigentlich von anderen Geistern? Siehst du welche? Warst du …« Plötzlich fiel es mir wieder ein. »Warst du gestern in der Leitung von meinem Pops? Als ich wegen des Sturms bei Cole übernachtet habe, da habe ich deine Stimme gehört.«
Erst als er schwieg, fiel mir auf, dass ich ihm nicht erzählt hatte, wie gut Cole und ich uns vertragen hatten. Mist. Es war nicht nett von mir, ihm unsere Liebe unter die Nase zu reiben. »Wolltest du mich vor dem Unwetter warnen?«
»Das hast du dir nur eingebildet, June. Ich kann nicht in andere Leitungen springen. Das klappt nur hier.«
Meine Haut juckte. Bestimmt von dem fremden Waschmittel auf Coles Laken und nicht davon, dass Lucas mich anlog. Oder? Ich beschloss, seine ausweichende Antwort nicht weiter zu kommentieren.
»Tut mir leid, das mit Cole. Er fühlt sich auch schrecklich, dass er dich betrügt«, tastete ich mich an das Thema heran, das mir Bauchschmerzen verursachte.
»Das tut er doch gar nicht. Wenn überhaupt, dann habe ich ihn betrogen.«
»Lucas …«
»Nein, ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Bitte lass mich dir noch was sagen, June, bevor meine Aufgabe beendet ist.« Lucas klang älter und vollkommen mit sich im Reinen.
Ich hielt ihn aus total eigennützigen Gründen zurück: nur, weil ich nicht wollte, dass er etwas aussprach, das ich längst wusste, und damit seine Aufgabe beendet war und er verschwand. Denn wahrscheinlich saß Cole in diesem Moment bei seinem Vater und klärte den Garagenbrand auf. Wenn alles lief, wie ich es mir vorstellte, war das mein letztes Gespräch mit Lucas und ich wollte und konnte es so nicht enden lassen.
»Ich will es nicht hören! Ich weiß es doch längst!«, schrie ich. »Für mich bist du trotzdem immer der Lucas, der mir den Liebesbrief geschrieben hat, der erste Junge, der mich geliebt hat, auch wenn es gar nicht stimmt.«
Ich konnte ihn leise atmen hören und hatte das Gefühl, dass er ein wenig traurig lächelte. »Aber du sollst mich nicht als den Lucas in Erinnerung behalten, der dich belogen hat, um dich zu gewinnen. Ich möchte, dass du mich als deinen wahren Freund siehst, der zum Schluss in der Lage war, dir seine eigenen Worte zu schenken.«
»Ich will –«
»Dies ist noch nicht das Ende.«
Ich konnte nichts mehr sagen. Mein Weinen schüttelte mich so fest, dass ich beinahe zusammenklappte.
»Hör mir zu, June. Ich möchte mit Cole sprechen.«
»Ich –«
»Bisher brach die Verbindung ab, wenn er in der Nähe war. Ich glaube, jetzt schaffe ich es. Ich muss Cole etwas wirklich Wichtiges mitteilen. Du hast das möglich gemacht und dafür werde ich dich immer lieben. Du darfst nicht mehr weinen, wenn du an mich denkst. Alles, was ich dir geben konnte, habe ich dir gegeben.«
Mein Herz tat weh. »Was?«
»Liebe. Freundschaft. Die Lust zu leben – und es zu genießen!«
»Ist das so ein: Lebe für mich, weil ich es nicht mehr kann?«, presste ich hervor. Ich benahm mich kindisch.
»Nein. Das ist so ein: Lebe für dich, weil du es kannst. Und darfst!«
»Wie könnte ich glücklich sein und lachen, wenn du tot bist?«
»Weil du weißt, dass du mich befreit hast. Das ist ein sehr guter Grund, froh zu sein.«
»Dein Tod ist doch keine Befreiung!«, schrie ich heiser.
Lucas lachte. »Ohne dich hätten mich die Albträume verschluckt. Ich bin unendlich dankbar, dass du mich hierhergeführt hast, mit deiner wunderbaren, unvergleichlichen Art. Ich werde das niemals vergessen. Der Tag, an dem ich deine Stimme gehört habe, war der Tag, an dem ich aufgewacht bin.«
Pops sah aus dem Fenster. Ich ahnte, dass er bald herunterkommen würde, weil er selbst auf die Entfernung meinen Schmerz erkennen konnte.
»Versprich mir, dass du mich nicht verlässt, bevor du dich nicht verabschiedet hast!«, bat ich, so fest ich konnte.
»Ich schwöre es bei allen guten Geistern«, sagte Lucas – garantiert lächelnd. »Bring nächstes Mal meinen Bruder mit. Sprich zuerst mit mir und hol ihn dann ans Telefon.«
»Ich weiß nicht, ob er das kann …«
»Dann fordere ich dich heraus.«
»Bitte nicht …«, flehte ich.
»June, hier kommt dein letztes Dare: Hol meinen Bruder ans Telefon.«
Pops öffnete die Tür.
Ich brach zusammen, weinte und schlug gegen seine Brust, stammelte zusammenhangloses Zeug, schrie und schluchzte. Er ertrug alles, ohne Fragen zu stellen, und brachte mich schließlich ins Haus.
Warum war ich so aufgeregt?
Es war nur ein Gespräch. Mit meinem Dad. Er war auch mein Vater, selbst wenn er das offenbar am liebsten vergessen hätte … okay, stopp! Ich musste sofort aufhören, mich in diese Gedankenspirale zu begeben.
June hatte recht. Ich war nicht derjenige, den die Leute aus mir gemacht hatten. Wenn ich von heute an der totale Softie sein wollte, der strickte und Kuchen backte … Okay. Vielleicht nicht gerade ganz so omamäßig.
Ich lockerte die Schultern, als würde ich mich auf einen Boxkampf vorbereiten, und tatsächlich hatten Dads und meine Gespräche oft etwas von einem erbitterten Fight.
Dieses Mal würde es anders laufen. June hatte mir gesagt, wie oft sie darüber nachdachte, was Lucas ihr raten würde und wie sehr ihr das in ihrem Alltag schon geholfen hatte. Das würde ich nun ebenfalls tun. Ich kannte Lucas in- und auswendig. Niemand wusste besser, was er in einer brenzligen Situation sagen würde, als ich.
Auftritt Dad. Er kam zur Küche herein, wie immer mit diesem energischen Ich-hab-keine-Zeit-für-deinen-Quatsch-Schritt. Innerlich verkrampfte ich mich. Der unsichtbare Lucas an meiner Seite legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter.
Alles gut, Cole. Sei einfach du selbst!
Der hatte gut reden! Ich wusste ja nicht mal mehr, wer ich war.
»Dad, hast du einen Moment für mich?« Meine Stimme hörte sich an wie ein Laubfrosch. Ich räusperte mich.
Er zog die Augenbrauen zusammen. »Was gibts denn, Cole?« Sogar die Art, wie er meinen Namen aussprach, war ein Zeichen dafür, dass er es mit mir im selben Raum kaum aushielt. Innerlich wimmerte ich, aber ich tat das hier nicht nur für mich. Ich tat es auch für June. Für Eomma. Und für Lucas, falls der wirklich noch irgendwo da rumhing.
Dad sah nicht so aus, als wollte er sich Zeit nehmen. Ich wartete ab, bis er sich stöhnend auf einen Stuhl sinken ließ. Seine Körpersprache deutete auf Flucht hin.
Er hat Angst vor dir, weil du immer die Wahrheiten sagst, die er nicht hören will, sagte Lucas in meinem Kopf und ich verkniff mir ein Schnauben.
»Dad, es gibt eine ganz alte Geschichte, die Lucas immer aufklären wollte. Ich war bisher dagegen. Doch es ist mir jetzt wichtig, ihm diesen Wunsch zu erfüllen, auch wenn es dafür zu spät ist. Ich bereue es sehr, dass er das nicht selbst tun konnte – durch meine Schuld, weil ich ihn abgehalten habe. Bitte, lass es mich an seiner Stelle versuchen.«
Dad rutschte auf der Sitzfläche so weit nach vorne, als würde er jeden Moment aufspringen.
Ich schwieg. Lucas beherrschte dieses Schweigen perfekt. Es brachte einen dazu, nachzudenken, ruhiger zu werden und sich selbst zu hinterfragen. Wie sich herausstellte, war ich, zumindest ansatzweise, auch zu diesem speziellen Schweigen fähig, denn mein Vater nickte schließlich.
»Der Garagenbrand.« Ich musste nicht erklären, wovon ich sprach. Dads finstere Miene verriet mir, dass er sich ganz genau an diesen Tag erinnerte. »Dass wir eine Zigarette geraucht haben, war meine Idee. Lucas hat das Feuer verursacht.«
Dad beherrschte ebenfalls eine Art von Schweigen. Nur fühlte man sich dabei kein bisschen relaxt. Nun war ich derjenige mit dem Fluchtreflex. Meine Beine kribbelten, so sehr drängte es mich, wegzulaufen.
Schließlich sagte er: »Ich habe ein paar Fragen.«
»Okay!«, atmete ich aus. Hatte ich die Luft angehalten?
»Ich will knallhart ehrliche Antworten, ist das klar?«
»Klar!« Ich spreizte die Finger auf der Tischplatte.
»Ist Lucas weggerannt?«, feuerte er die erste Frage auf mich ab. Innerlich wand ich mich, doch äußerlich blieb ich unerschüttert.
»Ja. Er hatte Angst.«
»Warum bist du nicht weggelaufen?«
»Mister Tweedles.«
Er biss die Zähne zusammen. Man sah es daran, dass seine Wangenmuskeln zuckten. Zuck. Zuck. Zuck. Unbewusst spannte ich mich im selben Rhythmus an.
»Warum hast du ihn davon abgehalten, es zu erzählen?«
Das war streng genommen nicht ganz die Wahrheit und ich vermutete, Dad wusste es. Doch das änderte jetzt nicht viel, denn hätte Lucas es beichten wollen, hätte ich definitiv versucht, ihn davon abzuhalten.
»Weil es auch meine Schuld war. Es war meine Idee.«
Er hob die Augenbrauen und fixierte mich scharf. »Ist das alles?«
Ich seufzte. »Und weil Lucas nicht stark genug war, diese Schuld zu tragen. Komm schon, wir wissen beide, dass ich das aushalten kann. Lucas ist … Lucas war …«
»Er hat dich allein büßen lassen …« Dads Stimme brach.
Es war der traurigste Laut, den ich je gehört hatte. Und dann sank sein Kopf auf die Brust, als würde er von einem Tonnengewicht nach unten gedrückt. Etwas tropfte von seiner Nase auf die Tischplatte. Was in aller Welt …?
Mein Gehirn bot Vorschläge an, von Schweißperlen über einen plötzlichen Schnupfen, doch nichts passte. Dad weinte nie! Er hatte noch nicht einmal bei Lucas’ Beerdigung eine Träne vergossen.
Ich fühlte mich hilflos. War es das, was Lucas gewollt hatte? Dass Dad ihn nach seinem Tod nicht mehr als den perfekten Sohn ansah? Hatte ich dieses makellose Bild wirklich zerstören müssen, jetzt, wo er es nie wieder geraderücken konnte?
Ich ekelte mich vor mir selbst. Am liebsten wäre ich aus meiner Haut geschlüpft und ein anderer Mensch geworden. Nicht Cole, der Verräter.
Ich stand auf, da Dad mich offensichtlich nicht mehr ertrug – und ich seinen zerbrochenen Anblick ebenso wenig.
»Cole …« Zum ersten Mal hörte ich meinen Namen anders aus seinem Mund. Nicht gut. Nicht stolz, so wie er »Lucas« sagte. Aber auch nicht voller Enttäuschung – darum blieb ich stehen, anstatt vorzugeben, ich hätte ihn nicht gehört.
»Das zu erzählen, muss schwer für dich gewesen sein. Du bist Lucas gegenüber immer loyal gewesen, das wusste ich. Darum ist mir klar, wie viel Überwindung dich das gekostet haben muss.«
Mir entfuhr ein kurzes, erschrockenes Lachen. Oh, nein! Jetzt regte er sich bestimmt gleich wieder auf, dass man mit mir nicht reden konnte. Dabei war das nur aus reiner Nervosität passiert.
Dad wischte sich über die Augen. »Das alles muss schwer für dich sein«, wiederholte er. »Ich weiß, dass ich kein guter Vater für dich war – vor allem in den schlimmsten Momenten. Es ist nur … es war … Ach, Cole, bei dir fühle ich mich manchmal so schrecklich hilflos. Wenn dir etwas zustößt, lässt du mich dir nie helfen. Immer muss mir deine Eomma erklären, was dich umtreibt, weil du es mir nie erzählst und ich dich so schlecht durchschauen kann. Weißt du … ich habe wirklich versucht, die Dinge wieder geradezubiegen. Der Umzug, der neue Job, ich dachte, es läuft jetzt alles besser für uns … aber du hast mir immer gezeigt, dass ich trotzdem nicht gut genug bin …« Er rieb sich über die Stirn und ich dachte daran, dass Eomma gesagt hatte, Dad sei durch mich verunsichert.
Dad sah mich an. »Cole. Du warst Lucas immer ein wirklich guter Bruder. Er hatte viel Glück mit dir.«
Mein Hals war zu eng. »Er war mir auch …«
Vor Dad zu weinen, war das Schlimmste, was man tun konnte. Sogar jetzt, nachdem er selbst drei Tropfen Wasser aus seinen Augen hatte fallen lassen, fühlte es sich wie das ultimative Versagen an.
Ich drehte mich um, damit er das Elend wenigstens nicht mitansehen musste.
Muskulöse Arme schlangen sich um meinen Oberkörper und hielten mich.
So fest!
Wenn Eomma mich umarmte, war es, als würde sie sich an mich klammern. Bei Lucas hatte es sich nie angefühlt, als wären wir zwei verschiedene Menschen – eher so, als würde ich mich selbst halten. Ein Puzzle, das zusammengehörte. In Junes Armen fühlte sich alles heiß und zart und schön und süß an …
Dads Umarmung war ein Panzer. Er umgab mich von allen Seiten, schützte mich lückenlos und machte mich stark und mutig.
»Es tut mir leid!«, würgte ich hervor und meinte damit alles!
»Mir tut es leid!«, flüsterte er heiser.
Seine Tränen tränkten mein Shirt, als er den Kopf an meine Schulter lehnte. Ich konnte kaum mehr stehen. Alles an mir und in mir zitterte. Ein Cole-Erdbeben.
Ich weinte so heftig, dass mir schlecht wurde. Dad war nicht der Typ, der einem beim Kotzen den Rücken streichelte, aber immerhin blieb er im Bad und reichte mir einen feuchten Waschlappen, als ich wackelig und verschwitzt von der Kloschüssel aufblickte.
»Gehts wieder?«, fragte er.
Ich lachte.
Warum, wusste ich selbst nicht. »Ja. Jetzt gehts wieder.«