*Cole

June war ein Wildvogel in einem Käfig. Alles an ihr flatterte: ihre Hände, ihre Stimme und ihr Herzschlag, sichtbar zu schnell unter dem dünnen Stoff.

Sie trug das Sommerkleid, obwohl es Spätnovember war und der Eisregen ihr blaue Lippen bescherte.

Ihre Augen waren fast schwarz und die Ränder darunter zeugten von zu vielen schlaflosen Nächten. In manchen davon hatte ich neben ihr gelegen, teils dösend, manchmal auf den Ellenbogen gestützt, während ich ihr den Rücken gekrault oder ihr etwas vorgelesen hatte. Teilweise wollte sie auch allein mit sich und ihren Gedanken sein.

Ich war dankbar, dass sie mich an ihrer Seite ertrug, wenn es ihr nicht gut ging. Ich kannte den Impuls, alles und jeden auszuschließen, von mir selbst ja noch zu gut. Vielleicht half es auch, dass ich um dieselbe Person trauerte wie sie. Oder weil ich mir Sprüche wie Lass ihn ziehen! verkniff.

Sie atmete ein und aus. Wischte sich die Hände am Kleid ab. Ich hatte ein Déjà-vu, eines von Lucas, kurz bevor er ihr den Brief übergeben hatte.

Hier stand ich nun und musste bereits zum zweiten Mal bezeugen, wie wichtig mein Bruder und das Mädchen, das ich liebte, sich waren. Und das, obwohl sie sich im Leben kaum je getroffen hatten.

Die Spannung wurde unerträglich und ich konnte

»Ja …« Sie klang, als würde sie versuchen, sich selbst zu überzeugen. »Er hat es versprochen.«

»In letzter Zeit hat er doch nicht geantwortet«, sprach ich meine Zweifel aus. Ich war nicht gerade hilfreich.

»Weil ich sein letztes Dare nicht erfüllt habe«, antwortete sie leise.

Ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen. Aber das brauchte sie jetzt nicht und auch wenn ich es gern wollte, um mich ging es hier nicht. June war viel stärker, als sie aussah. Sie schaffte das ohne mich!

»Ich warte hier draußen …«, sagte ich.

Sie schluckte und nickte, straffte die schmalen Schultern, über die der dünne Stoff flatterte wie Spinnweben im Wind.

Dann ging sie auf die Telefonzelle zu.

Sie verharrte mit dem Griff in der Hand.

Die Tür schien zu schwer für sie zu sein. Letztendlich gelang es ihr doch, sie einen Spalt weit aufzuziehen und hineinzuschlüpfen.

Durch die Scheibe sah ich, wie sie einen Moment unschlüssig vor dem notdürftig reparierten Tischchen mit dem altmodischen Wählscheibentelefon stand.

Sie nahm den Hörer ab.

*June

»Hallo?« Meine Stimme war so leise wie der Wind, der raschelnd Blätter aufwirbelte.

»Hallo, June!«, antwortete Lucas. Er hörte sich echt an. Kaum anders als sein Bruder, nur wenige Meter entfernt.

»Ich habe dir noch ein Gedicht versprochen«, sagte er schließlich sanft. »Eigene Worte.«

Ich unterdrückte ein Schluchzen, doch die Tränen rannen mir bereits über die Wangen.

»Ich liebte dich

Zur falschen Zeit

Doch aus den rechten Gründen.

Wie der Mond

Der dem Sonnenaufgang trotzt.«

»Lucas … Das war das Schönste, was ich je von dir gehört habe …«

»Danke, June. Ich kann nicht wissen, was mich erwartet, aber ich kann versprechen, dass ich mit leichtem Herzen gehe. Wohin auch immer, dort werde ich für immer dein Freund sein. Im Herzen stirbt nichts. Und wenn du in den Himmel blickst und den Mond am Tag siehst, weißt du, dass ich an dich denke.«

»Ich …«

»Versprich mir, dass du gut leben wirst.«

»Ich werde gut leben …« Ich weinte jetzt so verzweifelt, dass die Worte nur abgehakt hervorkamen. »Ich kann mich nicht verabschieden, Lucas!«

»Dann sag mir etwas anderes.«

Nur was? Lebe wohl! konnte ich einem Geist nicht sagen. Ebenso wenig Auf Wiedersehen!, denn das war nicht gewiss.

In den letzten Wochen hatte er sich langsam immer weiter von mir entfernt. Er hatte sich zu einem Geist, einer wunderschönen Erinnerung gewandelt, damit ich ihn freilassen konnte. Selbst sein Abschied war liebevoll und sanft – so wie Lucas.

Irgendwann drehte ich mich um und sah Cole, der geduldig auf mich wartete.

Mein Leben. Meine Zukunft.

»Letzte Woche war unsere Theateraufführung zu Romeo und Julia«, sprudelte es auf einmal aus mir heraus. »Shun und Cole waren auch da. Und Tina hatte so Lampenfieber, dass ich sie gezwungen hab, einen Handstand zu machen. Stell dir vor, sie musste sich beinahe übergeben, während sie dastand, und dann –«

»June.« Lucas lächelte. Ich musste ihn nie sehen, um es zu wissen. »Ich freue mich so sehr!«

»Danke, Lucas. Danke für mein Leben!«, schluchzte ich. »Danke, dass du mir beigebracht hast, zu leben!«

»Ich liebe dich!«, sagte er. »Am Anfang warst du eine Besessenheit für mich, dann eine Notwendigkeit. Mittlerweile bist du meine schönste Erinnerung und ich bin so dankbar, dass ich dich erleben durfte. Du hast mich gelehrt, den Tod zu akzeptieren. Durch dich weiß ich, wofür ich hier bin. Bitte lass mich jetzt mit Cole sprechen. Ich habe ihm zwei, drei Takte zu sagen, wie er mit meiner Freundin umzugehen hat …«

»Okay …«

Okay … Das sollte das letzte Wort sein, dass ich zu ihm sagen würde?

Zuletzt legte ich den Telefonhörer sanft neben mir auf das Tischchen und öffnete die Tür der Telefonzelle.

Cole nickte mir zu. Er wickelte mir seinen Schal um den Hals, der seine Körperwärme wie eine Umarmung um mich legte, und ging an mir vorbei.

Ich trat ein paar Schritte in den Garten hinein.

Es war fast Winter.

Der Regen bildete an manchen schattigen Stellen schon Reif. Ich überlegte, wie viel Zeit ich in diesem Garten verbracht hatte. Wie lange hatte ich in der Telefonzelle gesessen und mit Toten gesprochen! Lucas hatte mir beigebracht, dass das Leben nicht beängstigender war als ein paar Geister. Dass ich hinausgehen und es wagen konnte, anstatt mich hinter meiner Schutzmauer zu verstecken.

Ich drehte mich um. Cole stand mit dem Rücken zu mir in der Telefonzelle. Er hielt den Hörer am Ohr. Ob er zuhörte oder sprach, wusste ich nicht. Seltsamerweise war es mir egal, ob er tatsächlich mit Lucas sprach oder nur so wie ich früher mit Mama.

Allein sein Anblick in der Kabine erfüllte mich mit Ruhe.

Ich streifte weiter umher. Ein Hagebuttenstrauch mit knallroten Beeren fiel mir auf, weil er fast schon aggressive Farbtupfer in den Garten zauberte, der in seinem blattlosen Winter-Schwarz-Weiß erstarrt war.

Vielleicht war das ein Symbolbild für Lucas, der erst nach seinem Tod unser aller Leben aufgemischt hatte, wie er es zu Lebzeiten nicht vermocht hatte.

Es war ein gutes Warten. Etwas, das ich mit Lucas bisher nicht gekannt hatte. Ständig war ich von Ungeduld oder der Angst getrieben gewesen, ihn zu verlieren. Nun, da ich wusste, dass es die letzten Augenblicke mit ihm waren, fühlte es sich richtig an, genau jene mit seinem Bruder zu teilen. Cole brauchte diesen Moment, in dem er sich von Lucas verabschieden konnte, noch mehr als ich.

Im Nachhinein war es mir unmöglich zu sagen, wie lange ich dort stand, meine blau gefrorenen Finger sprachen für Stunden. Wie ein Totenwächter sorgte ich in meinem Wintergarten dafür, dass Cole und Lucas in aller Ruhe Frieden finden konnten.

Das Quietschen der Telefonzellentür schreckte mich auf.

Cole trat heraus. Seine Augen waren gerötet, aber er trug den Kopf erhoben. Es schien, als sei in der Kabine eine Last von ihm abgefallen. Das leiseste Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er mich erblickte – eine eingefrorene Statue auf der Steinmauer.

»Du kannst jetzt reingehen …«, sagte er.

Von einer Sekunde auf die andere fiel mein Herz in Fluchtmodus. Gerade hatte ich mich stark und sicher gefühlt. So beruhigt. Und nun fürchtete ich mich!

Cole nickte noch einmal aufmunternd.

Ich stolperte zu meiner Telefonzelle. Dem Ort, der all meinen Kummer, all meine Erlebnisse und Geheimnisse geschluckt hatte und der nun bald wieder nur ein bedeutungsloses Gartenhäuschen werden würde.

Schlagartig wurde mir bewusst, wovor ich wirklich Angst hatte: Es war nicht, dass Lucas fort sein könnte. Es

Ich hatte Cole.

Ich hatte Pops.

Ich hatte ein Leben vor mir, das es zu erleben galt.

Ich hatte den Mond am Tag.

Nach kurzem Zögern trat ich ein.

Es war still wie in einer Gruft.

Der Hörer lag reglos neben dem Telefon.

Ich hob ihn sacht an und hielt ihn an mein Ohr.

»Alles Gute, Lucas!«, sagte ich.

Es antwortete mir nur der Winterwind, der um das Häuschen zischte.